Millionen Bürger und Bürgerinnen haben das Gefühl verloren, die Demokratie gebe ihnen einen Einfluss auf die Politik. Und erliegen rechtspopulistischen, antidemokratischen und sogar faschistischen Parolen.
Um das gleich zu klären: Ich stimmte am 9.Februar Nein und das Ja beschert uns grosse Probleme, aber ich bin nach wie vor ein leidenschaftlicher Anhänger.und Verteidiger der direkten Demokratie. Ich bin sogar so verrückt zu glauben, nur sie könne uns ein menschliches Jahrhundert bescheren.
Demokratie ja! (Einmal alle vier Jahre)
In der Schweiz sind die BürgerInnen im Wortsinn der „Souverän“: die oberste Macht im Staat. Ihre Mehrheit kann Entscheide von Regierung und Parlament annullieren. Überall sonst herrscht die „repräsentative“ Demokratie. Entgegen dem griechischen Wort ist das nicht eine „Herrschaft des Volks“, sondern: Eine kleine politische Elite „repräsentiert“ das Volk und entscheidet jahrelang allmächtig, ohne dass es mitbestimmen kann. Und auch in den Wahlen alle paar Jahre kann das Volk nur Poliitiker und Parteien auswählen, die es repräsentieren sollen, und dann machen sie wieder, was sie wollen. Sogar mit dem Wahlresultat, siehe Deutschland: Viele haben die Grosse Koalition gar nicht gewollt, aber jetzt müssen sie unter ihr leben.
Keineswegs mit allen Resultaten, aber mit dem System an sich waren die Bürger der repräsentativen Demokratien hundert Jahre lang zufrieden. Viele machten sich lustig über die Schweizer, die jedes Jahr drei Sonntage dem Urnengang widmen müssen. Seit etwa zehn Jahren steigt aber in allen anderen Ländern ein Missmut gegen eine Demokratie, welche sie jahrelang entmündigt: Unzufriedenheit, Absenz, Apathie, Abwendung, Auflehnung, Negativismus, Protest. Bis zu antidemokratischen und sogar faschistischen Reaktionen wie den Erfolgen der Partei „hellenische Morgenröte“ in Griechenland.
Der Konsens zwischen Elite und Volk, dass dieses repräsentative System genügend Demokratie produziert, ist zerbrochen. Aber zum Thema einer grossen Diskussiojn ist das noch nicht geworden. Unter Demokratie-Diskutanten ist es immer noch eine Selbstverständlichkeit, dass die repräsentative Demokratie alle nötigen Anforderungen an die „Herrschaft des Volkes“ erfüllt und die direkte Demokratie eine bewundernswerte aber skurrile, nur in der Schweiz mögliche Ausnahme sei.
Politikverdrossenheit ist nicht Reform
Nein! Ûberall sonst sind die Demokratien in der Krise, weil, ja: Weil sie nur repräsentativ sind. Und der Unmut hat sich in einem gefährlichen Cliché festgesetzt: „Die Politiker sind alle korrupt, wirtschaften in ihre eigene Tasche.“ Medien und Politologen haben das als:„Politikverdrossenheit“ diagnostiziert. Das Wort ist viel zu schwach. In den Bevölkerungen hat sich ein tiefes Misstrauen nicht nur gegenüber den Politikern eingewühlt sondern, viel schlimmer, gegen die Demokratie: Gegen den Glauben, sie gebe ihnen die Möglichkeit, die Politik zu beeinflussen.
In der Schweiz weiss ich, dass nicht „die Politiker“ schuld sind, wenn etwas schlecht läuft, sondern ich selber, weil ich mich um eine Abstimmung foutiert oder einer Mehrheit zu einem falschen Entscheid verholfen habe. Den ich mit demkratischen Mitstreitern auch wieder korrigieren kann. Diese Rückkoppelung ist ebenso wichtig wie das Stimmrecht. In den repräsentativen Demokratien heisst es anders: „Die da oben sind schuld, nicht ich.“ Die Reform kommt aber nicht, wenn man die Verantwortung für alles auf „die da oben...“ abschieben kann. Ohne an ihm aktiv teilnehmende Bürger wird das System „Demokratie“ dahinserbeln, bis es abstirbt. Das ist die Zukunft der repräsentativen Demokratien.
Politiker sein ist in diesem Missstand ein undanbares Geschäft. Fast jeder Junge der einsteigt tut es aus Idealismus und muss lernen, dass es auch Kompromisse braucht, das heisst Abstriche an seinen Idealen. Aber wenn ihm das generelle Misstrauen gegen „die da oben...“ entgegenschlägt, muss er sich als kompromissloser Verfechter von hohen Grundsätzen aufspielen, um nocheinmal gewählt zu werden.
„Kompromiss“: ein Schimpfwort!
