Der Journalist Michael Martens, heute FAZ-Korrespondent in Wien, beantwortet diese Frage bereits im Titel seines spannenden Buches. Er lautet: „Im Brand der Welten. Ivo Andrić – Ein europäisches Leben“.
In der Tat ein europäisches Leben – jedenfalls ein europäisches Leben im 20.Jahrhundert mit seinen Kriegen, seinen für fast alle Menschen persönlichen Gefährdungen, mit seinen Versuchungen, es den jeweiligen Herrschern recht zu machen, möglichst ohne sein moralisches Rückgrat zu verlieren – aber auch mit seinen kleinen Chancen, abseits von Kriegen, Massenmorden und Pandemien mit einer Portion Glück und einem gnädigen Schicksal ein erfülltes Leben aufzubauen.
Heikle Aufgaben
Bereits eine sicher nicht ganz vollständige Auswahl von Andrićs Wohnsitzen, Studien und Tätigkeiten sind Beweise genug für eine ausserordentliche Biographie. Andrić wird 1892 als katholischer Kroate im damals vom Habsburgerreich beherrschten Bosnien in der Nähe des Städtchens Travnik geboren. Er stirbt, wie er sich selber bezeichnet, als Serbe, mehr aber noch als überzeugter Jugoslawe in Titos Reich, dem er als Mitglied des BdKJ, als Mitglied des „Bundes der Kommunisten Jugoslawiens“ bis zu seinem Tode im Jahr 1975 die Treue hält. Er geht in Visegrad, das er später in seinem 1961 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman „Die Brücke über die Drina“ portraitiert, zur Grundschule, das Gymnasium besucht er in Sarajevo. In dieselbe Schule geht auch Gavrilo Princip, der am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ermordet und mit diesem Attentat den ersten Weltkrieg auslöst. Beteiligt am Attentat war Ivo Andrić nicht, aber die Habsburger werfen ihm eine Nähe zu den Mördern vor und inhaftieren ihn deshalb einige Zeit.
Studienorte sind später Krakau, Zagreb, Graz, Wien. Zeitlich zwischen dem Imperium der Habsburger und Titos kommunistischem Reich der Südslawen liegt das 1918 gegründete, 1941 in Hitlers Bombenhagel untergegangene „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ – beherrscht und später geknechtet von der serbisches Königsdynastie der Karadjordjvić. Diesem „ersten Jugoslawien“ dient Ivo Andrić als Diplomat u. a. im Vatikan, in Bukarest, Triest, Graz, Paris, Madrid Brüssel, Genf, bis er zum stellvertretenden Aussenminister aufsteigt.
Auf diesem Posten erwartete ihn eine seiner vielen heiklen Aufgaben. 1939 spielt Benito Mussolini mit dem Gedanken, Albanien anzugreifen und sich das kleine, wehrlose Balkanland einzuverleiben. Ivo Andrić soll eine Stellungsnahme verfassen, wie sich Jugoslawien im Falle eines italienischen Angriffs auf Albanien verhalten soll. Er schreibt eine Abhandlung über die historischen Beziehungen seines Landes zu Albanien, schliesst die heikle Frage des Kosovo mit seiner mehrheitlich albanischen Bevölkerung nicht aus und empfiehlt schliesslich, auch Jugoslawien solle Albanien angreifen, sollte Mussolini den ersten Schritt tun. Andrić strebt eine Teilung Albaniens zwischen Italien und Jugoslawien an.
Berliner Jahre
Michael Martens fragt: „Spricht hier ein eiskalter Schreibtischtäter, der Menschen auf dem Reissbrett verschiebt ... und sogar die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen empfiehlt?“ Martens zitiert Verteidiger von Andrić, welche die Expertise, die Andrić vorlegt, als „Auftragsarbeit“ bezeichnen, die nicht seine persönliche Meinung repräsentiere, und stellt den Vorgang in den historischen Zusammenhang. Tatsächlich war es damals gang und gäbe, über die Köpfe der Völker hinweg zu regieren und die Menschen über Staatsgrenzen hin- und herzuschieben. Heute würde man das hässliche Wort von der „ethnischen Säuberung“ benutzen. Martens schreibt, Andrić sei ganz Kind seiner Zeit gewesen, auch dort „wo es eine hässliche Zeit war“.
