Was soll das? Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Die Fussball-WM mitten in die glutheisse Wüste zu setzen, in einen Zwergstaat, kaum grösser als Korsika, ohne jede Fussballkultur oder -begeisterung? Versteht der verantwortliche Vergeber, die FIFA, eigentlich etwas von diesem Sport und seinen Fans auf der ganzen Welt oder nur etwas vom Geld? Diese Fussball-WM 2022? Im Grunde eine einzige Schande.
Keine Frage: Die Austragung dieser Winter-WM des Fussballs ist schlicht hirnrissig und die Verantwortlichen für dieses sportpolitische Desaster, was Umwelt, Nachhaltigkeit und Menschenrechte angeht, sprich die Funktionäre der FIFA, sie sind mit der Entscheidung, Katar diese WM zuzusprechen, endgültig in Absurdistan angekommen.
Der Weltfussballverband FIFA hat mit dieser Entscheidung, mit deren Begleiterscheinungen und mit dem Festhalten am Beschluss, die WM nach Katar zu vergeben und dies über lange zwölf Jahre hinweg und gegen alle Kritik, den letzten Hauch von Glaubwürdigkeit verloren.
Denn noch nie in der Fussball-WM-Geschichte war die Kritik am Austragungsland im Vorfeld so heftig wie jetzt im Fall von Katar. Es sei denn 1978 gegen die WM in Argentinien unter der Diktatur der Generäle. Doch Kritik und Boykottaufrufe hatten auch damals letztlich nicht nur nichts genützt, sondern Argentiniens Nationalteam wurde, wie zum Hohn, auch noch Weltmeister. Im Fall von Katar dürfte das allerdings unwahrscheinlich sein.
Katar – das Land der Ausländer
Am kommenden 2. Dezember 2022, mitten während dieser am Sonntag beginnenden 22. Fussballweltmeisterschaft könnte man gleich 12 Adventskerzen anzünden, um dem Tag zu gedenken, an dem diese absurde Veranstaltung vor exakt zwölf Jahren das Licht der Welt erblickt und der ganze Irrsinn dieser Fussballweltmeisterschaft im hoch temperierten Liliputstaat mit den grössten Gasreserven der Welt seinen Lauf genommen hat. In diesem Kleinstaat, der knapp drei Millionen Einwohner zählt, von denen aber gerade mal zehn Prozent katarische Staatsbürger sind .
Die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung sind zum Kleinteil europäische oder amerikanische Expatriierte, die dort gut bezahlte Jobs oder ein Unternehmen gegründet haben – zum Beispiel leben und arbeiten derzeit rund 5’000 Franzosen in Katar.
Zum ganz grossen Teil handelt es sich bei den 90 Prozent Ausländern an der Gesamtbevölkerung Katars jedoch um Inder (600’000) oder Nepalesen (440’000), um Arbeiter aus Bangladesch, von den Philippinen oder aus Kenya und dem Sudan. Sie alle sind seit Beginn der Zehnerjahre in Katar, um die Drecksarbeit zu machen, als grenzenlos ausgebeutete Arbeiter auf den gigantischen Baustellen oder als Hausangestellte der reichen Katarer. Tägliche Arbeitszeit: mindestens zwölf Stunden. Und bis vor kurzem galt auch noch, dass sie allesamt ohne Einverständnis ihres katarischen Arbeitgebers den Job nicht wechseln, respektive das Land nicht wieder verlassen durften, was sie auch nicht gekonnt hätten, da man ihnen bei Arbeitsantritt regelmässig den Pass abnahm. Hunderttausende haben diese moderne Form der Sklavenhalterei ein ganzes Jahrzehnt lang auf den Megabaustellen des Emirats und in ihren weit abgelegenen, mehr als kargen Unterkünften im Niemandsland der Wüste ertragen müssen. 2017 wurde dieses System zwar offiziell abgeschafft, de facto existierte es drei Jahre später aber immer noch.
Die FIFA und der Korruptionsverdacht
Am berüchtigten 2. Dezember 2010 stand damals ein etwas erzwungen lächelnder Sepp Blatter auf dem Podium des FIFA-Kongresses in Zürich und hielt ein bedrucktes Blatt hoch, auf dem die fünf Buchstaben KATAR zu lesen waren . Das Unwahrscheinliche war wahr geworden: Der Zwergstaat am persischen Golf hatte sich mit 14 zu 8 Stimmen gegen die USA als Ausrichter der WM 2022 durchgesetzt, nachdem man kurz zuvor bei dieser ungewöhnlichen Doppelabstimmung einem anderen, illiberalen Staat, nämlich Russland, die WM 2018 überlassen hatte.
