Die Nationalmannschaft des ehemaligen französischen Protektorats Marokko steht im Halbfinale der Fussball-WM der Elf des ehemaligen Kolonialherrn gegenüber. Die Begegnung gilt als «Spiel für die Geschichte».
Seit Samstagnacht, als sich Frankreich zum siebten Mal für ein WM- oder EM-Halbfinale qualifiziert hatte, überschlagen sich hier wie dort die Emotionen. Sie werden heute Nacht, wie immer das Halbfinal-Ergebnis zwischen Frankreich und Marokko auch lauten wird, den Höhepunkt erreichen nach einem Spiel, das mit Symbolen und der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts regelrecht überladen ist.
Besonnene Zeitgenossen versuchen vorab zu beschwichtigen und betonen, bei dem Match heute Abend stünden sich schliesslich die Teams zweier befreundeter Nationen gegenüber, Nationen die eine lange gemeinsame Geschichte hätten und eng miteinander verwoben seien, und alles werde bestens verlaufen. Eine wahrscheinlich etwas blauäugige Einschätzung.
Denn gleichzeitig forderte etwa die Bürgermeisterin des 8. Pariser Arrondissements gestern morgen bereits, die Champs Élysées, wo traditionell die Fussballfeste mit hupenden Autokorsos und siegestrunkenen Anhängern gefeiert werden, müssten heute Abend für Passanten und Verkehr vollständig gesperrt werden.
Und natürlich haben sich Politiker der extremen Rechten die Gelegenheit nicht nehmen lassen, sich nach der Qualifikation Marokkos über die feiernden marokkanischen Fans in Frankreichs Städten zu empören, und beispielsweise getönt, die Herrschaften sollten sich gefälligst entscheiden, ob sie Franzosen oder Marokkaner seien. Als wäre das so einfach.
Gewiss, es waren Freudenfeiern, bei denen es auch zu Ausschreitungen kam. Selbst in einer Kleinstadt wie Montélimar sind die Ordnungskräfte nach der Qualifikation Marokkos für das Halbfinale von 500 feiernden Fans mit Steinen und Feuerwerkskörpern empfangen worden. Gleichzeitig konnte man in Paris junge Frauen sehen, die ihr Gesicht in den französischen Nationalfarben bemalt hatten und in den Farben der marokkanischen Nationalelf gekleidet waren.
Der Rechtsausleger in Macrons Regierung, Innenminister Darmarin, hat gestern Abend noch schnell verkündet, allein in Paris würden heute 5’000 Polizisten für Ordnung sorgen, und – was ein deutlicher Fingerzeig in Richtung der Vorstädte der französischen Kapitale und ihrer Bewohner ist – man werde Zufahrten zur Ringautobahn und mehrere Stationen der S-Bahnlinien schliessen. Was für die Bürger dort, häufig nord- und schwarzafrikanischer Herkunft, auch als Provokation empfunden werden kann.
Es knistert also vor Spannung und Beunruhigung. Zu sagen, was da heute Abend ab 20 Uhr 5’000 Kilometer weiter östlich geschieht, sei doch nur ein Fussballspiel, ist leider etwas naiv.
Marokko steht für einen Kontinent
Denn Frankreich und seine Nationalmannschaft haben es heute Abend nicht nur einfach mit Marokko zu tun, was alleine auch schon schwer genug wäre. Ein Team, das nacheinander den Weltmeister von 2010 und den Europameister von 2016 aus dem Wettbewerb geworfen hat, hat es nicht zufällig ins Halbfinale geschafft.
Nein, Marokko steht heute Abend für einen ganzen Kontinent, für Afrika. Marokkos Trainer, Walid Regragui, formulierte es nach dem historischen Einzug ins Halbfinale so: «Wir haben für Afrika Geschichte geschrieben.»
Und gerade auch vor Ort in Katar war die Stellvertreterrolle Marokkos von Spiel zu Spiel deutlicher geworden: Die Stadien standen eindeutig und lautstark hinter der Elf aus Nordafrika und letztlich waren sowohl Marokkos Achtel- als auch der Viertelfinalsieg ein Sieg Afrikas gegen Europa. Da mischte sich Freude mit einer gehörigen Portion Stolz. Schliesslich hatte man die Mannschaften von zwei Kolonialmächten besiegt.
Und nicht zu vergessen: Auch die Fans aus der arabisch-muslimischen Welt haben in Marokkos Mannschaft ihre neuen Helden gefunden. Nicht ganz zufällig tauchten bei den Spielen der «Löwen des Atlas» auch immer wieder palästinensische Fahnen auf.
Kolonialismus und Immigration
Wenn man so will, spielt am heutigen Abend auch ein ganzes Stück Kolonial- und Immigrationsgeschichte mit in diesem Halbfinale zwischen Frankreich und Marokko.
So weiss jeder marokkanische Fan wahrscheinlich, dass Marokko zwischen 1912 und 1956 unter französischem Protektorat stand. Und wahrscheinlich auch, dass im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zusammen weit über 100’000 Marokkaner für Frankreich gekämpft haben und abertausende von ihnen dabei ums Leben kamen.
