Die Brasilianerin Solange Pessoa (*1961) lässt in den Räumen des Kunsthauses Bregenz mit Jutesäcken, Pflanzen, Gewürzen, Vogelfedern und Bronzeskulpturen ihre eigene Welt entstehen – eine eindrückliche Symbiose von Architektur und Kunst.
Helle Erde bedeckt den Boden des ersten Geschosses. Die Besucherinnen und Besucher hinterlassen in dieser weichen Erde ihre Fusspuren, wenn sie nahe an die drei hoch aufragenden, den grossen Raum teilenden Wände aus Jutesäcken herantreten, um genau zu sehen, was die in der internationalen Kunstwelt präsente Brasilianerin Künstlerin Solange Pessoa in diesen Säcken und auf dem Boden davor deponiert hat: Trockene Blumen, Holzstücke, Aschen und verkohlte Hölzer, farbiges Pulver, exotische gelbe und hellrote Gewürze wohl. Dazu gibt es – in auf dem Boden verteilten Säcken – Samen, Bohnen, trockene rote Beeren, Maiskörner und wiederum Gewürze.
Es duftet in diesem Museumsraum, dessen Atmosphäre von einer archaisch anmutenden Sinnlichkeit geprägt ist, von einheitlich-natürlicher Farbigkeit lebt und in den Besucherinnen alle möglichen Assoziationen wachruft: Jutesäcke lassen sich mit Transport und Export kolonialer Agrarprodukte verbinden, Asche und Knochen mit der Endlichkeit jedes Lebens, trockene Pflanzen und Blumen mit sterbender Schönheit, die Gewürze wiederum mit vielseitigen kulinarischen Genüssen und die Samen mit aufkeimendem Leben. Die Pessoa spricht von dieser Installation als von einem «Archiv, das die Verbindung zwischen Natur und Kultur» herstellt, und von einem «Archiv der Erinnerungen brasilianischer Ureinwohner».
Weltweite Vernetzung
Eine in sich ruhende, beinahe utopisch-harmonisch anmutende Welt, die Gegensätzliches zum schönen Ganzen zusammenführt? Doch da sind noch jene mit Texten und Bildern bedruckten Zettel, die in den Jutesäcken stecken. Man müsste sie herausnehmen und lesen können, wäre da nicht unsere (hier unpassende) Scheu, ausgestelltes Museumsgut, «Kunst» also, zu berühren und gar in die Finger zu nehmen. Vieles ist portugiesisch, und, da eine Übersetzung fehlt, für die dieser Sprache nicht Mächtigen unverständlich. Doch unvermittelt stösst man auf deutsche Sätze aus Kafkas «Die Verwandlung» oder aus Thomas Manns «Zauberberg». Oder, und nun mag es politisch werden, man stösst auf das Titelblatt eines Expeditionsberichts österreichischer Wissenschafter, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Brasilien auf der Suche nach Bodenschätzen bereisten.
Die scheinbar isolierte Welt Solange Pessoas, in der höchstens die Jutesäcke auf Transporte und koloniale Aussenbeziehungen hinweisen, erweist sich bei genauem Hinsehen als weltweit intensiv vernetzt – vor allem mit Portugal, dessen grösste Kolonie Brasilien war, aber auch mit Österreich, da der Portugiese Dom Pedro Braganza (1798–1834), der erste Kaiser des nach dem Wiener Kongress selbständigen Brasiliens, die Habsburger Erzherzogin Maria Leopoldina heiratete.
Solange Pessoa nimmt die Abhängigkeiten als selbstverständliche Grundlagen brasilianischer Identität und deutet sie nur in leisen Tönen an. Belehrung scheint nicht ihr erster Gedanke; sie lässt das Wissen um Historisches, Politisches, Wirtschaftliches eher verhalten mitlaufen. Die künstlerische Geste, mit der sich die Künstlerin im Museumsraum artikuliert, unterstreicht aber die Bedeutung dieser Informationen, fesselt die Besucher und lässt sie in diesem abwechslungsreichen Ambiente verweilen. Die exemplarische Museumsarchitektur Peter Zumthors behält ihre unverwechselbare Sprache, und gleichzeitig artikuliert sich Solange Pessoa selbstbewusst und eigenständig in diesem Kontext. So öffnet sich eine Spannweite, die den Besucherinnen und Besuchern Raum gibt, sich mit ihrer ganzen Sinnlichkeit in dieses Gesamtkunstwerk einzubringen und ihr Denken und Fühlen frei ausschweifen zu lassen.