Die Fachwelt war konsterniert, ja geschockt. Viele wollten es einfach nicht glauben und alle fragten sich, wie dieses Wahlergebnis überhaupt zustande kommen konnte.
Der Fussball bewege sich nun eben auf neuem Boden und auf neuen Wegen, konterte der damalige FIFA-Chef, Sepp Blatter. Ein Argument, das gegen die jahrelang andauernde Kritik an dieser WM-Vergabe von den FIFA-Funktionären in ihrem prominent, hoch über dem Zürichsee gelegenen Machtzentrum immer wieder hervorgekramt wurde, um diese hanebüchene Entscheidung zu rechtfertigen. Und vor allem, so hiess es weiter, wäre es eben einfach an der Zeit gewesen, dass eine Fussball-WM auch einmal in einem muslimischen Land in der arabischen Welt ausgetragen werde.
Ein etwas dürftiges Argument, um zu begründen, dass man deswegen ausgerechnet das Zwergemirat Katar gewählt hatte. Marokko, Algerien, Tunesien oder Ägypten wären, denkt man Fussball, Alternativen gewesen, allerdings eben mit weit geringeren Mitteln, als der unverschämt reiche Golfstaat Katar aufzubringen in der Lage ist.
Rund 200 Milliarden Euro sollen sich die Machthaber in Doha diese WM-Inszenierung haben kosten lassen, mit dem im Vorfeld nicht sehr erklecklichen Ergebnis, dass es Kritik von allen Seiten am Veranstalterland dieser WM hagelt.
In diesem eher tristen Kontext kam jetzt Sepp Blatter, von 1998 an 17 Jahre lang der Herr über den Weltfussbal, wenige Wochen vor WM-Beginn lamentierend daher und betonte, es sei schlicht ein Fehler gewesen, diese WM an Katar zu vergeben! Ja, bitteschön, wer ist mit Hilfe von Katar 1998 FIFA-Chef geworden? Und wer hat zugeschaut und von allem angeblich nichts gesehen, wie da über zehn Jahre hinweg fast alle Mitglieder des 24-köpfigen Exekutivkomitees, die höchste Instanz der FIFA , bestochen haben oder sich bestechen liessen?
Denn eines ist sicher: Von diesen damaligen 24 Mitgliedern des Exekutivkomitees, die am 2. Dezember 2010 über die WM Vergabe an Katar abgestimmt haben, sind inzwischen 22 entweder schwer belastet oder der Korruption überführt oder aber auf Jahre hinaus, wenn nicht sogar lebenslang, für alle Ämter und Funktionen im Fussball gesperrt.
Der Macher Bin Hamman
Allen voran der ehemalige Vertreter Katars bei der FIFA, Mohamed Bin Hamman, der bei der Einfädelung der Kandidatur des Emirats allseits präsent war, seit Anfang der Nuller-Jahre schon an allen Ecken und Enden geschmiert hat .
Warum überhaupt aber, so darf man sich fragen, hat unter den 211 Mitgliedsstaaten der FIFA ausgerechnet ein steinreicher Grossunternehmer und Vertrauter des Emirs aus Katar schon Ende der 90-er Jahre einen der 24 erlauchten Plätze im Exekutivkomitee der FIFA bekommen, welches ja letztendlich über die Vergabe der Weltmeisterschaften entscheidet ?
Angeblich weil Bin Hamman es war, der 1996 der FIFA eine Juniorenweltmeisterschaft gerettet hat, die wegen eines Ebola-Ausbruchs nicht mehr, wie geplant, in Nigeria stattfinden konnte. Bin Hamman hatte Katar von heute auf morgen als Veranstalterland angeboten und diese Junioren-WM zur vollen Zufriedenheit der FIFA über die Bühne gebracht.
Blatters grosszügiger Wahlhelfer
Zwei Jahre später, 1998, mauserte sich Mohammed Bin Hamman dann, ebenfalls mit Erfolg, zum grosszügigen Wahlhelfer für Sepp Blatter beim Kampf um die FIFA-Präsidentschaft gegen den damaligen UEFA Präsidenten, Lennart Johannson.
