Zu einer bisher nicht diskutierten Folge gehört: Die Schweiz wird als unzuverlässiger Vertragspartner behandelt werden!
Die Freizügigkeitsbremse des 9.Februar zwingt uns in spätestens drei Jahren zur Verletzung eines vom Volk bewilligten Abkommens mit der EU. Die Vertragstreue ist auch in der Schweiz heilig. Ebenso heilig ist das Recht des Schweizervolks auf zwingende Entscheide. Zwei unverletzliche Rechtsgüter stossen unvereinbar gegeneinander. Wer das eine respektiert, verletzt das andere.
Auch ich bin im Dilemma. Der EU-Anhänger ist für die bedingungslose Freizügigkeit. Der Schweizer in mir sieht, dass mein übervölkertes Land einen jährlichen Einwanderungsüberschuss von 50`000 nicht länger verkraften kann. Mit dem „Fahrplan“ hier unten suche ich nach Lösungsmöglichkeiten:
Wenn keine Lösung gefunden wird, sind die Folgen nicht nur in den Beziehungen zur EU schwerwiegend, sondern für alle unsere internationalen Verhandlungen überhaupt. Dann wird unser Land gewaltig an Glaubwürdigkeit verlieren. Die Schweiz wird als unzuverlässiger Vertragspartner behandelt werden, dessen Unterschrift nicht mehr ernst genommen werden kann. Man wird von uns bei jedem neuen Abkommen Extra-Garantien verlangen. Die können wir aber nicht geben, weil wir damit unsere Volksrechte präventiv ausser Kraft setzen müssten.
Wir sind Vertragsbrecher!
Wenn es nur das erste Mal wäre, könnte es die internationale Gemeinschaft noch als Betriebsunfall abtun. Es ist aber schon das zweite Mal, und man wird uns als rückfälligen Vertragsbrecher behandeln, bei dem man auch einen dritten und vierten Vertragsbruch riskiert. Denn schon die angenommene Alpeninitiative verletzte 1994 mit ihrer Diskriminierung der EU-Transporte das Transitabkommen, und die EU brach am zweiten Tag darauf die Gespräche über die bilateralen Abkommen ab, die wir nach dem EWR-Nein 1992 dringend brauchten. Und die wir jetzt verletzen müssen! Die EU verhandelte damals erst weiter, als die Alpeninitiative ohne Diskriminierung umgesetzt worden war, indem der Schienenzwang durch die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe LSVA ersetzt wurde..
Aber ebenso unantastbar sind bei uns die Volksrechte. Eine Initiative, der die StimmbürgerInnen zugestimmt haben, und sei es mit nur 0,3 Prozent über der Hälfte, steht jetzt in der Bundesverfassung und muss ohne Wenn und Aber befolgt werden. Jedes Ritzen am Initiativrecht oder opportunistische Interpretieren des Ja würde die einzigartige Schweizer Errungenschaft der direkten Demokratie beschädigen, welche sich – das begründe ich in einem anderen Artikel, „Demokratie!“ – auf die ganze Welt ausbreiten muss, wenn das Jahrhundert menschlich enden soll. Deswegen darf das einzige Beispiel in der Staatenwelt davon keine Abstriche machen.
Also was tun?
Die Initiative lässt uns, ein Reifezeugnis für die direkte Demokratie und die SVP, drei Jahre Zeit, um nach Lösungen zu suchen. Fünf Wochen nach jenem Sonntag wäre es von der EU wie von der SVP zu viel verlangt, ihre Standpunkte schon aufzuweichen. Ein unabhängiger Journalist darf sich Gedanken machen, wie das zu bewerkstelligen wäre. Wie könnte ein Fahrplan der Schweizer EU-Politik für die nächsten Monate aussehen?
Ein Fahrplan: Erstens, zweitens, drittens, zwölftens...
