
Die Kriege der Gegenwart sind mehr als begrenzte Konflikte, die sich mit diplomatischem Geschick, klug eingesetztem politischen Druck oder dem Engagement internationaler Organisationen eindämmen oder bestenfalls ganz beenden lassen. Vielmehr zeigt Joschka Fischer, dass in ihnen seit Langem schwärende Konflikte hervortreten, zu deren Lösung in der Gegenwart noch keine Antworten gefunden worden sind.
Fischers Buch setzt ganz aktuell mit Amerika und der Wiederwahl Donald Trumps ein. Diese Wiederwahl hat politische Beben ausgelöst, deren Folgen noch längst nicht abzusehen sind. Aber darin besteht nicht das Hauptproblem unserer Zeit. Sie schlittert in immer grössere Konflikte und Katastrophen, von denen wir während der europäischen Friedensperiode nach dem Zweiten Weltkrieg angenommen hatten, dass sie der Vergangenheit angehören.
Schmach und Degradierung
Der zweite Teil des Titels von Fischers Buch lautet: «Der Beginn einer neuen Weltordnung». Man könnte Optimismus herauslesen, aber Fischer sieht dafür keinen Anlass. In seinen Kapiteln, die Russland, dem Nahen Osten, Amerika, China und Europa gewidmet sind, beschreibt er jeweils diejenigen historischen Entwicklungen, die zum Teil von einigen Akteuren gar nicht bemerkt wurden, um dann mit umso heftigeren Eruptionen – Fischer benutzt einmal das Bild des Vulkans – hervorzubrechen. Der Boden einer neuen Weltordnung ist damit aber noch lange nicht bereitet.
Eine besondere Tragik nimmt dabei das Verhältnis des Westens zu Russland ein. Denn der Westen hat in seiner Begeisterung, die das völlig unerwartete Ende der Blockkonfrontation mit der Sowjetunion auslöste, völlig übersehen, dass dieses Ende nicht nur in den Augen von Wladimir Putin eine gewaltige Schmach war. Russland hatte nicht nur Teile seines Territoriums verloren, sondern war von heute auf morgen zu einer drittrangigen Macht degradiert worden.
Überhörte Mahnungen
Fischer beschreibt sehr eindringlich, dass der Westen in seiner Euphorie keinerlei aggressive Absichten gegenüber Russland hegte und daher die sogenannte Nato-Osterweiterung tatsächlich auf den Wunsch der östlichen Beitrittsländer zurückging und es durchaus ernsthafte Bemühungen gab, Russland selbst an das Bündnis heranzuführen. Und es waren überwiegend westliche Politiker und Militärs, die die Ukraine dazu brachten, die auf ihrem Gebiet stationierten russischen Atomraketen an Russland zurückzugeben und dafür als Beistandsgarantie durch Russland, Grossbritannien und die USA das «Budapester Memorandum» vom 5. Dezember 1994 einzutauschen, «das sich Jahre später als völlig wertlos erweisen sollte».
Zwar hat Putin immer auf der Nato herumgehackt, aber in Wirklichkeit ging es ihm um die Angst vor der Demokratie vor seiner Haustür, wenn die Ukraine reüssieren sollte. Die Ukraine durfte keinen Erfolg haben, und Russland sollte wieder gross werden auf der Basis der kulturellen Ansprüche der russischen Kultur und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Parallelen zu Amerika lassen sich unschwer ziehen, und Fischer schreibt entsprechend von einer «Retrogestaltung der Zukunft» in einem «Spukschloss namens Gegenwart». Deswegen hält er es auch für sehr unwahrscheinlich, dass ein baldiger Friedensschluss im Krieg um die Ukraine gelingen kann, und er überlegt, ob, «wenn sich der Ukrainekrieg hinzieht und Putin ein Pfand in Gestalt von leicht zu eroberndem Nato-Territorium braucht», eine Besetzung von Teilen Finnlands oder des Baltikums auf der russischen Tagesordnung stehen könnte.
Und die Tatsache, dass Europa in dieser Gemengelage zunehmend ohne amerikanischen Schutz dasteht, hängt für Fischer nur mittelbar mit Trump zusammen. Schon Obama hat die Europäer gemahnt, militärisch eigenständiger zu werden. Und Emmanuel Macron hat in seiner Rede an der Sorbonne am 26. September 2017 unter anderem eindringlich dazu aufgefordert, in Europa neu über das Thema der eigenen Sicherheit nachzudenken. Angela Merkel hat diese Aufforderung schlicht und einfach ignoriert. Fischer kreidet ihr dieses Versäumnis als grösste Verantwortungslosigkeit an.
Neue Machtkonstellationen
Im Nahostkonflikt zieht Fischer ebenfalls die grossen Linien vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis in die Gegenwart nach. Für ihn ist die Frage nach der zukünftigen Existenz Israels noch nicht beantwortet. Iran will ebenso wie die Hamas Israel auslöschen und wird als Player mächtiger. Israel hat den riesigen Fehler gemacht, die Palästinenser zu ignorieren, was sich jüngst in den von den USA initiierten Abraham Accords wiederholt hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Konflikte im Nahen Osten so entschärfen werden, wie es der Westen gerne hätte.
Überhaupt muss sich Europa mit der unangenehmen Tatsache auseinandersetzen, dass es in den neuen weltpolitischen Konstellationen nur noch am Rande vorkommt. Amerika wird sich auf seinen Hauptrivalen China konzentrieren, und Russland wird sich eine neue Geltung durch neue Allianzen zu verschaffen wissen.
Joschka Fischer verbindet historische Linien mit glasklaren Analysen und Schlussfolgerungen. Aber am Ende seines Buches bleibt eine Frage unbeantwortet: Erleben wir jetzt schon den «Beginn einer neuen Weltordnung» oder befinden wir uns noch in einer Zeit der blossen Agonie und dem Herannahen unausdenklicher Katastrophen? An einer Stelle schreibt Fischer im Blick auf die Kriege im Nahen Osten, dass es weltgeschichtlich betrachtet keine ewigen Kriege gebe. Das ist sicher richtig, aber berüchsichtigt man die Spanne des einzelnen Menschenlebens, liegt darin gewiss kein Trost. Und den bietet Fischer auch nicht, dafür aber eine lohnende Lektüre.
Joschka Fischer: Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung. Kiepenheuer & Witsch, Köln, März 2025, 223 Seiten, 23 Euro