Ersatzwahlen in den Bundesrat heben das politische Fieber immer etwas an – diesmal steht das VBS im Vordergrund. Verteidigung ist aber auch und vor allem auf europäischer Ebene ein Thema, und zwar ein interessantes, mit unerwarteten Innovationen. Eine davon, die auch für die Schweiz relevant werden könnte, wird hier vorgestellt.
Eine Gruppe europäischer Wissenschaftler hat die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zwar nicht wiederentdeckt, aber eine neue Sicht auf dieses historische Phänomen, die von grosser Kreativität im Umgang mit Rechtsquellen inspiriert ist. Dementsprechend nennen die Initiantinnen und Initianten ihr Projekt ALCIDE – «Activating the Law Creatively to Integrate Defence in Europe». Der spielerische Umgang mit den Initialen der Umschreibung des Projektes spricht für sich und führt zurück auf den italienischen Gründervater der Europäischen Integration, Alcide De Gasperi, dessen Lebenslauf die Geschichte Europas in abenteuerlicher Weise illustriert.
Alcide De Gasperi wurde 1881 im Trentino geboren, notabene als Österreicher, weil ganz Tirol zu Österreich gehörte. Er studierte in Wien Rechtswissenschaft, wurde Journalist und später auch Landtagsabgeordneter im Tirol. Nach dem ersten Weltkrieg fand sich De Gasperi unversehens als Italiener wieder, da Südtirol an das Königreich Italien ging. Während der faschistischen Diktatur verbüsste er eine kurze Haftstrafe und arbeitete schliesslich in der Bibliothek des Vatikans, von wo aus er auch die Gründung der Democrazia Christiana vorantrieb.
Als späterer Ministerpräsident Italiens war er mit Robert Schuman und Konrad Adenauer am Aufbau der Montanunion beteiligt. Am 27. Mai 1952 unterzeichnete er als italienischer Aussenminister den EVG-Vertrag. Schliesslich amtete er kurz vor seinem Tod als Präsident der (parlamentarischen) Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).
Was war – und ist – die Europäische Verteidigungsgemeinschaft?
Die EGKS wurde 1951 gegründet. Die gemeinsame Verwaltung der beiden kriegsnotwendigen Güter Kohle und Stahl in einer Struktur, welche die Supranationalität der heutigen EU bereits vorwegnahm, sollte den Krieg insbesondere zwischen den «Erzfeinden» Deutschland und Frankreich ein für alle Mal verhindern. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft war eine logische Folge dieser Idee. Nicht nur die kriegsnotwenigen Güter, sondern auch die Armeen selber sollten einer supranationalen Kontrolle unterstellt werden.
Ein entsprechender Vertrag wurde wie bereits erwähnt am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichnet. Unterzeichnerstaaten waren dieselben wie jene der EGKS: Frankreich, Italien und Deutschland sowie die drei Benelux-Staaten Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Grossbritannien und die Vereinigten Staaten markierten ihre Unterstützung dem Projekt gegenüber.
Vorgesehen waren 43 Armeegruppen in der Grösse von Divisionen, wovon 14 durch Frankreich und 12 durch die Bundesrepublik Deutschland gestellt werden sollten. Das wichtigste Element aber bestand in der demokratischen Kontrolle. Alle politischen und strategischen Entscheidungen sollten durch eine parlamentarische Versammlung getroffen werden. Sie sollte nach dem Vorbild der Gemeinsamen Versammlung der EGKS gebildet werden, bestehend aus 87 Delegierten der Parlamente der Mitgliedstaaten. Im Übrigen entspricht die Organisation der EVG jener der EGKS, mit einem Kommissariat von 9 Mitgliedern (je zwei für die grossen, je eines für die kleineren), einem Ministerrat mit 6 Mitgliedern sowie einem Gerichtshof. Diese Grundstruktur findet sich bis heute in den Organen der Europäischen Union wieder.
Das Inkrafttreten des EVG-Vertrages erforderte die Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten. Diese erfolgte schon bald in den drei Benelux-Staaten wie auch in Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmässigkeit des Vertrages vor der Ratifikation ausdrücklich bestätigt hatte. Als nächstes stand der Vertrag 1954 auf der Tagesordnung der französischen Nationalversammlung, aber die Ratifikation scheiterte.