Noch heikler wird Andrićs Stellung, als er Gesandter des Königreiches Jugoslawien in Hitlerdeutschland wird. als Botschafter in Hitlers Berlin. Wer heute in Berlin die „Gesellschaft für Auswärtige Politik“ in der Rauchstrasse 17–19 im Bezirk Tiergarten besucht, kommt eigentlich in das Gebäude der ehemaligen jugoslawischen Gesandtschaft. Wer mag, kann sich dort das Arbeitszimmer des Botschafters Ivo Andrić zeigen lassen mit jenem Schreibtisch, an dem der spätere Literaturnobelpreisträger einst gearbeitet hat.
Die Berliner Jahre gehören zu den schwierigsten im Leben von Andrić . Biograph Michael Martens schildert die Szene, in der Andrić Hitler in der gerade fertig gestellten Neuen Reichskanzlei sein Beglaubigungsschreiben überreicht. Nach viel marmorner Pracht und langen Säulenfluchten stehe Jugoslawiens königlicher Gesandter aus Visegrad dann vor dem damals mächtigsten Mann der Welt: „Es ist eine denkwürdige Begegnung zweier ehemaliger Untertanen des Habsburgerreiches.“ Es sei nicht bekannt, schreibt Michael Martens, ob Hitler vor seiner Begegnung mit Andrić darüber informiert worden sei, „dass er gleich einem slawischen Fanatiker (und Schulfreund des Mörders von 1914) die Hände schütteln würde. (Hitler hatte in „Mein Kampf“ zwar die Ermordung Franz Ferdinands begrüsst, die Täter aber als „slawische Fanatiker“ bezeichnet.)
Gleich zu Beginn seiner Berliner Zeit wird Andrić mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert: Er soll mit Hermann Göring, dem Chef der Luftwaffe, mit Aussenminister Ribbentrop und mit dem Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, über Waffenkäufe verhandeln. Andrić bietet, auf Weisung aus Belgrad, jugoslawische Kupferlieferungen an; die Nazis sind zögerlich.
Gratwanderungen
Wie reagiert Andrić in dieser ruchlosen politischen Zeit? Tagsüber muss er auftragsgemäss das Naziregime loben. Aber nachts macht er sich – das geht aus seinen erhaltenen Notizen hervor – Gedanken, ob die Kriege, die Hitler anzettelt, zu etwas Gutem führen könnten. Biograph Michael Martens schreibt von einem „Tagmenschen“ und einem „Nachtmenschen“ Andrić. Am Tag erfülle er seine diplomatische Aufgabe, möglicherweise schweren Herzens, und lobe den Hitler-Stalin-Pakt und nachts zweifle er an seinem Tun.
Michael Martens zitiert aus dem Tagebuch von Ivo Andrić. Dort beschreibt der Diplomat/Schriftsteller den Krieg „als Opfer ohne Ziel und Verzicht ohne Sinn“ und fragt sich weiter, ob daraus wenigstens später ein „Nutzen für die Menschheit erwachsen“ könne. Andrić notiert: „In unserem Jahrhundert wird vielleicht ein neues und grosses Wunder geschehen. Aus der Notwendigkeit der Askese wird der Glaube geboren, der uns retten wird, so wie früher einmal aus dem Glauben die Askese entstand ...“ Wer mag, kann daraus die Hoffnung herauskristallisieren, dass Andrić auf ein friedliches Nachkriegseuropa hofft, wie es derzeit weitgehend existiert.
Innere Zweifel am äusseren Tun des Menschen äussert Andrić auch zu Beginn seines Romans „Wesire und Konsuln“. Dort sinniert er über den Unterschied der sozusagen äusseren Lebensumstände und dem inneren Zustand eines Menschen. Unter diesen äusseren Daten komme „immer wieder unser zweites nur uns allein bekanntes Leben zum Vorschein, diese wahre Geschichte unseres Geistes und Körpers, die nirgends aufgezeichnet ist und von der niemand etwas ahnt, die mit unseren gesellschaftlichen Erfolgen wenig zu tun hat, die aber für uns und unser letztliches Wohl und Wehe allein wichtig und real ist“.