Mit Bin Hammans Privatjet flog Blatter auf Stimmenfang durch Afrika, Asien und in den Pazifik, dorthin wo das Gros der Stimmen für eine Präsidentschaftswahl bei der FIFA angesiedelt ist. Bin Hamman half bei der Blatter-Werbung tatkräftig mit, um die zahlreichen Vertreter aus den Ländern dieser drei Kontinente zu überzeugen, für den Schweizer und nicht für den Schweden zu stimmen. Mit welchen Mitteln genau ist unklar, wieviel Geld dabei geflossen ist ebenso, doch alle Experten sind sich einig: Blatter wäre ohne den inzwischen lebenslang gesperrten Katarer Bin Hamman 1998 nie FIFA-Präsident geworden .
Zehn Jahre später, 2008, haben Sepp Blatter und die FIFA-Funktionäre die Kandidatur Katars für die WM 2022 akzeptiert. Damals hiess es noch, aus sportlicher und fussballerischer Sicht sei es die schlechteste Bewerbung überhaupt gewesen. Zwei Jahre später aber war sie plötzlich die beste.
Es gibt inzwischen Indizien zuhauf, wenn auch keine gerichtsfesten Beweise, dass diese 22. Fussballweltmeisterschaft von der «unheimlichen Geldmacht Katar» ( «Der Spiegel») gekauft wurde. Mit so viel Geld, dass man z. B. den gesamten Weltfussball dazu zwingen konnte, alle seine Spielpläne über den Haufen zu werfen, damit diese WM im Winter ausgetragen werden kann, wenn die Temperaturen am Persischen Golf tagsüber nicht mehr auf bis zu 50 Grad klettern.
Eine Winter-WM in der Wüste also, bei der die in Zukunft völlig überflüssigen Fussball-Arenen aber trotzdem noch klimatisiert werden müssen und die dafür nötige Energie gnadenlos in den Wüstenhimmel gejagt wird. Auch dieser Tage bewegt sich das Thermometer, selbst nach Sonnenuntergang, noch bei 30 Grad – und das bei extremer Schwüle .
Wie auch immer: Während in Katar an diesem 20. November erstmals der WM-Ball rollen wird, ermitteln Gerichte in Frankreich, in den USA und in der Schweiz weiter in Sachen Korruption und anderer Vergehen bei der Vergabe dieser viel gescholtenen Fussball-WM. Ein Unikum in der Geschichte der Fussballweltmeisterschaften.
Das Lügen und Sich-Winden der Offiziellen
Die Machthabenden und hohen Funktionäre in Katar, wenn sie denn einmal den Mund aufmachen, lügen entweder wie gedruckt, produzieren leere Floskeln oder sagen haarsträubende Dinge, wie erst jüngst der WM-Botschafter des Gastlandes, welcher Homosexualität als Geisteskrankheit bezeichnete, die zudem «haram» sei, also von Gott verboten.
Nehmen wir nur die Todesfälle auf den Riesenbaustellen für diese WM im Lauf des letzten Jahrzehnts. Rund 6’500 Arbeiter aus Nepal, Bangladesch, Indien und den Philippinen sowie aus Kenia oder dem Sudan sollen laut einer Recherche der britischen Tageszeitung «The Guardian» bei Arbeitsunfällen im Lauf der Jahre ums Leben gekommen sein. Laut der Offiziellen des Emirats sind es aber nur ganze 37 gewesen. Dabei ist zumindest eines sicher: Seit Jahren fliegen z. B. auf der Strecke von Doha nach Katmandu bei jedem Flug Särge mit, in denen sich die sterblichen Überreste von nepalesischen Arbeitern befinden. Für die Todesursache der Leichname wird meistens Herzinfarkt angegeben oder auch schlicht gar nichts. Und dies bei Männern im Alter von 25 bis 40.
Darüber hinaus klagten Tausende der ausländischen Arbeiter über Jahre hinweg, dass ihnen ihr Lohn von den katarischen Arbeitgebern seit drei, sechs oder acht Monaten einfach nicht ausbezahlt worden ist .
Die Offiziellen in Katar erwidern darauf regelmässig in süssesten Tönen, man habe in den letzten Jahren ja schliesslich zahlreiche Reformen verabschiedet, etwa den Mindestlohn von 75 Cents auf einen Euro pro Stunde erhöht und überhaupt das Arbeitsrecht verbessert. Formal stimmt das zwar, in der Realität, so dutzende Zeugen in dutzenden Reportagen, ist davon aber nichts oder fast nichts angekommen.
