Markus Raetz (1941–2020) ist der Künstler der Metamorphose und der Blickwechsel. Seine Kunst hält die Betrachterin und den Betrachter in ständiger Bewegung. In der grossen Retrospektive lässt sich sein Werk erfahren.
In Augenhöhe sind, auf einem Eichenholzbrett, zwei aus Eisendraht geformte Gebilde montiert. Was sie darstellen, erschliesst sich erst, wenn man um das Objekt herumgeht. Plötzlich werden die scheinbar willkürlich geformten Drähte zum Bild zweier Menschen: Wir sehen die Konturen einer adrett gekleideten Frau mit verschränkten Armen. Sie blickt einem Herrn in Anzug keck, vielleicht auch schnippisch in die Augen. Die Haltung des Mannes deutet Erstaunen an.
Auch wir werden staunen, wenn wir den Gang um die Szene fortsetzen. Die Figuren verändern sich – und unvermittelt gefriert das Bild erneut: Der Mann ist zur Frau geworden und die Frau zum Mann. «Madame et Monsieur» nennt Markus Raetz diese 2009 entstandene Arbeit. Zu begegnen ist ihr in der Ausstellung «OUI NON – SI NO – YES NO» im Kunstmuseum Bern. Es ist die erste grosse Raetz-Ausstellung seit dem Tod des Künstlers vor drei Jahren. Stephan Kunz – künstlerischer Direktor des Kunstmuseums Chur und seit vielen Jahren Kenner von Raetz‘ Werk – hat sie in den wohlproportionierten alten Räumen des Kunstmuseums Bern eingerichtet.
Der Künstler als Zeichner
«Madame et Monsieur» ist ein listenreiches und vielschichtiges Spiel mit der Zeichnung im Raum und mit der Entstehung des Bildes in unserem Kopf. Zeichnung war für Markus Raetz seit je Ausgangs- und Angelpunkt seiner künstlerischen Aktivitäten. Der Künstler ist eine Art Prototyp des denkenden Zeichners oder des zeichnenden Denkers. Es scheint, als habe das Setzen des Stiftes auf das Blatt Papier seinen Denkprozess in Gang initiiert, oder – umgekehrt – als hätte sein Denken sich auf dem Blatt als Zeichnung fortgesetzt.
Eindrücklich belegt das ein Blick in seine Notizbücher der 1970er-Jahre, die in einer Vitrine ausgelegt sind. Da finden Gedankenblitze des Künstlers ihren ersten Niederschlag aufs Papier, wo sie sich verändern und weiterentwickeln. Eins fliesst aus dem anderen. Es herrscht ein sprudelndes oder wirbelndes Strömen von Linien und Bildern, die sich zu immer neuen Motiven fügen, sich handkehrum wieder trennen, um sich zu wieder neuen Motivketten zu verbinden. Da sind keinerlei Endpunkte. Nichts ist abgeschlossen.
Räume spielerischen Denkens
Folgerichtig findet dieses Zeichnen nicht nur auf dem zweidimensionalen Blatt statt, sondern greift, wie das Beispiel «Madame et Monsieur» zeigt, auch real aus ins Dreidimensionale, wo es neue Räume spielerischen Denkens erschliesst. In diesem Sinne ist das ganze Schaffen von Markus Raetz auf Dreidimensionalität angelegt, und es führt weit darüber hinaus, da der Künstler oft auch das Wort einbezieht und ebenso die Dimension der Bewegung in der Zeit. Das wiederum führt nicht nur den Künstler, sondern mit ihm auch die Betrachterinnen und Betrachter zum Nachdenken darüber, was denn Skulptur generell bedeutet – und wie sie aus der Bewegung im Raum heraus als Bild erfasst werden kann.
Markus Raetz‘ Werk handelt denn auch immer wieder vom Entstehen der Bilder im Kopf des Betrachters. Das zeigt sich in «Madame et Monsieur», das sich erst in unserer Bewegung im Raum, im Umschreiten des Werkes als Doppelbild erschliesst. Augenfällig wird das auch, wenn der Künstler sieben Bruyèrezweige auf den ersten Blick scheinbar disparat und wie zufällig an einer Wand anordnet. Ihre Positionen gehorchen aber genauen Überlegungen: Sie fügen sich zum Gesicht, wenn wir aus einem vom Künstler genau definierten Standpunkt aus in einen an der Wand befestigten Spiegel blicken («Reflektion», 1985–1988).
Diesen Standort müssen wir aber erst einmal ausfindig machen; da hält Markus Raetz die Betrachterinnen ganz schön auf Trab. In einem vergleichbaren Werk fügen sich Bruyèrezweige im Spiegel zum Bild eines nackten Frauenoberkörpers, womit der Künstler uns auf spielerisch-ironische Weise in eine Voyeur-Rolle – die «Paraderolle» des Kunstbetrachters – drängt.
Spielen und Perfektion
Damit ist ein weiterer Grundzug des Schaffens von Markus Raetz genannt: das leichthin Spielerische, mit dem der Künstler zu seinen Resultaten gelangt. Es verleiht seinem Werk eine befreiende Heiterkeit, die sich in den Räumen des Altbaus des Berner Kunstmuseums entfaltet. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass diese Leichtigkeit des Seins auf einem nie abbrechenden Fluss künstlerischer Energie beruht, auf einem Ideenreichtum einerseits, andererseits aber auch auf einem Willen zur Perfektion in der Umsetzung dieser Ideen in visuell wahrnehmbare Ausdrucksmittel.
