In seinem Buch «Bloodlands» dokumentiert der Yale-Professor Timothy Snyder die Gräueltaten Hitlers und Stalins im Baltikum, in Polen, in Weissrussland, in der Sowjetunion und in der Ukraine. Wladimir Putin fügt dieser mörderischen Geschichte gerade ein blutbeflecktes Kapitel hinzu. Die Ängste und Heimsuchungen der Menschen wiederholen sich im Laufe der Geschichte immer wieder. Eine nicht enden wollende Tragödie?
Eine Tatsache, die zumindest auf den ersten Blick überraschend, ja erstaunlich klingt: Nicht in den Konzentrationslagern Polens sind im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren davor am meisten Menschen ermordet worden, sondern in den Bloodlands, in denen Hitlers und Stalins Mörderbanden mehr Menschen erschiessen und verhungern liessen als in Auschwitz, Sobibor, Maidanek, Belzec und Treblinka. (Die polnischen, ukrainischen, deutschen und russischen Kriegstoten bleiben bei dieser grauenhaften Statistik freilich noch unberücksichtigt.)
In seinem Buch «Bloodlands» schreibt Timothy Snyder: «Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjetregime in der Mitte des 20. Jahrhunderts vierzehn Millionen Menschen. Der Ort, wo alle Opfer starben, die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschliesslich der Ukraine, Weissrusslands und der baltischen Staaten.» Von 1933 bis 1945 habe die Region «Massengewalt in einem historisch beispiellosen Ausmass» erlebt. Die Opfer seien Juden, Weissrussen, Ukrainer, Polen, Russen und Balten gewesen. Unter den vierzehn Millionen Ermordeten in den Bloodlands sei kein einziger aktiver Soldat gewesen. Die meisten Opfer seien Frauen, Kinder und Alte gewesen, alle unbewaffnet.
Stalins Holodomor
Stalin wollte sein überwiegend agrarisch geprägtes Land mit aller Gewalt industrialisieren und – um in seinem Sinne eine egalitäre Gesellschaft zu schaffen – die Grossbauern, die Kulaken, ausrotten. Dafür nahm er eine grosse Hungersnot nicht nur in Kauf, er liess vielmehr bewusst Millionen Menschen in der Ukraine, der Kornkammer nicht nur der Sowjetunion, verhungern.
Timothy Snyder schreibt, das Jahr 1933, der Höhepunkt der Hungersnot, sei nicht nur in den sowjetischen Städten «ein Jahr des Hungers» gewesen. «In den ukrainischen Grossstädten Charkow, Kiew, Stalino und Dnjepopetrowsk warteten jeden Tag Hundertausende auf einen Laib Brot.»
Die Menschen hätten sich bereits um zwei Uhr morgens vor den Geschäften angestellt, Etwa 40’000 Hungernde hätten pro Tag vor den Bäckereien ausgeharrt. Um nicht zu kollabieren, hätten sich viele mit Gürteln an den vor ihnen Stehenden festgezurrt. Das Warten habe manchmal bis zu zwei Tage gedauert. Augenzeugen hätten Skelette am Strassenrand gesehen. Ein Kind, das sich an die Spitze der vor einem Laden Wartenden geschmuggelt habe, sei vom Ladenbesitzer erschossen worden, denn für Kinder sei das Betteln verboten worden.
«In den ukrainischen Städten», schreibt Timothy Snyder, «wurden jeden Tag mehrere Hundert Kinder festgenommen (…) An jedem beliebigen Tag warteten etwa 20’000 Kinder in den Kasernen der Stadt auf den Tod. Die Kinder baten die Polizisten, wenigstens im Freien verhungern zu dürfen.» Der Hunger in der Ukraine, schreibt Timothy Snyder weiter, sei in den Städten der Ukraine viel schlimmer gewesen als in allen Städten der westlichen Welt. 1933 seien mehrere Zehntausend ukrainische Städter verhungert.
Hungerwaffe der Wehrmacht
Über diesen Holodomor – Tötung durch Hunger – in der Ukraine heisst es bei Wikipedia: «Nach Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die im November 2008 veröffentlicht wurden, betrug die Opferzahl in der Ukraine ca. 3,5 Millionen Menschen. Eine Studie ukrainischer Demografen kam 2015 auf eine Opferzahl von ca. 4,5 Millionen Menschen, bestehend aus 3,9 Millionen direkten Opfern und 0,6 Millionen Geburtenverlusten. Andere Schätzungen gehen von 2,4 Millionen bis 7,5 Millionen Hungertoten aus. Der britische Historiker Robert Conquest bezifferte die Gesamtopferzahl auf bis zu 14,5 Millionen Menschen. Hierbei wurden neben den Hungertoten auch die Opfer der Kollektivierung und Entkulakisierung und der Geburtenverlust hinzugerechnet.»
