Es war eine Sensation – und für das muslimische Establishment ein Skandal –, als der syrische Philosoph Sadik al-Azm im Dezember 1969 in der libanesischen Hauptstadt Beirut sein Werk Naqd al-Fikr ad-Dini – Critique of Religious Thought – veröffentlichte. Der Mufti des Libanon setzte das Werk sofort auf den Index, der Autor kam vorübergehend ins Gefängnis. Überall, ausser im Libanon, wurde die Abhandlung offiziell verboten. Dennoch, schreibt Sadik al-Azm im Vorwort der englischen Übersetzung, welche zu Beginn dieses Jahres in Berlin herauskam, sei das Buch überall in der arabischen Welt erhältlich – für jene, «die es lesen und für jene, die es verbrennen» wollten.
Besonnene Reaktionen damals
Lesen wollten es, trotz der offiziellen Verbannung, viele. Und schon zur Zeit der Erstveröffentlichung gab es im Libanon wenigstens ein paar vernünftige Leute, die dazu rieten, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen. Eine der anerkanntesten Persönlichkeiten der arabischen Welt, Drusenführer Kamal Jumblatt (damals Innenminister des Landes, später, 1978, vermutlich von syrischen Agenten ermordet) schützte Sadik al-Azm davor, aus dem Libanon deportiert zu werden. Und der vielmalige Premier Saeb Salam riet dazu, sich mit dem Buch ernsthaft zu beschäftigen, statt unnötige und unfruchtbare Aufregung zu verbreiten.
Schliesslich und, besonders aus heutiger Sicht, am bedeutendsten: Das schiitische Establishment des Libanon äusserte sich «wohlkalibriert mit einer massvollen Position der Toleranz», wie Sadik al-Azm im Vorwort der englischen Ausgabe schreibt. So erklärte der am meisten verehrte schiitische Geistliche der Epoche, Mohammed Jawad Moughniyya, er lehne zwar alle Thesen des Buches ab; aber er fügte hinzu, der Islam werde der Verlierer sein, wenn er es versäume, sich mit den Themen, Dilemmata und Problemen zu beschäftigen, die Sadik al-Azm angesprochen habe. – Prophetische Worte. Heute, 46 Jahre später, sind sie von unerhörter Aktualität.
Im Frühjahr 1970 kam es zum Prozess gegen Sadik al-Azm. Mit Hilfe der besten Rechtsanwälte des Landes, die kaum Honorar verlangten, wurde der Autor freigesprochen. Da es sich bei dem Werk des Angeklagten um ein Buch handle, das eine wissenschaftliche und philosophische Studie darstelle, die nicht beabsichtige, konfessionellen und rassischen Zank zu provozieren, sei die Anklage, so urteilte das Gericht, gegen den Autor fallenzulassen.
Fundamentalistische Verhärtung heute
Im Zeitalter des «Islamischen Staates», der Taliban, des durch die Familie Al-Saud geförderten Ideologie-Exports des Salafismus und des restaurierten Staatsislams, so steht zu befürchten, würde die Veröffentlichung eines ähnlichen Werkes für den Autor kaum so glimpflich ablaufen. Beispiel dafür ist das Schicksal des Ägypters Nasr Hamed Abu Zaid, der für sein Buch «Kritik des religiösen Diskurses» (1992) praktisch von muslimischen Hardlinern exkommuniziert wurde und Ägypten für viele Jahre verlassen musste.
Und: die These des Autors, wonach sich die herrschenden Eliten in der arabischen Welt den starr, konservativ und buchstabengetreu interpretierten Ur-Islam zu eigen gemacht hätten und damit bis heute ihren Herrschaftsanspruch begründeten, ist nach wie vor gültig. Stets wurden Neuauslegungen des Islam von einer Allianz aus Königen, Sultanen, staatlich ernannten Grossmuftis und reaktionären Klerikern als häretisch verurteilt. Die marokkanische Autorin Fatima Mernissi spricht in ihrem 1992 erschienenen Buch «Islam and Democracy – Fear of the Modern World» vom «Islam der Paläste», wenn sie die intellektuelle Kapitulation vor einer Auseinandersetzung mit dem Text des Korans beschreibt.