Widerstände kamen zunächst aus der französischen Armee. Vor allem aber hatte inzwischen ein Regierungswechsel zugunsten der Gaullisten stattgefunden, so dass auch die Regierung nicht mehr hinter dem Projekt stand. In Italien, wo die Ratifikation des Vertrages noch bevorstand, wurde dieses Geschäft in der Folge nicht mehr traktandiert. Vorläufiges Fazit: Ein abgeschlossener Vertrag, der aber lediglich durch vier der sechs Vertragsparteien ratifiziert worden ist.
Die innovative Idee
Genau an diesem Punkt setzt die Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein. Ausgangspunkt sind zwei Phänomene, mit denen Europa heute konfrontiert ist, zum einen der Krieg des russischen Diktators gegen die Ukraine, zum anderen die Wahl des neu amtierenden US-Präsidenten, die nicht nur eine Politik voller Disruptionen erwarten lässt, sondern auch einen Rückzug der USA aus transatlantischen Verpflichtungen. Beide Phänomene machen deutlich, dass sich Europa verteidigungspolitisch rasch auf eigene Füsse stellen muss.
Mit der Möglichkeit «verstärkter Zusammenarbeit» würde im Rahmen der Europäischen Union ein Gefäss dafür grundsätzlich bereitstehen (Art. 20 EUV). Gegen ein solches Vorgehen werden jedoch verschiedene Bedenken geltend gemacht. Alle Aktivitäten im Rahmen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) unterstehen besonderen Regelungen und Verfahren (Art. 24 EUV). Dazu gehört vor allem die Einstimmigkeit im Rahmen der intergouvernementalen Einigung, und selbst wenn diese erreicht werden kann, ist die Ratifikation durch die nationalen Parlamente der 27 Mitgliedstaaten erforderlich.
Im Weiteren stellt sich das Problem der demokratischen Legitimation. Diese dem europäischen Parlament aus 27 Mitgliedstaaten anzuvertrauen, während der EVG nur 6 angehören, wäre problematisch. Darüber hinaus bliebe die Finanzierungsfrage ungelöst. Den Weg der verstärkten Zusammenarbeit innerhalb der EU zu beschreiten, würde mit anderen Worten anstatt zum Ziel eher zu schmerzlichen Erfahrungen führen.
Angesichts dessen und vor allem angesichts der Dringlichkeit der Schaffung von mehr europäischer Verteidigungssouveränität wendet sich die ALCIDE-Gruppe der bislang als rein historisch betrachteten EVG zu. Ihre bemerkenswerte Innovation besteht in einem sehr einfachen Wechsel der Perspektive. Bildlich gesprochen wird das 1954 erfolgte Scheitern des EVG-Vertrages in der französischen Nationalversammlung nicht mehr als ein definitives Ausschütten allen Wassers aus dem Glas betrachtet, das bereits zu zwei Dritteln voll ist.
Vielmehr wird das Glas als das gesehen, was es wirklich darstellt, nämlich als gefüllt mit vier der notwendigen sechs Ratifikationen. Da richtet sich der Blick natürlich sofort auf Paris und Rom. Kein Wunder also, dass die Webseite von ALCIDE nebst dem obligaten Englisch auch in französischer und italienischer Sprache abrufbar ist: https://alcideproject.eu
Aber der Vertrag müsste den neuen Gegebenheiten angepasst werden, und dies unmittelbar nach der erfolgten Ratifizierung durch Frankreich und Italien, die das Inkrafttreten des Vertrages in seiner Form von 1952 zur Folge hätten. Eine Regierungskonferenz der sechs Unterzeichnerstaaten würde sofort einberufen, um relativ pragmatisch vor allem die erwähnten Fragen neu zu regeln, welche im Rahmen der vertieften Zusammenarbeit unter den 27 nur schwer zu erreichen wären. In den mehr als 70 Jahren seit Abschluss des Vertrages haben sich die Verhältnisse weiterentwickelt, so dass sich schon deshalb verschiedene Anpassungen aufdrängen.