Töten durch Hunger: Dieser grauenerregende Plan diente den nationalsozialistischen Besatzern der Ukraine offenbar als Vorbild. «Die Heeresgruppe Süd», schreibt Timothy Snyder, «hungerte Charkow und Kiew aus.» Wehrmacht und SS hätten zwar nie vorgehabt, schreibt Snyder weiter, ganz Kiew auszuhungern. Dennoch hätten die deutschen Besatzer «eine Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben» gezeigt, «die für 50’000 Menschenden Tod bedeutete». Ein Bewohner von Kiew habe im Dezember 1941 geschrieben: «Die Deutschen feiern Weihnachten, aber die Einheimischen schleichen wie Schatten umher, es herrscht bitterer Hunger.» In Charkow habe eine ähnliche Politik bis zu 20’000 Menschen getötet, unter ihnen 273 Kinder eines Waisenhauses.
Massaker an Juden
Und dann die Juden. Noch vor der Wannseekonferenz vom Januar 1942 mit ihrem Beschluss über die «Endlösung der Judenfrage» begannen die Deutschen in der Ukraine mit der systematischen Ermordung der Juden. Am 13. Oktober 1941, schreibt Timothy Snyder, seien in Dnjepropetrowsk etwa 1’200 und in Charkow am 16. Dezember 1941 etwa 10’000 Juden ermordet worden.
Das grösste Massaker an Juden verübten die Nazis in Babi Jar bei Kiew, Am 29. September 1941, einen Tag vor Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, mussten sich die Juden in Richtung des jüdischen Friedhofs begeben, dann wurden sie am Rand einer Schlucht erschossen. «36 Stunden lang kamen Juden und starben. (…) Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.» (Timothy Snyder). Insgesamt wurden an mehreren Tagen in Babi Jar etwa 33’700 Juden qualvoll ermordet.
Freilich, das gehört zur historischen Wahrheit, gab es unter den Ukrainern Nazi- Kollaborateure, etwa Stepan Bandera. Seine Milizen übernahmen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Liviv (Lemberg) Ende Juni 1941 die Polizeigewalt. Sie verübten Pogrome an den Juden. Die Miliz bereitete durch Verhaftungen die Massenerschiessung von 3’000 Juden durch die deutschen Besatzer vor, Bandera wurde nach dem Krieg in Abwesenheit in der Sowjetunion zum Tode verurteilt. Er war nach München geflohen, wo er 1959 von einem KGB-Agenten erschossen wurde.
Und jetzt Putin
Nach dem Holodomor der frühen 1930er Jahre und den Morden an der jüdischen Bevölkerung durch Nazi-Deutschland vom Sommer 1941 an wird die Ukraine nun erneut durch eine militärische Aggression heimgesucht. Diesmal fügt Wladimir Putin der grausigen Geschichte der Bloodlands ein neues menschenverachtendes Kapitel hinzu. Die Stadt Mariupol etwa wird, wie kürzlich ein Beobachter sagte, womöglich zum ukrainischen, zum europäischen Aleppo.
Doch die Ukrainer zeigen heroischen, von Putin nicht erwarteten Widerstand. Denn der Historiker Putin hat sich, wie einst sein Vorgänger Stalin, auch militärisch verrechnet. Auch Stalin stellte an einen Nachbarn Gebietsforderungen, an Finnland. Finnland lehnte ab. Stalin liess im November 1939 seine Truppen einmarschieren, diese kamen – wie heute Putins Truppen in der Ukraine – nur zögerlich voran, auch weil sich die Finnen – wie heute die Ukrainer – mit nicht erwartetem Engagement wehrten. Im März 1940 beendeten beide Parteien diesen als «Winterkrieg» in die Geschichte eingegangenen Waffengang mit einem Vertrag, in dem Finnland in Gebietsabtretungen einwilligte, nachdem ca. 70’000 Finnen ihr Leben verloren hatten. Heute ist Finnland Mitglied der EU.
Wäre die erneute Heimsuchung der Ukraine vermeidbar gewesen? Zunächst einmal: Niemand hat Russland bedroht, schon gar nicht die Ukraine. Auch stand eine Nato-Mitgliedschaft zumindest für die nächste Dekade nicht auf der politischen Tagesordnung.