Glaube und Wissenschaft
Sadik al-Azm, bis heute der wohl berühmteste lebende Philosoph der arabischen Welt, 1934 in Damaskus geboren, aus einer alteingesessenen syrischen Familie stammend, deren wunderbarer Palast in Friedenszeiten in der Damaszener Altstadt zu besichtigen ist, derzeit in den USA als Fellow in Princeton lehrend, setzt sich in dem Buch «Critique of Religious Thopught» in erster Linie mit dem Verhältnis von Glauben und Wissenschaft auseinander.
In einem historisch-ideologischen Rückblick geht der Autor zunächst auf den Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft in Europa ein. Sadik al-Azm schreibt, dass Religion in Europa ein Verbündeter der feudalen Organisation sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen gewesen sei. Diese Rolle spiele die Religion weiterhin in zurückgebliebenen Gesellschaften. Tatsächlich sei der Islam «die offizielle Ideologie der reaktionären, rückwärts gerichteten Kräfte in und ausserhalb der arabischen Welt (Saudi-Arabien, Indonesien, Pakistan)» geworden. Offen und sehr direkt sei er verbunden mit dem Neo-Kolonialismus, der von den USA gesteuert werde.
«Religion ist auch», schreibt der Autor weiter, «die Hauptquelle der Legitimierung monarchischer Regime, da die Religion Regeln verbreitet habe, wonach das Recht der Monarchen, die Völker zu regieren, vom Himmel komme und nicht von der Erde.» Wie gesagt, diese Worte stammen aus dem Jahre 1969. Die heutige Situation treffen sie aber immer noch ziemlich genau.
Sadik al-Azm schreibt, ein normaler Muslim, ein Mr. X, wie er ihn nennt, stehe vor folgendem Problem: Wie könne dieser Mr. X, der im Rahmen traditioneller muslimischer Doktrinen aufgewachsen und erzogen ist, diese religiösen Doktrinen mit der modernen Wissenschaft in Einklang bringen? Die Völker des Mittelmeerraumes, also auch jene muslimischen Glaubens, und deren Nachbarn seien mit folgenden Entwicklungen konfrontiert worden:
- Ausbreitung der Renaissance von Italien aus
- Beginn der wissenschaftlichen Revolution mit den Werken von Nikolaus Kopernikus und Isaac Newton
- Beginn der industriellen Revolution im 17. Jahrhundert
- Veröffentlichung der Werke von Charles Darwin und Karl Marx im 19. Jahrhundert
- und mit der Wechselwirkung dieser vier Entwicklungen und ihrer Verbreitung über den europäischen Kontinent hinaus.
Gewollt oder ungewollt – diese Entwicklungen waren letztlich ein Frontalangriff auf die Dogmen der im Mittelmeerraum verbreiteten Religionen. Was den Islam betreffe, argumentiert Sadik al-Azm, so stünden dessen Doktrinen über die Entwicklung, die Struktur und die Natur des Universums sowie über den Ursprung und die Geschichte menschlichen Lebens zweifellos im Gegensatz zu wissenschaftlichen Kenntnissen.
Brutaler Kampf
Der tiefere Konflikt aber bestehe hinsichtlich der Methoden, wie man zu diesen Kenntnissen komme. «Hier unterscheiden sich Islam und Wissenschaft komplett», schreibt der Autor. Für den Islam wie auch für andere Religionen bestehe die korrekte Methode, Wissen zu erlangen, in der Überzeugung, zu den als heilig und als offenbart geltenden Texten zurückzukehren. Dieser gesamte Prozess beruhe auf dem Glauben und auf «blindem Vertrauen in die Weisheit und Unfehlbarkeit der Textquellen».