Fast prophetische Worte, die Andrić wohl später kaum gerettet hätten, wenn er die ihm eigentlich zustehende schwerste und politisch wie menschlich verwerflichste Aufgabe hätte übernehmen müssen – nämlich Jugoslawiens Aufnahme in den Dreimächtepakt zwischen Hitlerdeutschland, Mussolinis Italien und Japan als Gesandter in Berlin zu verhandeln. Doch aus innenpolitischen Gründen wird Andrić in diese Verhandlungen nicht einbezogen. Michael Martens bezeichnet diese im Grunde diplomatische und politische Desavouierung des Gesandten Andrić als Glücksfall im Leben des Schriftstellers Andrić. „Nach der Machtübernahme der Kommunisten“, schreibt Martens, „wird ihm das die Karriere retten, vielleicht sogar das Leben.“
Notwendiges Übel
Jugoslawien unterschreibt den Dreimächtepakt, doch dann putscht im Juni 1941 in Belgrad das Militär. Die Generäle beteuern zwar, am Pakt festhalten zu wollen, doch Hitler befiehlt die Besetzung Jugoslawiens. Am 6. April 1941 geht Belgrad in der „Operation Strafgericht“ unter, 600 deutsche Kampfbomber werfen ihre explosive Last über der serbischen und jugoslawischen Hauptstadt ab, mehrere Tausend Menschen sterben. Das erste, das „königliche“ Jugoslawien ist Geschichte, der Zweite Weltkrieg wird im ehemaligen Reich der Serben, Kroaten und Slowenen ein Bürgerkrieg aller gegen alle. Titos kommunistische Partisanen etwa kämpfen gegen königstreue Tschetniks, gegen die in Kroatien mit Hilfe Hitlers herrschenden faschistischen Ustacha unter dem Kriegsverbrecher Ante Pavelić (der im KZ Jasenovac Zehntausende von Serben abschlachten lässt), vor allem aber gegen die deutschen Besatzer. Aus dem Gemetzel gehen Titos Partisanen als Sieger hervor, der „Massenmörder Tito“, so Autor Michael Martens, gründet das zweite, das kommunistische Jugoslawien.
Und Ivo Andrić ? Nach einigen Wirren kann er 1941 nach Belgrad zurückkehren, zieht zur Untermiete in eine kleine Wohnung in der Ulica Prizrenska 9 unterhalb des zentral gelegenen Hotels Moskva und beginnt zu schreiben. Seine bekanntesten Werke entstehen, die 1961 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete „Brücke über die Drina“ etwa und sein grosser in Zentralbosnien spielender Roman „Wesire und Konsuln“ sowie „Das Fräulein“. Tagebuchaufzeichnungen zeigen den weiten literarischen Horizont, den sich Andrić zudem in einem enormen Arbeitspensum, wie Michael Martens schreibt, aneignet: Andrić beschäftigt sich mit der Renaissance, mit Leopold von Ranke, mit „Goethe, Balsac, Rousseau, Stendhal, Ovid, Renan, Voltaire, Avicenna, Petrarca, dem Koran“ und später auch mit Marx und Engels. Längst spricht er viele Sprachen, nur mit dem Englischen hapert es ein wenig.
Doch dann, 1944, kommt die Befreiung von Hitlers Besatzung und die Machtübernahme von Titos Partisanen. Wie werden diese mit dem hohen Beamten des verhassten Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen umgehen? Gilt Andrić als Kollaborateur der Tschetniks oder gar der Nazis? Beides war er nicht, und er kann Belege für seine, sagen wir, Zurückhaltung in den Kriegsjahren anführen. Seine drei in der Prizenska Ulica fertig geschrieben Romane hat er unter der Besatzung der Deutschen nicht veröffentlicht, ein Manifest gegen die kommunistischen Partisanen hat er nicht unterschrieben. Und: Die neuen Machthaber wollen sich international etablieren, da würde es nur kontraproduktiv sein, einen schon bekannten Schriftsteller zu liquidieren, wie es die Kommunisten mit manch anderen, auch mit Weggefährten von Andrić, in jenen Tagen tun. Womöglich brauchen die Kommunisten Andrić auch mehr als er die neuen Machthaber. Und: Andrić war stets ein Anhänger des Zusammenschlusses aller Südslawen, also ein Verfechter „Jugoslawiens“. Andrić tritt der kommunistischen Partei bei. Michael Martens schreibt: „Den Kommunismus akzeptiert er als notwendiges Übel, das dem Jugoslawismus das Überleben sichert.“
Reue und Scham