Allerdings war es dem geschrumpften östlichen Imperium niemals gleichgültig, dass sich das westliche Militärbündnis an seinen Grenzen ausbreitete. Und es gab warnende Stimmen. So etwa schrieb der einstige US-Boschafter in Moskau, George F. Kennan, am 5. Februar 1997 in der New York Times, er halte die Ausdehnung der Nato für den «fatalsten Irrtum der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg». Aber: Viele osteuropäische Staaten drängten von sich aus in die Nato, allen voran Polen und die baltischen Länder Die Ukraine hat in ihrer Verfassung das Streben nach Nato-Mitgliedschaft verankert.
Heute ist die Ukraine Opfer von Putins verqueren imperialen Träumen. Seinem zurechtgezimmerten Geschichtsbild fallen Millionen Ukrainer zum Opfer – als Flüchtende, als in Bunkern ausharrende Bürger alter traditionsreicher Städte, als Soldaten und freiwillige Kämpfer. Putin führt den «Bloodlands» ein neues Kapitel hinzu. Polen nimmt in einer als geradezu heroisch zu bezeichnenden Anstrengung Hunderttausende seiner Nachbarn auf.
Vertreibungen nach 1945
Jedoch: Solche Hilfsbereitschaft ist offenbar an die jeweilige historische Situation gebunden. Nachdem zum Beispiel die Alliierten des Zweiten Weltkriegs auf Betreiben Stalins auf den Konferenzen von Teheran (1943) und Jalta (1945) beschlossen hatten, Polen, das von 1918 bis 1945 Teile der Ukraine umfasst hatte, um 250 Kilometer nach Westen zu verschieben, mussten Deutsche fliehen. Und Stalin konnte sich Gebiete Ostpolens einverleiben. Ukrainer, die sich plötzlich auf sowjetischem Staatsgebiet wiederfanden, wollten nicht unter Stalin leben. Sie flohen ins nach Westen verlagerte Polen. Doch damals wollte Polen nicht akzeptieren, dass es im Osten und Südosten ihres Landes grosse ukrainische Minderheiten gab. Daher vertrieben die Polen im Jahr 1947 etwa 148’000 in ihr Land geflüchtete Ukrainer in einer «Operation Weichsel» genannten Aktion nach Westpolen. So erreichte Polen, dass die damals unbeliebten Ukrainer gleichmässig über das Land verteilt wurden, dass es mithin keine grossen ukrainisch besiedelten Gebiete gab.
Inzwischen sind die Ukrainer integriert, die innerpolnische Umsiedlung von Ukrainern ist angesichts der Millionen von Putins Krieg vertriebenen Ukrainern eine Randnotiz der Geschichte.
Postskriptum: Kürzlich änderte das Rundfunk-Symphonieorchester Berlin sein Programm, setzte Tschaikowsky ab und spielte stattdessen den ukrainischen Komponisten Mihajlo Werbyzkyj, der auch die Nationalhymne des Landes geschrieben hat. Eine zweifelhafte Massnahme. Was hat Tschaikowsky mit Putin zu tun? Vernünftiger reagierte das Konzerthausorchester Berlin. Unter Christoph Eschenbach spielt es an zwei Tagen Dimitri Schostakowitsch (1906–1975): Cellokonzert Nummer eins und Symphonie Nummer acht. Eine Absetzung des russischen Komponisten hat es nach zwei Jahren Vorbereitung dieser «Hommage an Dimitri Schostakowitsch» glücklicherweise nicht gegeben. Schostakowitsch sei, schreiben Dirigent Eschenbach und Intendant Sebastian Nordmann in einem aktuellen Zusatz zum Programmheft, «Zeuge furchtbarer Erlebnisse, Verfolgung, Tod, Krieg (…) Man hat ihn auch den musikalischen Chronisten des Jahrhunderts genannt.» Und schliesslich ein Zitat von Schostakowitsch aus seinen Memoiren: «Wenn ich zurückblicke, sehe ich nichts als Ruinen.»
Quellen:
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Verlag C.H beck , München 2010.
Heiko Flottau: Meine Seele liegt im Osten. Deutsche wurden vertrieben, Ukrainer deportiert, Polen flohen vor Stalin – ein Besuch bei den Opfern der Westverlagerung Polens. Süddeutsche Zeitung vom 29./30.Juli 1985