Ähnlich magistral erscheint Solange Pessoas Intervention im obersten dritten Stockwerk des Museums. Das Deckenlicht ist hier heller als in den unteren Geschossen, was den Raum nach oben öffnet. Die Künstlerin stellte in die Raummitte eine beinahe bis an die Decke reichende pilzförmige Skulptur mit dem Titel «Miracéus», zusammengefügt aus unzähligen während Jahrzehnten in Brasiliens Natur zusammengetragenen Vogelfedern. Der fliegend-leichte und scheinbar schwebende Schirm dieses «Pilzes» gibt der Gruppe Jugendlicher, die sich an einem Vormittag im weiten Raum kreisförmig zur Kunstlektion um ihre Lehrerin niedergelassen haben, Geborgenheit und Verortung. An den Wänden reiht Solange Pessoa schwarze Malereien auf weissem Grund auf. Sie zeigen unbestimmte Fabelwesen, die zwischen Animalischem und Abstraktion pendeln.
Kosmos elementarer Themen
Peter Zumthors Kunsthaus in Bregenz besteht seit gut 25 Jahren. Seine weit über das Land Vorarlberg hinaus geschätzte und vielgelobte Architektur stellt hohe Anforderungen an die Kuratoren – hier ist es der Direktor des Hauses, Thomas D. Trummer – und an die Künstlerinnen und Künstler, die hier ihren Auftritt haben. Sie ist, mit den Worten Pessoas gesagt, «sinnlich und metaphysisch, materiell und immateriell». Die Künstlerin Solange Pessoa wird diesen Anforderungen gerecht. Sie bespielt auf souveräne Weise das Haus als Ganzes, gibt aber den vier Geschossen je ein eigenes Gesicht und gestaltet so eine in sich schlüssige Abfolge der Stockwerke. Sie weiss mit den komplexen Lichtverhältnissen umzugehen und sorgt mit der unterschiedlichen Dichte ihrer Interventionen in den vier Museumsräumen für wechselnde Raumerlebnisse.
Auf der Ebene zwischen der schwer lastenden Erd- und Jutesäcke-Installation im ersten und der Leichtigkeit der schwebenden «Pilz»-Skulptur im dritten Geschoss breitet Pessoa in loser wie zufällig erscheinender Anordnung organisch geformte und dunkel patinierte Bronzeskulpturen von opulenter, teils erotisch-sinnlicher Präsenz aus. Die Schwere des gegossenen Metalls kombiniert die Künstlerin mit organisch fliessenden Materialien wie Fellen und Textilien. Das Erdgeschoss des Museums ist dunkel. An einer Wand ist in Grossprojektion ein von Klängen begleitetes Video zu sehen, das flüssige und sich allmählich verfestigende Bronze zeigt – eine Übergangssituation also, wie sie ähnlich für die ganze Arbeit der Künstlerin typisch ist.
Solange Pessoa gestaltet damit in der ganzen Museumsarchitektur Peter Zumthors einen Parcours, der die Besucherinnen und Besucher über vier unterschiedlich strukturierte Stationen durch einen Kosmos elementarer Themen wie Feuer, Erde, Luft führt.
Solange Pessoa wurde 1961 in Ferros (Brasilien) geboren und lebt in Belo Horizonte im Süden des Landes, wo sie sich zur Künstlerin ausbildete. Einzelausstellungen zeigte sie u.a. im Museu Mineiro, Belo Horizonte, im Centro Cultural São Paulo, im Ballroom Marfa, Texas sowie im Palais de Tokyo, Paris. Darüber hinaus nahm sie an zahlreichen Gruppenausstellungen in Brasilien und im Ausland teil, u. a. im Palais de Tokyo, Paris oder in der Fondation Cartier, Lille. 2022 war Solange Pessoa auf der Biennale di Venezia vertreten.
Kunsthaus Bregenz: Solange Pessoa
bis 4 Februar 2024
Eine Publikation erscheint zu einem späteren Zeitpunkt.