Es war eine Szenerie, fast surrealistisch zu nennen. Im ehemaligen britischen Offiziersclub in Berlin-Charlottenburg mit seinen vornehm-gediegenen, an den Glanz des Empires erinnernden Möbeln und einem fast zum Lachen reizenden Porträt von Prinz Charles im Foyer steht plötzlich einer der wenigen verbliebenen grossen Denker der arabischen Welt. Es ist der 1924 in Damaskus geborene, heute im Ausland lebende Philosoph Professor Sadik Dschalal al-Azm. Die Berliner «Gerlach Press» hatte geladen, um die gerade erschienenen drei englischsprachigen Bände von Essays Sadik al-Azms vorzustellen.
Al-Azem entstammt einer traditionsreichen, in Syrien äusserst angesehenen Damaszener Familie türkischen Ursprungs. Als man noch gefahrlos in das geschichtsbeladene Damaskus reisen konnte, war ein Blick in das Palais der Al-Azems in der atemberaubend schönen Altstadt nicht nur touristische Pflicht, sondern auch ein kultureller Hochgenuss.
Der Zustand des Islam
Heute verbietet es sich schon aus dem Mit-Leiden am furchtbaren Schicksal des syrischen Volkes, an einen Mann wie Sadik al-Azem Fragen nach dem Zustand in seiner Heimat zu fragen. Um so mehr interessiert, was Professor al-Azem heute zu Themen wie dem so genannten «islamischen Fundamentalismus» und zum Zustand des Islam zu sagen hat.
Viele seiner Bücher waren in der arabischen Welt verboten (ausser, wie üblich, im Libanon). Auch sass Sadik al-Azem im Januar 1970 – ausgerechnet in dem sonst doch so freien Beirut – einige Wochen in Haft. Gegenstand des Zorns der Regierenden war sein Buch «Critique of Religious Thought» ( arabisch: Nagdal-Fikr al-Dini) – eine Sammlung seiner früheren Essays.
In diesen kritisierte er die arabischen Führer dafür, dass sie die ehrlichen religiösen Gefühle der Menschen für ihre persönlichen Machtzwecke ausnützten. Denn diese Führer stellten sich selbst als gläubige Muslime dar, aber nur, um ihre eigene Inkompetenz vor dem Volk zu übertünchen und um dieses Volk weiter beherrschen zukönnen.
An Kant geschulte Rationalität
Heute, 35 Jahre später, mitten im Zeitalter so gegensätzlicher Erscheinungen wie des inzwischen ausser in Tunesien tiefgefrorenen «Arabischen Frühlings», Al-Qaidas, und des in ein blutiges Gemetzel entarteten syrischen Bürgerkrieges steht Sadik al-Azem noch immer aufrecht da mit seiner an Immanuel Kant geschulten Rationalität und seinem Eintreten für die in der arabischen Welt noch immer mit Füssen getretenen Menschenrechte.
Der Islam heute? Al-Azem unterscheidet drei Gruppen. Da sei einmal der «Staatsislam» – repräsentiert durch Regierungen und religiöse Institutionen. In Saudi-Arabien herrsche ein, wie er es nennt, Petro-Islam, ein islamisches System, gestützt durch Petro-Dollars.
Das andere Extrem des Islam bilde heute eine «Plethora» islamistischer Gruppen, die aus dem Dschihad heraus geboren worden seien. Ein Ursprung dieser Gruppen liege bei jenen Dschihadisten, welche im Jahre 1979 die Kaaba in Mekka besetzt und damit gegen die ausschweifende Lebensweise der regierenden Familie Saud protestiert hätten.
Islamisten gegen islamische Gesellschaften
In dieselbe Kategorie zählt Sadik al-Azm auch die Attentäter des 11. September 2001 und verwandte Gruppen. Diese kämpften gegen alle islamischen Regierungen und Gesellschaften; ihr Ziel sei «die Wiederherstellung der Souveränität Gottes in der islamischen Welt». Sie verfolgten dieses Ziel unabhängig davon, dass ihnen ihre eigenen Aktionen ein total negatives Image einbrächten.
In diesem Punkt ähnelten Gruppen wie Al-Qaida der deutschen Baader-Meinhof Gruppe, der französischen «Action directe» und den italienischen «Roten Brigaden», welche den Politiker Aldo Moro ermordet hatten. Das Ziel dieser radikalen muslimischen Gruppen könne mit den Worten «Islam jetzt» umschrieben werden.
Ideal der ungeteilten islamischen Gemeinschaft
In seinem in Berlin wieder vorgestellten Essay «On Fundamentalisms» argumentiert al-Azem zudem, dass es durchaus einen triftigen Grund habe, wenn sich Fundamentalisten in Gruppen – Jamaat – vereinigten statt in «Parteien». Denn Ausdrücke wie «Koalition», «Partei» oder «Organisation» seien dem Islam fremd, seien eher ein Spaltpilz für die Umma, die allumfassende islamische Gemeinschaft. Der Ausdruck Jamaat dagegen invoziere die Erfahrungen, die vermeintlich positiven Erfahrungen der frühen muslimischen Gemeinschaften
Als dritten Zweig des Islam führte Professor al-Azem den, wie er ihn nannte «Good for Business Islam» an. Getragen werde dieser Islam von der bürgerlichen Mittelklasse, vom «Islamic Banking», von den Handelskammern, von jenen Geschäftsleuten, die mit ihrem Kapital an der Börse Geld verdienen wollten («Venture-Capital»).