Da ist jedes Material – getrocknete Eukalyptusblätter, Drähte, Holz, perfekt bearbeitete anthropomorphe Steine, Aquarellfarbe, Bleistiftstrich – bewusst eingesetzt und auf seine Aussagekraft hin geprüft. Stets ist auch das räumliche Umfeld mitgedacht. So werden Betrachterin und Betrachter quasi bei der Hand genommen und geführt. Es ist das Verdient der Ausstellung und ihres Kurators, dass ein erneutes – oder für ein jüngeres Publikum auch erstmaliges – Erleben dieses Werkes möglich wird.
Im letzten Raum der Ausstellung ist einem Werk zu begegnen, das Markus Raetz selber nicht mehr vollenden konnte, dessen Ausgestaltung er aber in einer Skizze festhielt. Diese Skizze zeigt zahlreiche aus Drähten geformte Mobiles, die er zu einem im Raum frei hängenden Kegel zusammenfügt. Er skizziert sich selbst, in einem Stuhl vor dieser «Wolke» sitzend und ruhig in die sich überschneidenden und darum kam mehr einzeln lesbaren Drahtfiguren blickend. Diese Zeichnung – und ihre Umsetzung in der Berner Ausstellung – belegt jene tüftelnde Experimentierlust, die den Künstler sein ganzes Leben begleitete.
Gegen alles Vorgefasste
Um auf die eingangs geschilderte Arbeit «Madame et Monsieur» und auch auf den Ausstellungstitel «OUI NON – SI NO – YES NO» zurückzukommen und auf einen weiteren, den vielleicht wichtigsten Grundzug des Schaffens von Markus Raetz hinzuweisen: Frau wird, je nach Position des Betrachters und der Betrachterin, Mann und Mann wird Frau. Ebenso verwandeln sich YES in NO, SI in NO und OUI in NON. Oder die Silhouette von Beuys samt Hut wird im Spiegel zum Hasen. Ähnlicher Beispiele sind viele.
Markus Raetz spielt ein kluges Spiel mit seiner eigenen, aber auch mit unserer Wahrnehmung – doch nicht nur ein erheiternd augenzwinkerndes Spiel, sondern auch ein ganz allgemein gemeintes politisches Statement: Das Ganze lässt sich lesen als eine Absage an alles Vorgefasste, an Vorurteile, an Vereinfachungen. Ein Ja kann sich zum Nein verwandeln, wenn man sich aus der Bewegung heraus Klarheit über die eigene Position verschafft hat. Leichthin und ohne Schulmeisterei verwandelt Markus Raetz das Entweder-oder-Diktat in ein offenes Sowohl-als-auch-Denken. Beuys wird zur Hasenform. Frau wird Mann. Nota bene: Ernstes Spielen steht da – im Jahr 2009! – gegen das oftmals verbitterte aktuelle «Gendern» mancher Feministinnen und anderer Aktivisten.
Die Publikation
Seit kurzem liegt ein Katalog der dreidimensionalen Werke von Markus Raetz vor, herausgegeben vom Schweizer Institut für Kunstwissenschaft, betreut von Franz Müller und erschienen im Verlag Scheidegger & Spiess. Darum verzichtet das Kunstmuseum Bern auf einen klassischen Katalog zur neuen Ausstellung.
Stattdessen gab Stephan Kunz als Ausstellungsbegleitung den Bildband «markus raetz – atelier» heraus mit Fotos, die Alexander Jaquemet im Verlauf der letzten Jahre im Berner Atelier von Markus Raetz aufgenommen hat. Sie zeichnen die spezielle Atmosphäre dieser Arbeits- und Tüftelstätte des Künstlers nach. Die begleitenden Texte stammen von Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern, Kurator Stephan Kunz und vom französischen Kunsthistoriker Didier Semin.
Kunstmuseum Bern, bis 25. Februar 2024, Publikation 39 Franken
Markus Raetz
Markus Raetz wird 1941 in Bern geboren. Er wächst in Büren an der Aare auf und absolviert eine Ausbildung als Primarlehrer. In den Ferien und an den Wochenenden arbeitet er im Atelier des Steinbildhauers Peter Travaglini. 1963 bezieht er ein erstes Atelier an der Berner Neuengasse, und im Folgejahr lernt er Harald Szeemann kennen. 1968, 1972 und 1982 nimmt er an der documenta in Kassel teil. 1969 zieht er mit seiner künftigen Frau Monika Müller nach Amsterdam. Es folgen Reisen in Spanien und Marokko. 1975 erste Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich. 1975 Umzug mit seiner Familie nach Bern. Bald folgen Einzelausstellungen im Kunsthaus Bern, in der Kunsthalle Basel und im Kunsthaus Aarau. 1987 umfassende Retrospektive im Kunsthaus Zürich mit weiteren Stationen in Stockholm und in Köln. 1988 gestaltet er den Schweizer Pavillon der Biennale Venedig. Es folgen Ausstellungen u.a. in San Diego (Kalifornien), Genf, Valencia, London (Serpentine Gallery). 2014 erscheint der Katalog des druckgrafischen Werkes, 2023 jener des plastischen Werkes, beide herausgegeben vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaften (SIK-ISEA). 2020 stirbt Markus Raetz in Bern.