Die ausgebeuteten Arbeiter haben nun sogar auch eine Beschwerdestelle, für den Fall, dass sie keinen Lohn erhalten. Fast 35’000 haben allein seit Jahresbeginn von diesem neuen Recht Gebrauch gemacht, was jedoch bei weitem nicht heisst, dass sie auch ihren Lohn erhalten haben. Der Staat Katar jedenfalls hat es erst jüngst strikt abgelehnt, einen Entschädigungsfonds für all die nicht bezahlten Bauarbeiter einzurichten. Als hätte er ein schlechtes Gewissen, hat daraufhin ausgerechnet Sepp Blatter gefordert, die FIFA solle diesen Part übernehmen und einen Fonds zur Verfügung stellen, der den Prämien entspreche, die die Spieler der 32 WM-Teilnehmer erhalten werden – insgesamt rund 400 Millionen Euro.
Gleichzeitig hat es Katar aber immerhin geschafft, dass dieses Argument der verabschiedeten Reformen inzwischen durchaus auch von allen möglichen Fussballfunktionären, von manchen Politikern oder auch Journalisten übernommen wurde, nach dem Motto; Sehen sie nur, was der Fussball doch bewegen kann. Bayern München Chef Oliver Kahn etwa hat sich dieses Argument zu eigen gemacht. Aus seiner Sicht ist die Austragung der WM für die Entwicklung von Katar positiver, als wenn das Land die WM nicht bekommen hätte.
Kein Bier
Sich Winden und am Ende das Versprochene widerrufen – wen wundert es letztlich – erlebt man von katarischer Seite kurz vor WM-Beginn auch beim Thema Alkohol. Im Prinzip war vereinbart, dass zumindest Bier rund um die Stadien drei Stunden vor Spielbeginn und anderthalb Stunden nach Spielende ausgeschenkt werden dürfe. Doch keine 48 Stunden vor dem offiziellen Beginn der WM kam dann der Ukas: nichts mit Biertrinken, den Becher für 13 Euro, die Familie von His Highness zu Katar wünsche das dann doch nicht. Weniger nobel formuliert: Auf Geheiss der Familie des Emirs wird das verboten.
Und die FIFA, der Veranstalter? Sie zieht ehrerbietig den Schwanz ein, auch wenn einer ihrer ganz grossen Sponsoren, ein amerikanischer Bierbrauer, der 75 Millionen Dollar in diese WM gepumpt hat und die Exklusivität beim Bierausschank hat, ganz und gar nicht «amused » ist.
Ein Horror für die Sponsoren
Man fragt sich bei dieser Gelegenheit, warum FIFA-Chef, Gianni Infantino, eigentlich – entgegen aller Gewohnheiten seiner Vorgänger – sogar seinen Wohnsitz ein Jahr vor WM-Beginn nach Katar verlegt hatte. Wenn nicht aus irgendwelchen dunklen Gründen, so doch wohl, um für einen relativ reibungslosen Ablauf der Ereignisse vor und während der WM zu sorgen. Und da hat er diese Panne in letzter Sekunde nicht kommen sehen und sie nicht verhindern können? Vielleicht wird er sich ja mit den Worten von General De Gaulle herausreden, wonach der Orient nun mal kompliziert sei.
Und überhaupt die Sponsoren. Fast sind sie zu beklagen. Sie geben Millionen aus für ein Grossereignis, das inzwischen aber so umstritten ist und derart in der Kritik steht , dass man sich bei dieser WM so klein und diskret wie möglich macht, damit das Sponsoring zumindest nicht negative Ergebnisse bringt und die jeweilige Marke nicht in den Geruch kommt, ein Land zu unterstützen, das Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt und Hunderttausende Arbeiter aus anderen Ländern skrupellos ausgebeutet hat.
Die elf Sponsoren des amtierenden Weltmeisters Frankreich jedenfalls haben allesamt beschlossen, bei dieser WM auf absolute Sparflamme zu setzen und z. B. niemanden aus der jeweiligen Firma nach Katar zu schicken. Die Bank «Credit Agricole», mit acht Millionen einer der Grosssponsoren des Französischen Fussballverbandes, hat seinen Mitarbeitern sogar ausdrücklich untersagt, eine Einladung nach Katar, von wem auch immer, anzunehmen. Die Sponsoren veranstalten in Katar rund um die WM keinerlei Events, verschicken keine Einladungen in die Stadionlogen aus, verteilen kein einziges Flug- oder Eintrittsticket an VIP-Kunden ihrer jeweiligen Firma .