Demokratie! erfordert jedoch nicht nur die freie Wahl von Parlamentariern. Sie erfordet auch, dass die Gewählten dann mit ihren Gegnern Kompromisse schliessen! „Kompromiss“ ist aber ein Unwort geworden. Schliesst er einen Kompromiss, wird dem Politiker in diesem generellen Misstrauen vorgeworfen: du hast die Grundsätze verraten, die du deinen Wählern versprochen hast. „Encore un compromis belge!“ ist hier ein Schimpfwort, alle haben das Gefühl, Geben und Nachgeben in einem Kompromiss sei eine Schwäche; welche ihm die Wähler nicht verzeihen. Er wird das nächste Mal keinen Kompromiss mehr schliessen. Was den Belgiern zu einem Weltrekord verholfen hat, anderthalb Jahre Regierungskrise. In den USA scheinen Republikaner und Demokraten kaum mehr zu konstruktiver Zusammenarbeit fähig. Sie sollen nicht einmal mehr wie früher miteinander essen gehen, um über einem Steak die Kompromissmöglichkeiten auszuloten.
70 Jahre Lernen
Das klingt wahrscheinlich alles ein bisschen schroff und in dieser Kürze übertrieben. Es gibt auch Hoffnungsschimmer: Da und dort regt sich die direkte Demokratie auf Graswurzelebene, in Gemeinden, Städten, Regionen. Vielleicht steigt sie langsam auf die nationalen Ebenen hinauf. Besser langsam als schnell! Direkte Demokratie muss gelernt werden, generationenlang. Ihr Vollausbau dauerte in der Schweiz über 70 Jahre: Vom nie benützten weil viel zu komplizierten Recht in der ersten Bundesverfasssung 1848, mit 50000 Stimmen ihre Änderung zu fordern, ging es 26 Jahre bis zum Gesetzesreferendum (1874), 43 Jahre bis zur Einführung der Volksinitiative (1891) und 73 bis zum Staatsvertragsreferendum (1921).
Ein verdächtiger Jubel
Keine Hoffnung dürfen wir aus der Begeisterung für Volksrechte schöpfen, die unser 9.Februar bei politikskeptischen Parteien ausgelöst hat. Sie sahen nur, dass ein Volk zweien ihrer Ziele zustimmte, dem Kampf gegen die Einwanderung und gegen die ÈU. Dass sie in der direkten Demokratie auch Niederlagen einstecken müssten, ist ihnen kaum bewusst. Umgekehrt sagten die europäischen Eliten schockiert: Seht, wie es herauskommt, wenn man dem Volk eine solche Entscheidung überlässt! Sie wollen das Volk weiter „repräsentieren“ und ihm keinen Fussbreit Einfluss auf die Entscheidungen in ihrem Elfenbeinturm überlassen
Was tun? Fern von mir der Gedanke, nun müsse die Welt die Schweizer direkte Demokratie kopieren. Es gibt viele Methoden der Mitbetimmung des Volkes. Jedes Land muss seine eigenen Methoden finden. Über Jahre hinweg. Sie müssen aber alle über die bloss repräsentative Demokratie hinausführen, sonst wird das Jahrhundert schlecht enden.
Die Eliten haben Angst
Achtung: Die direkte Demokratie hat einigen Minimalkriterien zu genügen, die nicht einmal allen Reformern klar zu sein scheinen. Die Eliten leisten ihr Lippendienste, aber sie haben Angst vor ihr und setzen die Bedingungen so hoch an, dass sie keine Chance hat. Italien hat das Quorum der Stimmbeteiligung so hoch geschraubt, dass die Italiener, obwohl sie die minimale Stimmbeteiligung in der ersten Abstimmung nur um Prozente verfehlten, nach der Ungültigerklärung ihr Interesse am Abstimmen verloren haben. Anderswo kann man Unterschriften nur im Gemeindehaus sammeln und nur eine Woche lang. In Irland und Dänemark werden Volksvoten auf so wichtige Themen beschränkt, dass sie nur alle zehn oder zwanzig Jahre stattfinden. Dann werden sie oft für Ohrfeigen an die gerade amtierende Regierrung benützt.. Als die Iren die letzte EU-Reform zunächst einmal ablehnten, ging es ihnen nicht um den Vertrag von Lissabon, sie wollten nur der Regierung eins auswischen, die mit einer Liberalisierung der Abtreibung gegen katholische Grundsätze verstossen hatte,.
Am wichtigsten: Ob Abstimmungen stattfinden, das darf nur von festen Verfassungsregeln abhängen, nicht von willkürlichen Entscheiden der Machthaber. In Frankreich und in England werden solche Abstimmungen vom Präsidenten oder a>Premierminister angesetzt, aber natürlich nur, wenn er das gerade für opportun erachtet. David Cameron hat die Abstimmung über das Verbleiben in der EU aus Angst vor der Konkurrenz der Anti-EU-Partei versprochen und nur für den Fall, dass er wiedergewählt wird. In Frankreich schreibt der gerade amtierende Machthaber ein solches Plebiszit nur aus, wenn ihm die Umfragen ein sicheres Ja versprechen.
Giscard d’Estaing wurde fast das Opfer einer Fehleinschätzung, 49 Prozent Franzosen stimmten Nein, als er ihnen siegessicher den Entscheid über die Reduktion des britischen Beitrags ans EG-Budget anvertraute. Anders de Gaulle, von einem anderen Kaliber. Als er 1969 das Referendum über die Stärkung der Regionen ansetzte, wusste er, dass ihn die Franzosen weghaben wollten, und drohte bzw. versprach ihnen, bei einem Nein zurückzutreten. Wofür sie dann an der Urne sorgten, obwohl ihnen die Stärkung der Regionen eigentlich sympathisch war.