Nein, Ronchamp selber ist keinen Besuch wert. Eine Hauptstrasse, parallel dazu der gemauerte Bahndamm der nicht mehr üblichen Verbindung Mulhouse–Paris, eine historistische, viel zu gross geratene Kirche, schliesslich einige verstreute Häusergruppen südlich der Hauptachse. Der Ort sieht ärmlich aus. Die Zeiten, als der Abbau von Kohle noch Beschäftigung garantierte, sind längst vorbei.
Aber an all dies denkt niemand, der nach Ronchamp fährt. Es ist die weltberühmte, seit 2016 zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Kapelle Notre Dame du Haut von Le Corbusier, die viele hierher lockt.
Zweimal wurde die Wallfahrtskapelle zerstört. Auf Anraten des umtriebigen Dominikanerpaters Mare-Alain Couturier kam beim Projekt Wiederaufbau der Name von Le Corbusier ins Spiel. Couturier lenkte für eine kurze Zeit die Aufmerksamkeit der gesamten Kunstszene auf den Aspekt der sakralen Kunst. In der 1946 eingeweihten Kirche in Assy, wo Couturier als Berater fungierte, steuerten so arrivierte Künstler wie Pierre Bonnard, Fernand Léger, Jean Lurçat, Germaine Richier, Georges Rouault, Jean Bazaine, Henri Matisse, Georges Braque, Jacques Lipchitz und Marc Chagall zahlreiche Werke bei – was aber dazu führte, dass der Innenraum heillos überladen wirkt.
Bedeutender war das Engagement von Fernand Léger in Audincourt, wo er 1951 für die Kirche Sacré-Coeur die Entwürfe der Betonglasfenster lieferte. Auch die von Matisse in Vence 1947 bis 1951 konzipierte Kapelle wäre ohne die Empfehlung von Couturier nicht zustande gekommen. Schliesslich Le Corbusier, der nebst Ronchamp von 1956 bis 1960 das Dominikanerkloster in La Tourette bei Lyon plante. Ausgerechnet Le Corbusier, der sich bis anhin dezidiert kirchen- und religionskritisch geäussert hatte! Aber für Couturier spielte dies keine Rolle: «Aux grands hommes les grandes choses.»
Und warum nahm Le Corbusier diesen Auftrag an? Nun, er war ein Opportunist, der jede sich ihm bietende Chance nutzte, seine Ideen umzusetzen. Wenn ein Auftraggeber ihm die nötigen Freiheiten garantierte, fragte er nicht nach den ideellen Hintergründen. So hatte er offensichtlich auch keine Bedenken, die Nähe zur Vichy-Regierung zu suchen, um für Algier seine Vision der Zukunftsstadt realisieren zu können.
Die erste Sichtung des Hügels von Ronchamp mit der Ruine der zerstörten Kirche soll Le Cobusier im Zug vorgenommen haben. Was dann bis zur Einweihung der Kapelle im Jahre 1955 entstand, sprengte alle bisherigen Vorstellungen, die man nicht nur in Bezug auf die kirchliche Architektur, sondern fast noch mehr in Bezug auf das Gesamtwerk von Le Corbusier hatte. So etwas wie ein rechter Winkel fehlt. Windschiefe Wände, gerundete Mauerzüge, wulstige Auskragungen – da war eher ein Plastiker denn ein Architekt an der Arbeit. Le Corbusier war auch für die Kunst verantwortlich: für das figurale emaillierte Haupttor, die bemalten Glasfenster, die liturgischen Objekte.
Die Zufahrt zur Kapelle ist leicht zu verpassen. Die Häuserzeile weist eine kleine Lücke auf für ein Strässchen, das nach der Unterführung des Bahndammes steil zum Parkplatz hinauf führt. Auf halbem Weg steht der Förderturm des Schachtes Sainte Marie, der in Erwartung, bald die Hauptattraktion von Ronchamp zu erblicken, schon fast als quasireligiöses Monument gelesen werden kann.
Seit 2011 ist der Zugang zur Kapelle nicht mehr hindernisfrei und kostenlos. Ein Eingangspavillon, entworfen von keinem Geringeren als Renzo Piano, muss durchschritten werden. Danach präsentiert sich der Bau, wie man ihn aufgrund der unzähligen Abbildungen kennt. Majestätisch, Ehrfurcht gebietend und imposant. Es hat ein paar Risse in der Fassade, der Beton hat Patina angesetzt, aber sonst hat sich das Gebäude erstaunlich gut erhalten. Der weite Platz darum herum erlaubt ein neugieriges Umschreiten des Gebildes, das ständig neue Bilder generiert. Im Innern darf nicht fotografiert werden, was ich trotz eines Kribbelns in meinen Fingern respektierte.
Nach der Einweihung gehörten die auf den Kirchenbau spezialisierten Architekten zu den eifrigsten Pilgern. Gerade in der Schweiz, wo ein Kirchenbauboom einsetzte, diente Ronchamp an vielen Orten als Vorbild. Man besuche etwa die katholischen Kirchen von Birsfelden (Hermann Baur), St. Gallen Winkeln und Sulgen (Ernest Brantschen/Alfons Weisser), Basel Bruderholz (Karl Higi), Nebikon und Sarnen (Ernst Studer), um lediglich die auffälligsten Beispiele der Einflusses von Ronchamp zu nennen.
Viel Beliebiges ist entstanden. Gewisse Bauteile beeindrucken vielleicht aufgrund der von den Ingenieuren errechneten Lösungen wie etwa das als hyperbolische Paraboloidschale geformte Dach der Kirche von St. Gallen Winkeln. Aus zeitlichem Abstand betrachtet entsteht jedoch der Eindruck, vor lauter Effekthascherei sei die übergreifende Idee verschüttet worden, sofern überhaupt so etwas vorhanden war.
Ronchamp lässt sich nicht kopieren. Renzo Piano scheint dies erfasst zu haben, als er 2009 den Auftrag erhielt, auf dem Gelände ein Kloster mit Oratorium sowie einen Empfangsraum zu errichten. Piano vergrub buchstäblich fast das gesamte Bauvolumen in den Hang. Sichtbar sind lediglich einige Dachelemente, die den gekrümmten Gang entlang der weitgehend verborgenen Fensterfront schützen.
Einzig beim Oratorium ist so etwas wie eine Hommage an Le Corbusier festzustellen. Die Hülle ist vollständig in Beton gegossen, und Licht wird – ähnlich wie über den Nebenaltären der Corbusier-Kapelle – indirekt über eine nicht sichtbare Öffnung ins Innere geleitet. Besser könnte eine Erweiterung in einer solch sensiblen Umgebung nicht gelingen.
Eine Übernachtung wollte ich mir in Ronchamp gönnen. Hierfür bietet sich La Maison d’Hôtes du Parc an, eine ehemalige Fabrikantenvilla, die als charmantes Hotel Gäste mit einem Flair für Skurriles beherbergt. Die fünf Zimmer wurden mehr oder weniger im Originalzustand belassen. Es sind mit alten Möbeln, Textilien, Teppichen und Dekorationselementen bestückte Räume, die geradezu eine Antithese zur puristischen Sprache der frühen Moderne setzen.
Alle Fotos © Journal 21, Fabrizio Brentini