Fernsehschauen oder nicht ?
Der Gedanke daran, die Spiele dieser WM im Fernsehen zu verfolgen, erinnert einen ein wenig an das merkwürdig laue Gefühl im Bauch, wenn man in den letzten Jahren weiter die Tour de France verfolgte – trotz Festinaskandal vor bald 25 Jahren, trotz des zynischen Killertypen und notorischen Lügners Lance Armstrong und trotz Björne Riss, dem so genannten «Mister 60 Prozent» (die Rede ist von roten Blutkörperchen, 10 Prozent zu viel durch EPO) und trotz des tristen Falls von Jan Ullrich. Man glaubt eigentlich nicht mehr wirklich an das, was man da sieht, und doch ist ein gewisses Interesse noch da. Nun, bei dieser im Grunde skandalösen Vorgeschichte der Fussball-WM 2022 wird man wohl erneut ein etwas merkwürdiges Gefühl im Bauch verspüren angesichts der haarsträubenden Begleitumstände dieses weltweit zweitgrössten Sportereignisses, wo man vor Ort auf ein richtiges Fussballfest mit ziemlicher Sicherheit vergeblich warten wird .
In Frankreich – wie in zahlreichen anderen Ländern – haben die meisten Grossstädte, einschliesslich Paris, jedes Public-Viewing gestrichen und auch zahlreiche Bistrots und Gastwirtschaften wollen auf WM-Übertragungen verzichten. Wie viele dann letztlich zu Hause auf die WM-Glotze verzichten, wird man an den Einschaltziffern ablesen können. In Deutschland sollen es laut einer Umfrage dieser Woche 70 Prozent sein, die dem Platz vor dem Fernseher bei WM-Übertragungen fernbleiben wollen. Man wird sehen.
Boykott?
Alles Gerede vom Boykott dieser WM, das erst in den letzten Wochen und Monaten zu hören war, ist zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nur noch ein Witz. Sage und schreibe zwölf Jahre hätte man Zeit gehabt, um einen echten Boykott zu organisieren. Doch ist in dieser langen Zeit irgendjemand aufgestanden, ein wichtiger Funktionär, ein paar namhafte Politiker mit einer gewissen Macht, der eine oder andere grosse nationale Fussballverband, um im Laufe eines ganzen Jahrzehnts laut und deutlich zu sagen: Basta, das kann und das darf nicht sein, eine WM zu veranstalten in einem Land, wo moderne Sklaverei herrscht, Homosexualität bestraft wird und Frauen offen diskriminiert werden? Ganz zu schweigen von dem ökologischen Unsinn, sieben neue und klimatisierte Stadien zu bauen, die nach der WM zu nichts mehr Nutze sein werden. Nichts geschah, Fehlanzeige. Folglich ist das Gerede vom Boykott, das erst im Lauf der letzten Wochen und Monate vor dem WM-Anpfiff in Gang kam, nicht mehr als schlichte Heuchelei.
Der Staat Katar und seine diversen Dienste hingegen haben derweil alles und noch mehr getan, um die so sehr kritisierte Austragung der Fussballweltmeisterschaft im Land zu behalten und gegen Kritik zu verteidigen. Wie erst jüngst bekannt wurde, hat der autoritäre Wüstenstaat die Dienste eines amerikanischen Unternehmens mit ehemaligen CIA-Mitarbeitern in Anspruch genommen, um Gegner der Katar -WM in zahlreichen Ländern mit Geheimdienstmethoden auszuspionieren oder sogar unter Druck zu setzen. Angeblich hat sich Katar diese Jahre dauernden Bespitzelungen rund 380 Millionen Euro kosten lassen .
Wie sich vor Ort verhalten?
Und jetzt, da der der Ball dieser Skandal-WM bald rollen wird, was sagen eigentlich die nationalen Fussballverbände zu dieser Weltmeisterschaft von einem anderen Stern, und die Spieler, vor allem die Weltstars, die sonst bei jeder Gelegenheit auf den sozialen Netzwerken tönen, wo sie Abermillionen Follower haben? Hat irgendjemand etwas von Messi, Neymar, Ronaldo, von Mbappé oder Benzema gehört zum Thema Menschenrechte, unwürdige Arbeitsbedingungen für all die modernen Sklaven, die in den letzten zehn Jahren in Katar die sieben Stadien, mehr als hundert Hotels oder die Metro gebaut haben und zu den Tausenden, die dabei verunglückt und gestorben sind? Nichts sagen sie, weitere Fehlanzeige.