Eine erste Feststellung: Die drei Jahre scheinen uns die ersten Reaktionen der EU nicht gönnen zu wollen. Sie verlangt innert Monaten einen Entscheid über die Ausdehnung der Freizügigkeit auf das neue.EU-Mitglied Kroatien. Sie kann es nicht hinnehmen, dass die Schweiz eines ihrer Mitgliedländer diskriminiert. Das wäre etwa so, wie wenn die EU den Appenzellern die bilateralen Abkommen verzeigern würde. In der Schweiz würde aber ein Referendum eine massive Zustimmung erhalten, also muss die Freizügigkeit für Kroatien sistiert werden. Nachdem das Bundesrätin Sommaruga der EU-Präsidentschaft mitgeteilt hatte, stoppte diese die Verhandlungen über die Beteiligung der Schweiz an ihren Forschungsprogrammen („Horizon“) und an den europaweiten Auslandsemestern der Studenten („Erasmus“). Unsere Forscher und Studenten sind jetzt abgekoppelt vom „gesamteuropäischen Raum der Forschung und Bildung“, stehen allein in Europa.
Der EU klarmachen: Wir sind vollgestopft!
Zweitens, dringend: Der EU und ihren Politikern muss zuallererst ein von allen Verträgen und Abkommen unabhängiges Schweizer Faktum unter die Nase gerieben werden: überbordende Bevölkerungsdichte und Besiedlung mit all ihren Nebenfolgen. Überfüllte Eisenbahnzüge und Bahnhöfe. Kaum mehr ein Quadratmeter frei für neue Häuser und Wohnungen, und trotzdem wird im Mittelland weitergebaut, um dem Überschuss von 50´000 Einwanderern pro Jahr, die zurzeit vor allem aus der EU kommen, menschenwürdige Unterkünfte zu bieten. Was die Mietpreise für junge Schweizer in unbezahlbare Höhen steigen lässt. Was die ganze bewohnbare Siedlungsfläche der Schweiz mit Siedlern vollstopft. Wir sind übervölkert wie kein EU-Land und können eine unbeschränkte Einwanderungsfreiheit nicht mehr verkraften.
Drittens: Wir müssen also in den EU-Ländern (sie beschliessen, nicht Barroso, nicht die Brüsseler Kommission) Verständnis für diese Übervölkerung wecken. Hierin hat die SVP-Initiative und haben die 50,3 Prozent recht. Und auch einen Ausländeranteil von 23 Prozent in der Bevölkerung hat ausser Luxemburg kein EU-Land auch nur annähernd. Das alles, reine Tatsachen, muss jetzt unsere Diplomatie und müssen unsere Bundesräte den EU-Politikern klarmachen, die in den ersten Tagen nur die Verletzung eines Abkommens gesehen haben. Das wird nicht leicht, aber möglich sein, weil die Schweiz in vielen EU-Ländern jenseits von Bankgeheimnis und Steuerflucht einen grossen Sympathiebonus geniesst.
Verhandeln!
Viertens: Wenn man aus einer Schwächeposition, der indiskutablen Gültigkeit des Freihandelsabkommens, Änderungen daran will, muss man auch eine Gegenleistung anbieten. Das Schweizer Postulat, auf unsere Übervölkerung Rücksicht zu nehmen, muss begleitet sein von der Versicherung, dass die Schweiz nicht vertragsbrüchig werden und die von der Initiative verlangte Einschränkung der Freizügigkeit nicht einseitig beschliessen, sondern darüber verhandeln will.
Fünftens: Ja, verhandeln! Das in der Initiative postulierte Schweizer Recht, die Einwanderung zu kontingentieren wie es ihr beliebt, wird die EU nie akzeptieren. Wieviel und wie wir die Einwanderung beschränken dürfen, muss mit der EU ausgehandelt werden.
Auch unter uns Schweizern!
Das heisst sechstens: Auch in der Schweiz muss unter den diversen Strömungen in einem laufenden Hin und Her mit Brüssel diskutiert werden, wieviel freie Einwanderung aus der EU wir akzeptieren wollen. SVP eingeschlossen! Eine von der EU nach Verhandlungen akzeptierte Prozedur, die absolute Freizügigkeit wie und wieviel auch immer einzuschränken, würde dem Ziel ihrer Initiative gerecht.
