«Verflechtungen von Leben, Kosmos, Technik» lautet der etwas sperrige Untertitel der Ausstellung. Ihr Haupttitel: «1,5 Grad». Im Brennpunkt steht eine komplexe Thematik, der sich die Kunst auf verschiedenen Pfaden annähert.
1,5 Grad – eine magische Zahl, formuliert im von 197 Staaten unterzeichneten Klima-Übereinkommen von Paris 2015: Das Übereinkommen hatte zum Ziel, die durchschnittliche globale Erwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, wobei ein maximaler Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius angestrebt wird. Diese magische Zahl als Überschrift einer Kunstausstellung mit dem Titel «Verflechtung von Leben, Kosmos, Technik»? Eine Ausstellung über Klimapolitik und ihre Vernetzungen also?
Ob die Klimaziele einzuhalten oder ob sie utopisch sind, welche politischen Massnahmen nötig sind, um sie zu erreichen, was geschieht, wenn sie nicht erreicht werden – all das steht nicht oder nur bedingt im Zentrum des Unternehmens «1,5 Grad» der Kunsthalle Mannheim. Es geht auch nicht um die Frage, ob überhaupt oder welch geringen Beitrag die Kunst zur Lösung der Klimakrise leisten kann. Offen bleibt auch die Frage, ob Kunst dazu taugt, die Welt und ihre Menschen zum Guten hin zu verändern. Kunsthalle-Direktor Johan Holten und die Ko-Kuratorin Anja Heitzer sind bescheidener und stellen – und das ohne Schulmeisterei – aktuelle künstlerische Äusserungen an den Schnittstellen von Kunst und Technik/Wissenschaft zur Diskussion. Sie rücken damit eine Kunst in den Brennpunkt, die in der ihr eigenen Sprache und Ästhetik zentrale politische Postulate unserer Zeit ins Bewusstsein ruft. Als wolle man aufzuzeigen, dass dies alles nicht ganz neu ist, greift die Ausstellung auch hinein in die aktuelle Präsentation der vorzüglich bestückten Kunsthalle-Sammlung, indem sie die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher auf Werke vergleichbarer Thematik lenkt. Ebenso schlägt sie eine Brücke zur gleichzeitig in Mannheim stattfindenden «BUGA 23», zur Bundesgartenschau, die nicht nur mit bunten Blumenbeeten aufwartet, sondern sich vor allem Fragen sinnvoller Stadtentwicklung widmet. Auf dem BUGA-Gelände sind zwei grosse Kunstinstallationen zu sehen.
«Ästhetik des Anthropozäns»
Ein volles Mass an Theorie begleitet, wie das bei solch thematischen Ausstellungen oft geschieht, das Unternehmen – und das schon im ersten Essay des Katalogs, den die in Wien tätige Kultur- und Literaturwissenschafterin Eva Horn zum Thema «Ästhetik des Anthropozäns» verfasste. Sie kritisiert dabei die vielerorts allzu rasch laut werdende «Rhetorik der politischen Mobilisierung» und eine «blosse Thematisierung» und verweist, ausgehend von der subtilen Analyse eines Gemäldes von Caspar David Friedrich durch den französischen Philosophen Bruno Latour, auf die gegenüber früheren Zeiten hintergründigere Selbsterfahrung der Menschen in einer Welt, die im Anthropozän zunehmend brüchig geworden und von Klima- und anderen Krisen gekennzeichnet ist. Der Mensch finde sich heute als Ursache und Betroffener mitten im Geschehen der Natur und nicht mehr nur als Beobachtender diesem Geschehen gegenüber. Es könne Sache der Kunst sein, den Prozessen und Praktiken des Anthropozäns, «die latent, zu gross, zu klein oder zu selbstverständlich sind, um wahrgenommen zu werden», mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Diese Kunst lasse «das Ausmass unserer Verstricktheit und Abhängigkeit» deutlicher hervortreten.
Theorie ist das eine, ein anderes ist die sinnliche Erfahrung einer Kunst, die auf ganz verschiedenen Ebenen und innerhalb komplexer Verflechtungen argumentiert. Solch thematisch angelegte Ausstellungen stellen hohe Anforderungen nicht nur an die Macher, sondern auch ans Publikum. Von ihm ist zeitliches Engagement sowie Offenheit und die Bereitschaft, sich auf Ungewohntes einzulassen, verlangt. Oft erleichtert vordergründig scheinende Ästhetik den Einstieg in die komplexe Materie. Oft aber bleibt ein Kunstwerk ohne ausführliche Hintergrundinformationen und zeitraubende Lektüre stumm. Manches mag sogar trotz theorielastiger Erläuterungen stumm bleiben.
Schlicht schön wirkt, was die Australierinnen Margaret und Christine Wertheim – Zwillingsschwestern, Künstlerinnen und zugleich Naturwisssenschafterinnen – präsentieren: Die bunten, anscheinend wild wuchernden Skulpturen aus eingefärbten Textilfasern sind Teil ihres langfristigen und weltweit angelegten Projektes «Crochet Coral Reef». Als Wissenschafterinnen widmen sie sich der Ästhetik mathematisch-naturwissenschaftlicher Theorien, in ihrer künstlerischen Praxis verknüpfen sie die traditionelle Handarbeit des Häkelns mit der Schönheit bedrohter Unterwasserlandschaften der Korallenriffe. Ihr Kunstwerk baut auf Partizipation. Die Wertheim-Schwestern beziehen zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus aller Welt in die Arbeit und auch in die Entscheidungsprozesse ein, womit sie ihren eigenen Status als Künstlerinnen relativieren.