Der dänische Fussballverband zumindest hat sich höflich an die FIFA gewandt und um Erlaubnis gebeten, zumindest im Training vor Ort Trikots tragen zu dürfen mit der Aufschrift «Menschenrechte für alle». Schön naiv. Natürlich hat die FIFA ihnen das verboten.
Wie sagte doch der unselige Nachfolger des unseligen Sepp Blatter, Gianni Infantino, dieser Tage? Er betonte, als wende er sich an Primärschüler, die qualifizierten Teams möchten sich nun gefälligst auf den Fussball konzentrieren und der Fussball dürfe nicht in die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen hineingezogen werden, die auf dieser Welt existieren. Die FIFA versuche, alle Meinungen und Glaubensrichtungen zu respektieren, ohne dem Rest der Welt Morallektionen erteilen zu wollen. Zitatende. Mit anderen Worten: Jetzt endlich den Mund halten, «the games must begin and must go on».
Macron unter Niveau
Und Infantino bekam an diesem Donnerstag doch tatsächlich auch noch Schützenhilfe vom französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, der aus dem fernen Thailand insistierte, der Fussball dürfe nicht politisiert werden, und verkündete, er selbst würde durchaus nach Katar reisen, sollte Frankreichs Nationalteam ins Halbfinale kommen.
Das sagt einer, der selbt nie gezögert hat, den Sport und den Fussball während seiner bisherigen Amtsjahre für politische Zwecke einzuspannen und sich im Ruhm des Sports zu sonnen. Nun plötzlich tut der Herr im Elysée so, als hätten Sport und Politik nie etwas Gemeinsames gehabt, wäre nicht jede Fussballweltmeisterschaft zugleich auch ein eminent politisches Ereignis und der Sport an sich nicht stets engstens mit der Politik verbunden. «Man dürfe den Sport nicht politisieren», dieses seit Jahrzehnten abgelutschte Argument, ist eines Emmanuel Macron schlicht unwürdig. Gleichzeitig ist auffallend, wie verhalten in Frankreich – abgesehen von der Presse – die Kritik an dieser WM ausgefallen ist, wie brav sich bisher der nationale Fussballverband und alle Nationalspieler – kein einziger hat den Mund aufgemacht und auch nur den Hauch einer Kritik geäussert – verhalten haben und sich jetzt selbst Präsident Macron so gibt, als dürfe man die Katarer auf keinen Fall verstimmen. Vielleicht in erster Linie, weil spätestens seit Nicolas Sarkozys Zeit als Staatspräsident die ökonomisch-politischen Verflechtungen zwischen Paris und Doha wahrlich grandiose Ausmasse angenommen haben.
Die Armbinde
Und dann wäre da ja auch noch diese Armbinde, die der Mannschaftskapitän jeder der 32 Nationalmannschaft tragen könnte. Eine Binde, die nicht wirklich in den Regenbogenfarben der LGBT-Bewegung, aber mit der Aufschrift «ONE LOVE» daherkommt.
Doch selbst da herrscht kein Konsens. Nur ein knappes Dutzend der 32 Mannschaftskapiäne, unter ihnen Harry Kane für England, Eden Hazard für Belgien oder Virgil van Dijk für die Niederlande, sowie der Kapitän der Schweizer und der Deutschen werden diese Binde am Arm haben, sofern man ihnen wenigstens das erlaubt. Denn offiziell hat sich die FIFA immer noch nicht entschieden.
Sehr wohl aber der Kapitän des amtierenden Fussballweltmeisters Frankreich, Torhüter No. 1, Hugo Lloris, gewissermassen in vorauseilendem Gehorsam.