Gleichzeitig hat heute fast jede marokkanische Familie ein Mitglied, das irgendwo im Ausland lebt, viele von ihnen in Frankreich.
Rund 1,5 Millionen Marokkaner der ersten, zweiten oder dritten Generation leben in Frankreich, hunderttausende unter den Jüngeren sind in Frankreich geboren und somit Franzosen und haben die doppelte Staatsangehörigkeit.
Dasselbe gilt auch für die marokkanische Nationalmannschaft. Über die Hälfte ihrer Spieler wurde nicht in Marokko, sondern im Ausland geboren, in Kanada, in Belgien, in den Niederlanden, in Spanien, Italien oder in Frankreich. Selbst der Trainer Marokkos, der von seinem Land derzeit auf Armen getragen wird, ist in einem südöstlichen Vorort von Paris aufgewachsen und hat seine Spieler- und Trainerkarriere hauptsächlich in Frankreich absolviert.
Die «Löwen des Atlas» sind eine Mannschaft, die in gewisser Weise für die Globalisierung und für ein, bei allen konservativen und restriktiven Zügen, modernes Marokko steht. Viele ihrer Mitglieder sind mehrsprachig und in der Lage, zwischen Arabisch, Spanisch, Französisch oder Englisch hin und her zu springen.
Auf der anderen Seite die Équipe tricolore. Frankreichs Nationalelf beherbergt Spieler, deren Eltern ihre Wurzeln auf den Antillen, im Kongo, in Angola, Guinea-Bissau, in Benin oder in Mali haben. Der Vater von Superstar Kylian Mbappé kommt aus Kamerun, seine Mutter hat Eltern aus Algerien. Es ist, als würde sich in der Zusammensetzung der französischen Nationalmannschaft die Geschichte Frankreichs und seiner Beziehungen zu Afrika und zu seiner kolonialen Vergangenheit fortsetzen. «Diese Geschichte», so der Historiker Pascal Blanchard in einem Meinungsbeitrag der Tageszeitung «Libération», «wird in diesem historischen Match am Mittwochabend allgegenwärtig sein.»
Und ein sehr persönliches Dilemma steht zwei Kontrahenten auf entgegengesetzten Seiten bei diesem Match auch noch bevor. Frankreichs Wirbelwind und Superstar Kylian Mbappé stürmt und dribbelt auf dem offensiven linken Flügel der Franzosen. Auf dem rechten Flügel der Marokkaner spielt in der Defensive mit Achran Hakimi einer der derzeit besten Rechtsverteidiger im europäischen Fussball.
Mbappé und Hakimi spielen das Jahr über beide beim von Katar finanzierten französischen Hauptstadtclub Paris Saint-Germain. Und nicht nur das. Seit anderthalb Jahren sind sie die dicksten Freunde und verbringen, so heisst es, einen Grossteil ihrer Freizeit gemeinsam. Heute Abend liefern sie sich ein Duell der ganz besonderen Art.
Sogar Schriftsteller mischen sich ein
In der Tat hat sich selbst die franko-marokkanische Schriftstellerin und Goncourt-Preisträgerin Leila Slimani, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des marokkanischen Fussballverbandes in den 70er-Jahren, zu einem Interview in der Wochenzeitung «Journal du Dimanche» hinreissen lassen, das unter dem Titel erschien: «Vive le Maroc!». Die Bestsellerautorin beteuerte darin: «Marokko ist die Mannschaft meines Herzens, aber ich wäre glücklich, wenn Frankreich gewinnt.»
Und selbst ihr franco-marokkanischer Schriftstellerkollege und Erfolgsautor Tahar Ben Jelloun, im Gegensatz zur fussballbegeisterten Leila Slimani ein Fussballbanause – sie erinnert sich noch, wie sie als Fünfjährige Marokkos Niederlage gegen Deutschland im Achtelfinale bei der WM 1986 erlebt hatte –, sogar er hat sich zu einer Kolumne in «Le Monde» aufgeschwungen. Da schreibt er doch tatsächlich, in seinem Leben habe es zwei historische Momente von absoluter Bedeutung gegeben: zum einen die Rückkehr von König Mohammed V. nach Marokko am 16. November 1956, welche die Unabhängigkeit des Landes einläutete – Ben Jelloun war damals erst 9 Jahre alt – und andererseits eben die Qualifikation der «Löwen des Atlas» am 10. Dezember 2022 für das Halbfinale bei dieser Fussball-WM in Katar. Um schliesslich in den fast rührenden Sätzen zu gipfeln: «Ich bin nach dem Spiel mit Freunden auf die Küstenpromenade in Casablanca gegangen. Wir waren zu Fuss und hielten die marokkanische Fahne in unseren Händen, wir waren verrückt vor Freude, die Glückstränen rollten und unser Stolz verlieh uns eine Energie, die wir so nicht erwartet hätten.»