Kampf gegen das Erbe europäischer Einflüsse
Wo aber liegen die eigentlichen Gründe für die «Revitalisierung» des Islam, die sich viele der Jamaat zum Ziel gesetzt haben? In seinem Essay «Islamic Fundamentalism Reconsidered» versucht Professor al-Azm eine Antwort. Er schreibt:
«All jene Kräfte, welche die arabische Welt in den letzten 150 Jahren geformt und umgeformt haben, waren, letztlich, in jedem einzelnen Fall europäischen Ursprungs: Kapitalismus, Nationalismus, Kolonialismus, Säkularismus, Liberalismus, Populismus, Sozialismus, Kommunismus, Marxismus, Modernismus; das Ziel, sich entwickeln zu sollen («Developmentalism»), Evolutianismus, die Idee des Fortschritts, wissenschaftliches Wissen, angewandte Technologie (zivil und militärisch), das moderne Nationenbauen (‚Modern nation-statebuilding’).»
Fundamentalismus als Gegenbewegung
Ob es, fragt Sadik al-Azem angesichts dieser Invasion von Begriffen und Bewegungen jemanden verwundern könne, dass es Gegenbewegungen gebe wie den islamischen Fundamentalismus? Und kein Wunder sei es auch, dass das Original aller Reform- bzw. Revitalisierungsbewegungen mit der Muslimbruderschaft in Ägypten entstanden und das Land dadurch zum «locus classicus» der islamischen Reformation geworden sei.
Das ganze Thema sei indessen, schreibt Sadik al-Azm, durch die feindlichen Blicke und Urteile, die der Islam und das Christentum gegenseitig ausgetauscht hätten, vernebelt worden. In Wahrheit aber seien beide Anschauungswelten gar nicht so weit auseinander, wie stets geglaubt.
Nähe von islamischer und judo-christlicher Kultur
Der zeitgenössische Westen preise seine judo-christlichen und seine gräco-römischen Wurzeln. Vergessen werde, dass der Islam ein Sprössling der judo-christlichen Kultur sei und sich auch selber als einen solchen betrachte.
Selbst die judo-christliche Kultur stehe der reinen gräco-römischen eigentlich nicht sehr nah. In Wahrheit stünden sich daher eine judo-christlich-islamische Tradition und eine gräco-römische Tradition gegenüber. Auf der anderen Seite aber gebe es auch viele gräco-römische Einflüsse auf den Islam des Mittleren Ostens. Syrien etwa weise mehr römische Kulturdenkmäler auf als die Stadt Rom selbst. Zudem sei der Islam auf Byzanz ebenso niedergekommen wie auf den kulturell-hellenisierten christlichen Mittleren Osten.
Judentum und Hellenismus als kultureller Unterbau
Dieser Hellenismus nun sei der kulturelle Unterbau sowohl der scholastischen Vernunft des östlichen Christentums als auch der scholastischen Vernunft des Islam wie auch der scholastischen Vernunft des westlichen Christentums gewesen, welches seinerseits zeitgleich in die Periode der talmudischen Kodifizierung des Judaismus gefallen sei.
Alle diese Kulturkreise zusammen, schreibt Sadik al-Azm, «haben sich einerseits Plato, Aristoteles und Plotin und andererseits Adam, Abraham und Moses geteilt.» Natürlich, schreibt der Autor, sei der Mittlere Osten keineswegs «westlich» oder «europäisch»; man müsse aber zur Kenntnis nehmen, dass, wenn Kräfte wie Kapitalismus, Nationalismus, Sozialismus, Säkularismus die Welt des mittelöstlichen Islam attackierten, sie auf Gesellschaften, träfen, die nicht ganz und gar fremdartig sein.
Philosophische Fundgrube
Die drei schön gestalteten Bände gesammelter Essays Sadik al-Azems sind für alle, die sich etwas tiefer in die nahöstliche Problematik einarbeiten wollen, eine fast unerschöpfliche philosophische Fundgrube. Freilich, in der arabisch-muslimischen Welt hat Sadik al-Azm kaum die ihm gebührende Anerkennung gefunden – im Gegensatz zum «Westen», der ihn mit Auszeichnungen fast überhäufte und der ihn, durch die Bundesrepublik Deutschland, mit einer zeitlich unbegrenzten Aufenthalts- und Reiseerlaubnis versehen hat Diese mangelnde Resonanz in der arabischen Welt wäre eine grundlegende soziologische und politische Untersuchung wert.
Immerhin sei, wie der deutsche Orientalist Professor Stefan Wild in der Einleitung zum Buch «On Fundamentalims» schreibt, der Anti-Zionist, der unerschrockene Säkularist, der Marxist Sadik al-Azm nach einem langen Weg im Frühjahr 2013 mit seiner ersten arabischen Ehrung ausgezeichnet worden. Die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah habe ihn in Gedenken an den grossen palästinensischen Dichter den Mahmud Darwish Preis verliehen.
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Sadik J. al-Azem: Secularism, Fundamentalism, and the Strategy for the Meaning of Islam. Collected in three volumes with a Foreword by Stefan Wild. Gerlach Press, Berlin 2014. www.gerlach-press.de