Sadik al-Azm erinnert daran, dass die Wissenschaft in Europa mehr als zweieinhalb Jahrhunderte benötigt habe, bevor sie fähig gewesen sei, sich «in vollem Masse und in entscheidender Weise in ihrem langen Krieg gegen die religiöse Mentalität, welche den Kontinent dominiert» habe, durchzusetzen. Der Autor fügt hinzu, dass sich die Religion niemals vor der Wissenschaft zurückgezogen habe, ohne nicht vorher einen «brutalen Kampf» gefochten zu haben. Zurückgezogen habe sie sich schliesslich angesichts des wachsenden Druckes der neuen wissenschaftlichen Kultur und wegen der als düster empfundenen Notwendigkeit, sich der Welle des Säkularismus zu beugen, die sich in das Leben der Gesellschaften hineingepresst habe.
Sadik al-Azm zitiert den Philosophen Bertrand Russel (1872-1970), der einst gefragt worden sei, ob es ein Leben nach dem Tode gebe. Russel habe geantwortet, wenn man die Frage nicht durch einen Nebel von Emotionen, sondern von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachte, sei es schwierig, eine rationale Rechtfertigung für die Fortsetzung des Lebens nach dem Tode zu finden. Sadik al-Azm zitiert auch den französischen Philosophen Pierre-Simon LaPlace, der sein Buch «Das System der Welt» Napoleon übergeben habe. Dieser habe gefragt, welche Rolle Gott in diesem System spiele, LaPlace habe geantwortet: «Gott ist eine Hypothese, die ich in meinem System nicht benötige.»
Sadik al-Azm beschäftigt sich dann ausführlich mit der Frage, welche Lösungen es für den Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft geben könne. Er nennt vier mögliche Ergebnisse:
- Versöhnung zwischen religiösen Doktrinen und der Wissenschaft;
- Komplette Ablehnung der wissenschaftlichen Methode;
- Strikte Unterscheidung zwischen der religiösen und der wissenschaftlichen Sphäre, wobei das Diesseits, also die reale Gegenwart, der Wissenschaft, das Jenseits dem Glauben zu überlassen sei;
- Die vierte und letzte der möglichen Lösungen habe der amerikanische Philosoph William James (1842-1910) vorgeschlagen. Danach solle man sich, vereinfacht gesagt, keiner Meinung anschliessen, bevor nicht für die eine oder andere definitive Beweise vorlägen.
Befreiung der Religion
Nachdem der Autor sich ausführlich mit all diesen möglichen Lösungen auseinandergesetzt hat, kommt er zu einem bemerkenswerten Schluss: Keineswegs wolle er die religiösen Gefühle der Menschheit negieren oder gar abschaffen. Aber, schreibt Sadik al-Azm, man müsse zwischen Religion und religiösen Gefühlen unterscheiden. Denn religiöse Gefühle seien «unter der Last versteinerter traditioneller religiöser Doktrinen und unter dem Gewicht eingefrorener Riten und Rituale zerquetscht». «Wir müssen dieses Gefühl aus seinem Gefängnis befreien, damit dieses Gefühl florieren und sich in einer Weise ausdrücken kann, die den Bedingungen und Umständen, in denen wir in der Kultur des 20. Jahrhunderts leben, angemessen ist.»
Deshalb, schreibt der Autor weiter, sei es notwendig, die traditionelle Idee von der Existenz einer besonderen religiösen Wahrheit aufgeben; dann sei es möglich, das Augenmerk auf religiöse Gefühle zu richten, die von den Lasten der Vergangenheit befreit seien. Schliesslich, argumentiert Sadik al-Azm, sei es auch keineswegs notwendig, religiöse Gefühle, wie in der Vergangenheit geschehen, mit übernatürlichen Wesen und merkwürdigen Mächten in Verbindung zu bringen.
Arabische Tradition kritischer Denker
Sadik al-Azms «Kritik des religiösen Denkens» steht in guter Tradition mit einem anderen Buch – mit dem des Ägypters Ali Abdulraziq, der im Jahre 1925 ein Werk unter dem Titel «Der Islam und die Grundlagen des Regierens» (al-Islām wa-uṣūl al-ḥukm) veröffentlicht hat. Abdulraziq, dessen Buch ebenso wie jenes von Sadik al-Azm und wie jede andere kritische Schrift aus der arabischen Welt in Beirut veröffentlicht wurde, hat an der Al-Azhar-Universität in Kairo einen Doktorgrad erworben und arbeitete lange als Kadi, als Richter in islamischen Angelegenheiten in Mittelägypten.