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Präsident Macron von allen guten Geistern verlassen war, als er jüngst postulierte, man solle gefälligst Sport und Politik nicht vermischen, dann ist der gesamte Kontext dieser Halbfinalpartie heute Abend das schlagende Beispiel. Politischer und historisch aufgeladener als diese Begegnung zwischen Marokko und Frankreich kann ein Match bei einer WM kaum sein.
Frankreichs Präsident, der heute zum Halbfinale vor Ort erscheinen wird und Katar – siehe die wirtschaftlichen Verflechtungen und die Gaslieferungen – natürlich nicht boykottiert, hätte sich vergangene Woche wohl besser auf die Zunge gebissen.
Á propos Präsident. Wie wird wohl derjenige, der 2017 wahrscheinlich an Macrons Stelle französischer Präsident geworden wäre, den heutigen französisch-marokkanischen Fussballabend erleben? Die Rede ist von Dominique Strauss-Kahn, einem ganz besonderen Franco-Marokkaner.
Nach seinen Sexskandalen, seiner Verhaftung und den Prozessen in New York und später in Lille, die er letztlich ohne verurteilt zu werden überstanden hat, hat sich der Ex-Chef des Weltwährungsfonds in das Land verzogen, in dem er einst das Licht der Welt erblickt hatte: nach Marokko. Dort hat er 2013 eine Beraterfirma gegründet und danach mit Russland, China und alten afrikanischen Potentaten Millionen verdient.
Und seit 2019 besitzt er sogar die marokkanische Staatsbürgerschaft. Er ist sozusagen ein Doppelstaatsbürger der Luxusklasse.
Wird Strauss-Kahn das Spiel heute Abend in seinem Palast in Marrakesch verfolgen oder vielleicht sogar vor Ort am Persischen Golf? Schliesslich hat der geschäftstüchtige Expolitiker 2018 den Sitz seiner Beraterfirma von der Freihandelszone in Casablanca in das Steuerparadies Ras-al-Khaimah verlegt, eines der besonders diskreten Vereinigten Arabischen Emirate, nur ein Katzensprung von Katar entfernt.
Katargate vor dem WM-Finale
Ein historisches Spiel steht also heute bevor bei dieser Weltmeisterschaft in der Wüste Katars, welche laut dem zwielichtigen Fifa-Präsidenten Gianni Infantino ohnehin die beste Fusssball-WM aller Zeiten gewesen sein wird.
Katar und seine Potentaten werden sich am Ende sonnen dürfen im Ruhm, zum ersten Mal eine Fussball-Weltmeisterschaft in der «arabischen Welt», wie man in Doha immer wieder betont, an Land gezogen und über die Bühne gebracht zu haben.
Dumm nur, dass ausgerechnet während der Schlussphase dieser hochgesicherten und durchorganisierten Fussball-WM, die ausserhalb der Stadien ohne nennenswerte Feststimmung abläuft, im Europaparlament zu Brüssel plötzlich das sogenannte «Katargate» ausgebrochen ist, ganz so, als hätten die Bestechungsvorwürfe gegen das Golf-Emirat nach der obskuren Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaft an Katar vor zwölf Jahren noch nicht ausgereicht.
Ein ehemaliger EU-Parlamentarier und Gewerkschafter, ferner parlamentarische Assistenten und eine der 14 Vizepräsidenten oder Vizepräsidentinnen des Europaparlaments befinden sich seit 48 Stunden hinter Gittern. Die belgische Polizei hatte bei Hausdurchsuchungen mehrere hundertausend, wenn nicht ein paar Millionen Euro in bar, in Plastiksäcken und Koffern gehortet, beschlagnahmt. Eine gerichtliche Untersuchung war eingeleitet worden, weil ein Golfstaat in den letzten Jahren versucht haben soll, auf Entscheidungen des Europaparlaments Einfluss zu nehmen, respektive dafür zu sorgen, dass bei der EU für diesen Golfstaat gut Wind gemacht und das Image aufgebessert wird. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei diesem Staat eben just um Katar handeln könnte.
Die Herrscher dieses Landes mit gerade mal 300’000 einheimischen Bürgern funktionieren ganz offensichtlich nach dem Motto, dass man mit genügend Geld im Grunde einfach alles kaufen kann.
Dazu gehört auch die Devise Katars, man werde durch die Veranstaltung von Sportereignissen, die weltweites Interesse erregen, mit Hilfe von Milliarden, die nicht zuletzt für aggressives Lobbying und handfeste Bestechungen im höheren Interesse des Gasemirats dienen, mittelfristig über mehr und mehr Softpower verfügen. Und gleichzeitig durch internationale Kontakte und Milliardenbeteiligungen an weltweit agierenden Grosskonzernen sich als Zwergstaat vor den ungemütlichen Nachbarn Bahrein, Saudi-Arabien und den Vereinten Arabischen Emiraten zu schützen. Dies alles besonders für die Zeit, wenn jene Flüssiggasreserven, für die westliche Länder gerade zu Kreuze kriechen, einmal versiegt sein werden.