Siebentens: Die Schweizer Unterhändler werden nur Erfolg haben, wenn hinter ihnen eine geeinte Position der schweizerischen Parteien steht. Wenn die EU sieht, dass die SVP allen Revisionen unzugänglich ist, wird auch sie allen Wünschen nach Revision unzugänglich sein.
Forscher und Studenten: Hier lesen!
Achtens: Das gilt auch für unsere Branchen und Interessengruppen. Unsere Forscher und Studenten lancieren einen hochtrabenden Appell an die EU, ihnen den „europäischen Bildungsraum“ wieder zu öffnen. Sie vergessen; dass er Teil eines noch grösseren Raums ist, des Raums der gesamteuropäischen Zusammenarbeit, dem wir uns auf denn wichtigsten wirtschaftlichen Sektoren bilateral anschliessen dürfen. Schon das ist Rosinenpicken, und der Appell der Forscher und Studenten ein branchenspezifisches: Man kann einfach nicht, wie es die Schweizer immer wieder meinen, am uns gerade passenden europäischen Projekt teilnehmen und an anderen; in diesem Fall der Frfeizügigkeit, nicht. Hättet ihr das begriffen, Forscher und Studenten; dann hättet ihr in eueren Appell den Schwur eingebaut; euch in der Schweiz auch für die Freizügigkeit einzusetzen:
Kompromissideen
Neuntens: Für den der EU vorzuschlagenden Kompromiss gibt es schon erste Ideen. Eine vielsprechende ist: „Ein Land, wo die ausländische Bevölkerung mehr als 20 Prozent übersteigt, darf die Freizügigkeit angemessen beschränken.“ Für „angemessen“ werden Bern und Brüssel einen Kompromiss finden: Denn dieses Prinzip hat die EU schon einmal akzeptiert! Dem EWR-Mitglied Liechtenstein hat sie eine solche Beschränkung bewilligt, obwohl die Freizügigkeit auch im EWR Pflicht ist.
Zehntens: Ein solcher Kompromiss wäre unvereinbar mit der Verfassungsvorschrift gewordenen SVP-Initiative. Sie müsste gestrichen oder mit der EU-Lösung kompatibel gemacht werden. Angesichts einer akzeptablen Lösung könnte, wie allererste Äusserungen andeuten, auch die SVP einer Änderung des aus ihrer Initiative hervorgegangenen Verfassungsartikels zustimmen. Eine neue Volksabstimmung.würde ein klares Ja ergeben, wenn auch die SVP dahinter steht.
Ohne Freizügigkeit keine EU
Elftens nie vergessen: Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist nicht nur eine der vier elementaren Freiheiten des Binnenmarkts, sondern eine Voraussetzung der Existenz der EU überhaupt. Ihre ärmeren Länder – bei ihrer Gründung 1958 Italien, beim Abschluss unserer bilateralen Abkommen 2000 Spanien und Portugal und heute alle Ostländer – können den anderen Freiheiten, den unbeschränkten Waren- und -Kapitalexporten der stärkeren Länder nur zustimmen, wenn diese auch ihre einzige Stärke akzeptieren: die Freizügigkeit ihrer Arbeitnehmer, in der EU unbeschränkt Arbeit suchen und ihren Lohn nach Hause schicken zu dürfen. Ohne die Freizügigkeit wäre die EU gar nicht entstanden, denn keines dieser Länder wäre ihr beigetreten. Eben erst (14.März) hat der ungarische Staatssekretär Zsolt Nemeth der Neuen Zürcher Zeitung erklärt: „Die Personenfreizügigkeit war für uns eine zentrale Motivation; der EU beizutreten“.
Ohne Freizügigkeit keine bilateralen Abkommen
Zwölftens: Spanien und Portugal blockierten den Abschluss unserer bilateralen Abkommen, bis wir auch die volle Freizügigkeit akzeptierten. Durch die Ostländer verstärkt würden sie auch heute die Kündigung dieser Abkommen erzwingen, wenn wir ihnen die Freizügigkeit verweigern. Wenn wir ihnen unsere Übervölkerung klarmachen, können wir sie vielleicht überzeugen, dass eine Einschränkung der totalen Freizügigkeit für unser Land politisch und ökologisch zwingend ist.