Sich windend und windelweich und als habe er Weisung von oberster Stelle erhalten und als fürchte er, verprügelt zu werden, kurzum absolut unwohl in seiner Haut, erklärte der erprobte Profi von Tottenham Hotspurs ganz schlicht, dass er diese ominöse Kapitänsbinde nicht tragen werde, mit dem Argument, man müsse die Gastgeber respektieren und wolle anderen Ländern keine Lektionen erteilen. Damit schloss sich Lloris schlicht der Meinung des angeschlagenen und umstrittenen Präsidenten des französischen Fussballverbands, Noël Le Graet, an, der sich z. B. zwei Jahre geweigert hatte, Amnesty International oder andere NGOs zu empfangen, die sich um die Lage der Menschenrechte in Katar sorgten. Und der Kapitän der Equipe Tricolore kam mit seinem Statement Frankreichs Staatspräsidenten und dessen blamabler Äusserung, man dürfe den Sport nicht politisieren, einen Tag zuvor.
Erste Überraschungen vor Ort
In Doha selbst herrscht angeblich so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm, bislang weitgehend ohne Fans auf den Strassen, die ohnehin nicht zum Flanieren einladen. Die Veranstalter erhoffen sich bis zu einer Million Besucher. Wenn das stimmt, gibt es eine Million Menschen, die mindestens 6000 Euro aufbringen können allein für Flug, Eintrittskarten und Nächtigung. Wenn man dann erfährt, dass ein Bier – ausschliesslich in den Fanzonen, für die man wiederum Eintritt bezahlen muss – für 13 Euro und ein müdes Sandwich für 25 Euro verkauft werden, ist klar, dass noch ein paar Tausend Euro mehr nötig sind.
Man darf gespannt sein, wer diese Fans dann sind, um die Stadien zu füllen, die 40 bis 80’000 Zuschauer fassen können. Die ersten, die zu sehen waren, waren ganz offensichtlich von Katar gekaufte Laiendarsteller. Fangruppen, wie man sie noch nie gesehen hat. Jeweils eine kleine Hundertschaft von Indern, in den Trikots von Portugal, Brasilien, Argentinien und Frankreich, sind gesichtet worden, platzierten sich vor Kameras und sorgten kurze Zeit für Trubel und Lärm. Ein hilfloser Versuch, Fussballbegeisterung vorzugaukeln und ein Zeichen dafür, dass die Offiziellen in Katar vom Fussball und seinen Fans keine Ahnung haben und nicht wissen, dass sich Begeisterung einfach nicht kaufen lässt.
Und als Begrüssungsgeschenk für die Fussballfans, die sich Katar leisten können, hat das Emirat dann auch noch eine ganz besondere Überraschung parat. Jeder Einreisende ist gehalten, zwei Apps auf sein Handy zu laden – eine mit allen Infos über die WM, eine andere zum Thema Covid. Das Dumme dabei: Die französische Datenschutzbehörde CNIL hat an diesem Freitag Fussballfans, die nach Katar reisen, geraten, ihr eigentliches Handy zu Hause zu lassen und nur mit einem bislang nicht benutzten zu reisen. Beide Apps seien mit hoher Wahrscheinlichlkeit Spionageapps, die den Behörden in Katar Zugang zu allen Inhalten und persönlichen Daten ermöglichen würden.
Ein Willkommensgruss der ganz besonderen Sorte und ein echtes Anzeichen für ein lockeres und offenes Klima, das in den kommenden vier Wochen zwischen Beton, Glas, Asphalt und Sand rund um diese Fussball-WM herrschen wird .
Es geht noch schlimmer
Derweil scheint es, als seien in der Golfregion, was die Strategie der Softpower durch Sport angeht, fast alle durchgekracht. Als wolle man zeigen, dass man den Wahnsinn dieser Fussball-WM in Katar doch noch toppen kann, hat der ewige Konkurrent und ungemütliche grosse Nachbar im Westen Katars, Saudi Arabien – dieses Land, das zu 90 Prozent aus Wüste besteht – es fertiggebracht, den Zuschlag zu erhalten für die Austragung der asiatischen Olympischen … Winterspiele 2029.
Stattfinden sollen sie in einer wüstenähnlichen Bergregion im Nordwesten des Landes, unweit des Roten Meers, wo es praktisch nie schneit. Dort will der Herrscher in Riad eine neue Stadt für 500 Milliarden Euro aus dem Boden stampfen lassen, in welcher mittelfristig Platz für neun Millionen Menschen sein soll und in deren Umgebung in sieben Jahren unter anderem Ski gesprungen, gelaufen und gefahren werden soll. Da bleibt eigentlich nur noch zu sagen: «Na dann, gut Schuss!»
Teil 2 folgt: Frankreich, Katar und die FIFA – die dunkle Vorgeschichte der
WM-Vergabe