Sein Buch löste seinerzeit ebenso heftige Reaktionen aus wie jenes von Sadik al-Azm im Jahre 1969. Allerdings musste sich Abdulraziq für seine Thesen nicht vor Gericht verantworten. Abdulraziq gilt, so kann man es wohl formulieren, als Vertreter – als einer der wenigen Vertreter – eines islamischen Säkularismus. Denn er argumentiert, der Islam schreibe keine bestimmte Regierungsform vor: Abdulraziq plädiert für die Trennung von Staat und Religion und rechtfertigt die Abschaffung des Kalifats (1923) durch den Begründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk. Abdulraziq argumentiert, das islamische Recht fordere keineswegs die Herrschaft eines Kalifen; die Geschichte zeige zudem, dass das Kalifat den Muslimen Unheil gebracht habe – ein Unheil, das durch die Trennung von Staat und Religion zukünftig verhindert werden könne.
Nachdem Sadiq al-Azms Buch 1969 in Beirut veröffentlicht worden war, warnte, wie eingangs erwähnt, der schiitische Geistliche Mohammed Jawad Moughniyya davor, die Thesen des Autors einfach abzutun, andernfalls der Islam selbst der Verlierer sein werde.
23 Jahre nach Al-Azms und 67 Jahre nach Abdulraziqs Buch veröffentlichte der Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid 1992 in Kairo ein Buch, dem er fast denselben Titel gab wie einst Sadik al-Azm: «Kritik des religiösen Diskurses». Abu Zaid kritisierte darin den verknöcherten Staatsislam ebenso wie das Fehlen einer offenen Auseinandersetzung mit dem Koran. Ebenso monierte er, dass sich die Theologen des Landes die alleinige Auslegung des Koran und der Sunna, der mündlichen Überlieferung der Worte des Propheten, angemasst hätten.
Die Gegner Abu Zaids erklärten den Autor zum Apostaten, zum Abtrünnigen und bewirkten, dass seine Ehe mit seiner Frau Ibtibal Yunis geschieden wurde. Begründung: eine Muslima dürfe nicht mit einem Apostaten verheiratet sein. Abu Zaid ging ins niederländische Exil, lehrte an der Universität Leiden, später am Wissenschaftskolleg Berlin, erhielt 2004 den Ibn-Rushd Preis für «Freies Denken» (Nasr Hamid Abu Zaid starb 2010 in Kairo).
Gegen intellektuelle Lethargie
Die Bücher von Ali Abdulraziq, von Sadik al-Azm und Nasr Hamid Abu Zaid beweisen, dass es – anders als oft in deutschen Talkshows behauptet – durchaus immer wieder sehr ernsthafte Versuche gegeben hat, den Islam von innen heraus neu zu interpretieren und den Bedingungen der Gegenwart anzupassen. Sadik al-Azms Buch geht dabei am weitesten, indem es alle Religionen auf den Prüfstand stellt und sie mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Moderne konfrontiert.
Tatsache bleibt, dass sich viele weltliche Herrscher der muslimischen Welt sowie Imame und Mullahs sowie neuerdings die religiösen, politischen und militärischen Allmachtsträumen verfallenen, Terror verbreitenden Mitglieder des «Islamischen Staates» die alleinige Interpretation der islamischen Schriften anmassen. Widerstand aus den muslimischen Gesellschaften gegen diese Vermessenheit gibt es kaum. Diese intellektuelle Lethargie sowie die Missachtung von Schriften wie jene von Ali Abdulraziq, Sadik al-Azm und Nasr Hamid Abu Zaid bleibt das Problem des Islam – und sie wird zum Problem auch für jene Länder, in denen mehr und mehr Muslime leben.
Erwähnte Bücher:
Sadik al-Azm: Critique of Religious Thought, Gerlach Press, Berlin 2015, 229 S., www.gerlach-press.de
Ali Abderraziq: L´Islam et les Fondements du Pouvoir, Editions La Decouverte/CEDEJ, BP 494, Dokki, Le Caire, Egypt, 178 S.
Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses. dipa-Verlag, Frankfurt a. M. 1996