Und dann der 26.Oktober 1961. Im Zentrum Belgrads, am damaligen Wohnsitz von Ivo Andrić im Haus Nummer 2a der „Strasse der Proletarischen Brigaden“ (vor dem Krieg Ulica Krunska, heute wieder Ulica Krunska, Kronenstrasse) klingelt der Geschäftsträger der schwedischen Botschaft und teilt dem Schriftsteller mit, ihm sei der Nobelpreis für Literatur zugesprochen worden, insbesondere für seinen Roman „Die Brücke über die Drina“. Eine hochverdiente Auszeichnung für ein hervorragendes schriftstellerisches Schaffen. Das internationale Echo ist positiv, doch Kleingeister gibt es immer. Josip Broz Tito hätte lieber den Kroaten Miroslav Krleža ausgezeichnet gesehen, dessen Werk sei linientreuer. Widerwillig aber gibt Tito einen Empfang für den jugoslawischen Nobellaureaten. Und ein deutscher nicht ganz unbekannter Kritiker schreibt in der FAZ eine eher despektierliche Kritik unter der Überschrift: „Was geht uns Visegrad an?“ Es ist Marcel Reich-Ranicki. Hätte sich der Literaturpapst einmal auf eine Kapia, eine der steinernen Sitznischen auf der Drinabrücke in Visegrad gesetzt, die Atmosphäre der Landschaft und der Menschen auf sich einwirken lassen und im Roman von Andrić gelesen, hätte er vielleicht seinen mitteleuropäischen Hochmut überwunden und ein anderes Urteil gefällt.
Ivo Andrić stirbt 1975. Sein Werk beeindruckt noch heute. Es bringt uns eine Landschaft, eine Kultur, auch eine eher unselige Kultur der Stammesfehden und der eher unbarmherzigen Herrschaft der Osmanen, nahe, die bis in die Gegenwart strahlt – die aber auch zu vielen Missverständnissen Anlass gibt. Immer wieder wurde und wird argumentiert, in den Werken von Andrić komme viel Hass zum Ausdruck, besonders sein Essay, „Brief aus dem Jahr 1920“, belege dies. Während der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre lässt sich US-Präsident Bill Clinton über den „bosnischen Hass“ im Werk von Andrić unterrichten und bekundet, er verstehe nun besser, worum es auf dem Balkan gehe. Grundlage ist ein Buch von Robert D. Kaplan über die „Geister des Balkan“. Und worauf beruft sich Kaplan? Auf Ivo Andrić natürlich, schreibt Michael Martens, fast schon resignierend. Und ein grosser Jugoslawienkenner, der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping, beteuert, er habe stets Ivo Andrić gelesen. Andrić indessen, so viel ist sicher, würde sich gegen solche falschen Zeugen vehement wehren.
Denn Hass hat Andrić nie gepredigt, viele Passagen in seinen Romanen werden falsch interpretiert. Gegen posthume Fehleinschätzungen und posthume politische Vereinnahmungen ist niemand gefeit, auch Andrić nicht. Und Amerikanern war es noch nie wirklich gegeben, sich in andere Kulturen hineinzudenken und diese zu verstehen.
Bleibt die Frage nach dem politischen Menschen im Schriftsteller Ivo Andrić, die Michael Martens immer wieder aufgreift und die auch diese hervorragend recherchierte und geschriebene, blendend dokumentierte Biographie natürlich nicht voll beantworten kann. Immerhin zitiert Michael Martens eine posthum veröffentlichte Notiz des Schriftstellers, in welcher er einen äusserst selbstkritischen Blick in sein Innerstes zulässt. Andrić schreibt: „In der ersten Lebenshälfte wünscht und tut der Mensch Dinge, derer er sich in der zweiten Hälfte schämen und von denen er sich lossagen wird, und die zweite Hälfte vergeht in vergeblichen Versuchen, das zu korrigieren oder wenigstens zu vertuschen, was man in der ersten tat. So wird am Ende alles vernichtet und kommt auf Null. Es bleiben nur Reue und Scham.“
Reue und Scham über einige Phasen seines politischen Lebens mögen Ivo Andrić in seinen späteren Jahren gelegentlich überkommen haben. Sein schriftstellerisches Werk aber, in dem er kleine Völker, die am Rande Zentraleuropas leben und die von den dort herrschenden Grossmächten, den Habsburgern und den Osmanen, immer wieder geschunden wurden, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht, bleibt unvergessen.
Michael Martens: „Im Brand der Welten, Ivo Andrić - Ein Europäisches Leben“. Wien: Verlag Paul Zsolnay, 2019, 494 S.