Poesie zeichnet die Arbeit des Düsseldorfers Thomas Kleiner aus, der sein Atelier temporär in die Kunsthalle Mannheim verlegt und sich hier der Anfertigung seiner Flugkörper widmet. Er stellt Ballons aus Bioplastik-Folie her, füllt sie mit Helium und beschwert sie mit einer Kartoffel oder einer Zwiebel als Ballast. Er sucht so nach einem Gleichgewicht zwischen Last und Auftrieb. Die Ballons schweben frei im Raum, bewegen sich mitunter sanft – oder auch, unvorhergesehen, rasch. So entführten die in den weiten Räumen der Kunsthalle herrschenden Luftströmungen einen dieser Ballons zur Freude des Künstlers in die entlegensten Winkel des Gebäudes. Die Flugkörper haben ihr eigenes Leben, denn die Verhältnisse verschieben sich. Die Ballast-Kartoffeln trocknen und verlieren an Gewicht, das Helium entschwindet allmählich durch die Poren der Folien. Thomas Kleiners Suche nach dem Gleichgewicht gewinnt im Kontext der Klimadiskussion durchaus metaphorischen Charakter. Darüber, dass er mit seiner Arbeit nicht das ganz grosse Publikum anziehen kann, ist sich der Künstler im Klaren. Dadurch, dass er in der Ausstellung selber präsent ist und sich auf kommunikative Weise auch Fragen der Besucherinnen und Besucher stellt, gewinnt seine Arbeit an Echo.
Wenig von trockener Theorie belastet ist die Begegnung mit der Filmarbeit der Multimedia-Künstlerin Melanie Bonajo, die in der vergangenen Biennale in Venedig die Niederlande vertrat. Bonajo, die in ihren Werken Konzepte von Heimat und Entfremdung thematisiert und nach geschlechtsspezifischen Rollen und Werten fragt, bietet vier Frauen eine Plattform zur Darstellung ihrer naturverbundenen, alternativen und auf Partnerschaft basierenden Lebensführung, die sich jedem Streben nach Gewinn und Prestige und jedem Egoismus widersetzt. Eine dieser Frauen lebt mit ihrer kleinen Tochter in der freien Natur ihre Utopie aus, hat sich ein breites Wissen über natürliche Lebensformen angeeignet und nimmt sich, nach der Art von Indigenen in südamerikanischen Regenwäldern, was sie zum Leben braucht. Eine andere demonstriert mit ihrer zärtlichen Zuwendung zu trächtigen Schweinen ein radikal anderes Verhältnis zum Tier und bezieht, ein absurd anmutender Bruch, brav bürgerlich gekleidete Herren in Anzug und mit Krawatte in ihre Tätigkeit ein.
Sinnliche Spektakel liefern der in Berlin aktive Schweizer Julian Charrière und die in London lebende Französin Laure Prouvost. Charrière, technisch versiert und perfekt wie sein einstiger Lehrer Olafur Eliasson, thematisiert in der Filmarbeit «Controlled Burn» Feuer, Verbrennung und Architekturen moderner Energiegewinnung und lässt in fulminanten Bildern jene – zerstörerische? – Energie explosiv aufflammen, von der unsere Zivilisation lebt. Laure Prouvost, die 2013 den Turner Prize zugesprochen erhielt, lässt uns ihre geheimnisvoll dunkle Installation «Mootherr» betreten, in der fahle Lichter in Form von Brüsten aufleuchten. Als Besucher glaubt man sich in diesem verspiegelten Ambiente in einer wohltuenden und gleichzeitig gespenstischen Urmutter wiederzufinden.
Die Ausstellung «1,5 Grad» ist komplex in ihrer Anlage und trotz Gliederung in fünf Teile nicht gradlinig klar, sondern eher spielerisch und essayistisch aufgebaut, Sie lässt die Besucherinnen und Besucher Fragen stellen, ohne sie zu beantworten. Sie wählt – die wenigen erwähnten Beispiele von insgesamt rund 200 gezeigten Werken machen es deutlich – verschiedene Pfade und Möglichkeiten des Denkens in Bildern. Sie kann gelesen werden als klares Statement zu einem politischen Auftrag an die Kunst, ganz im Sinne von Eva Horn ein auf die «Prozesse und Praktiken des Anthropozäns» hin offenes Bewusstsein zu schaffen oder wenigstens zu fördern.
Überzeugend und auf Anhieb einsichtig tut dies übrigens ein vor über 50 Jahren entstandenes Werk der Mannheimer Sammlung: Timm Ulrichs’ «Natur-Teile». Der 1940 geborene «Totalkünstler», wie er sich nennt, der Konzeptkunst und dem Neo-Dadaismus verpflichtet, Liebhaber von Mehrdeutigkeiten und Paradoxien, entrindete 1968 drei Baumstämme und versah sie mit einem Tarnanstrich, wie ihn die Armee verwendet. Üblicherweise macht Tarnung mit einem der Natur entlehnten Design den Menschen unsichtbar, um ihn zu schützen. Timm Ulrichs tarnt die Natur und schützt sie – vor den Menschen.
Kunsthalle Mannheim. Bis 8. Oktober. Katalog 32 Euro.