
Er ist kein Mann der lauten Töne, der Bildungsforscher Stefan Wolter, doch er macht sich weithin hörbar Sorgen um die Lernleistungen der Schweizer Schüler. Sie seien deutlich schlechter geworden, und das Schlimme: Der Einbruch interessiere kaum jemanden. Ein Blick in die aktuelle Debatte.
Schule ist vor allem Unterricht. Und alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr eines guten Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrerin, Lehrer und der Schulklasse, den Kern der Schule. Es ist das pädagogische Dreieck zwischen Ausbildner-Schülerin-Unterrichtsinhalt. Hier drin, in diesem Resonanzraum, spielen sich die pädagogischen Kernelemente des Unterrichts, die Mikroprozesse des Lernens, ab. Hier entwickeln sich die individuellen und sozialen Bildungsprozesse. Hier entsteht die Ausbildungsqualität. Das wissen wir aus der Lern- und Unterrichtsforschung. Doch dieser Kern, das zielgerichtete Lernen, geht zunehmend vergessen.
Es sind die Grundkompetenzen!
Diesen Eindruck erhält, wer in den öffentlichen Diskurs um die aktuelle Schule hineinzoomt, beispielsweise in eine «Echo der Zeit»-Sendung über die «Schule für alle». Der integrative Unterricht wird im Moment landauf, landab heftig und kontrovers diskutiert, auch im SRF-Beitrag (1).
Das Schulmodell mit möglichst allen und ganz unterschiedlichen, auch verhaltensauffälligen Kindern in der Regelklasse kommt unter Druck. Nicht zuletzt auch wegen sinkender Lernleistungen: Ein Viertel der Schweizer Schulabgänger verfügt über keine adäquaten Kompetenzen in den Grundlagenfächern. Konkret: Sie können nicht genügend gut lesen, schreiben, rechnen. Viele sehen darum das Modell als gescheitert an und fordern eine schnelle Abkehr und die Rückkehr zu Kleinklassen. Eine bürgerliche Mehrheit im Zürcher Kantonsrat verlangte Anfang März von der Bildungsdirektion eine Kurskorrektur. «Das System der totalen Integration muss hinterfragt werden, bevor es zusammenkracht», so der Motionär Christoph Ziegler, Lehrer und GLP-Politiker. Und dezidiert fügte er bei: «Kleinklassen müssen wieder eine echte Option sein.» (2)
Dogma kontra Realität
Eine solche Kehrtwende kommt für die Gegenseite nicht in Frage. Für die SP ist die integrative Schule alternativlos, wie auch ihr Parteitag in Brig von Ende Februar gezeigt hat. Für viele bedeutet sie gar ein Menschenrecht. Ein Zurück gibt es darum nicht. Dazu die Züricher Bildungsdirektorin Silvia Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.» (3) So wird Inklusion zum Dogma; es will die schwierige Realität in vielen Klassenzimmern schlicht nicht anerkennen.
Die konkrete Situation im pädagogischen Alltag und die Folgen der verstärkten Integration debattierten in der SRF-Sendung die Zürcher FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois und die SP-Nationalrätin Simona Brizzi. Die Aargauer SP-Politikerin betonte die Schule für alle und die Chancengleichheit. Allerdings sei das ein ambitiöses Ziel und der Weg äusserst anspruchsvoll. Es gäbe viele Beispiele, dass Integration gelingen könne. Konkret nannte sie die Schule Spreitenbach. Es brauche aber weiterhin Geduld und vor allem mehr Ressourcen.
Das Schulsystem braucht eine Korrektur
Einen frappanten Kontrast formulierte die berufserfahrene Pädagogin Yasmine Bourgeois. Für sie hat sich der integrative Unterricht zu wenig bewährt. Er benachteilige lernschwächere Kinder und behindere den Regelunterricht. Dazu komme der hohe Koordinationsaufwand unter den vielen, oft bis zu zehn Betreuungspersonen pro Klasse. Sie sprach vom enormen Administrationsaufwand und der grossen Unruhe im Schulzimmer durch den ständigen Wechsel und die Verantwortungsdiffusion zwischen den involvierten Lehrkräften.
Das System könne, so Bourgeois’ Fazit, die Ansprüche nicht erfüllen. Die Probleme seien dermassen gravierend, dass es dringend einer Korrektur bedürfe.
Wenn die Organisation dominiert
Es ist fürs Lernen konstitutiv und sei darum wiederholt: Alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr eines guten und konzentrierten Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrperson und Schulklasse, den Kern der Schule. Doch dieser Kern ist gefährdet. Unruhe und Hektik wirken kontraproduktiv. Davon warnte Yasmine Bourgeois. Simona Brizzi, Dozentin an der PH Zürich, dagegen verteidigte das System mit Verve.
In Brizzis Optik stehen organisatorische Themen im Blickfeld und die Massnahmen, die «vor Ort gemacht würden». Gleich mehrmals kam sie auf die «Organisation vor Ort» zu sprechen. Was aber «vor Ort» genau getan wird oder getan werden sollte – nämlich gelernt, und das intensiv und zielgerichtet –, davon war keine Silbe zu vernehmen! Aus der Forschung aber wissen wir: Interaktion kommt in der Wirkung vor Organisation.
Wenn das Lernen in den Hintergrund rückt
Das Lernen der Schülerinnen und Schüler ist im aktuellen Diskurs um eine gute Schule zum Fremdwort geworden. Da war von Absprachen die Rede und von mehr Ressourcen, von Rollenaufteilung und Flexibilität: lauter Oberflächenmerkmale! Nur eines kam nicht zur Sprache: das Gestalten qualitativ anspruchsvoller Bildungs- und Lernprozesse. Das Verstehen, das gemeinsame und individuelle Üben und Festigen, das Abrufen und Anwenden des Gelernten, darüber wurde heftig geschwiegen: Doch es wäre das, was nachhaltiges Lernen ausmacht.
Dieses Wegschauen vom Eigentlichen und Wesentlichen in Schule und Unterricht hat mit dem «Blindflug» unseres Unterrichtswesens zu tun, von dem der Bildungsforscher Stefan Wolter, Universität Bern, kürzlich in der NZZ gesprochen hat. Er führe in unseren Schulen zu nachlassenden Lernergebnissen oder wörtlich: zu «schlechteren Leistungen». Und Wolter resümierte: «Alle stehlen sich aus der Verantwortung.» (4)
Die schleichende Erosion der Ausbildungsqualität in einem der teuersten Bildungssysteme der Welt ist eine Tatsache. Das zeigen Daten und Vergleichstests. Wann endlich erwachen die bildungspolitischen Schlafwandler?
(2) Jigme Garne: Der Kanton sägt an der integrativen Schule. In: TagesAnzeiger, 04.03.2025, S. 19; vgl. auch: Giorgio Scherrer: «Wir haben die Probleme unterschätzt». Interview mit Christoph Ziegler, in: NZZ, 05.03.2025, S. 12
(3) Nils Pfändler, Lena Schenkel: «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15
(4) Sebastian Briellmann: «Wir sind im Blindflug». Interview mit Stefan Wolter, in: NZZ, 04.03.2025, S. 9