Erweiterungen und das Verhältnis zur Nato
Ein zentrales Thema der einzuberufenden Regierungskonferenz müssen die Verfahren sein, in welchen die EVD erweitert werden kann. Dabei kann es nicht nur um EU-Mitgliedstaaten gehen, denn es steht ausser Frage, dass eine wirksame europäische Verteidigungsstruktur Grossbritannien einbeziehen muss. So käme also auch das Nato-Mitglied Norwegen und allenfalls sogar die Schweiz in Betracht, was die Sache auch für hiesige Strategen nicht uninteressant macht.
Zur Erweiterung enthält der EVG-Vertrag Bestimmungen analog zu jenen der heutigen EU (Art. 129 EVGV). Jeder europäische Staat kann den Beitritt beantragen. Der Rat holt dazu die Stellungnahme des Kommissariates ein und fasst darüber einstimmig Beschluss. Bis hierher reicht die Analogie zum heutigen EU-Beitrittsverfahren.
Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, indem die sechs Gründerstaaten der EVG selber die Beitrittskriterien definieren, die durchaus strikter sein können als jene der heutigen EU. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte, wie sie neben anderen in den Kopenhagener Kriterien der EU verankert sind, werden dabei eine Rolle spielen. Aber für Staaten, die sich im Zusammenhang mit der Verteidigung Europas unversehens zu einer Art trojanischem Pferd entwickeln, wie man es zum Beispiel in Ungarn mit seiner Nähe zum russischen Diktator beobachten muss, kann durchaus eine Ausschlussklausel aufgenommen werden. So kann die Zielsetzung der Sicherheit der Mitgliedstaaten gegen jede Aggression von aussen geschützt werden. Es erweist sich also als vorteilhaft, dass die EVG nicht im Massstab eins zu eins an das Erweiterungsverfahren der Europäischen Union gebunden ist, obwohl sie sich weitgehend daran orientieren wird.
Bereits vor der Beratung des EVG-Vertrages war 1949 das transatlantische Verteidigungsbündnis gegründet worden. Der Vertrag nimmt denn auch ausdrücklich auf die Nato Bezug und sieht die Verschmelzung der Verteidigungsstreitkräfte der Mitgliedstaaten als europäischen Pfeiler des Nordatlantikpaktes. Grossbritannien hatte bereits am Tag der Unterzeichnung des EVG-Vertrages mit der EVG einen Vertrag abgeschlossen, in welchem es bei Angriffen auf deren Mitgliedstaaten die uneingeschränkte militärische und andere Unterstützung zusicherte.
Wird die EVG reaktiviert, stärkt dies einerseits die Unabhängigkeit der europäischen Verteidigung von Washington. Andererseits aber trägt es auch dazu bei, dass den Vereinigten Staaten im Rahmen der Nato ein eigenständiger europäischer Partner gegenübersteht, der seine Verantwortung selber wahrnimmt, eine Forderung, die seitens Washington heute klar formuliert wird.
Aussichten auf den Dornröschen-Kuss?
Das Grimmsche Märchen lässt Dornröschen in einen hundertjährigen Schlaf fallen in einem dornenumwachsenen Schloss, in das sich ein Prinz hineinwagen muss. Der Handlungsort wird Schloss Hofgeismar im deutschen Bundesland Hessen zugeschrieben, und dort fand der Prinz seine «Belle au bois dormant» in unveränderter jugendlicher Schönheit. Aber das Dornengestrüpp in Paris und Rom, an das sich der Prinz nun heranwagen muss, um die EVG wachzuküssen, ist nicht weniger dicht als jenes im Märchen.
Für Frankreich wäre die schwierige Regierungsbildung zu nennen, und der im Hintergrund immer drohende Machtanspruch des Rassemblement National. Auch die populistische Linksbewegung La France Insoumise ist im Zusammenhang mit einem solchen Projekt unberechenbar. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass ein Grossteil der aussenpolitischen Kompetenz in den Händen des Präsidenten liegt, der noch bis 2027 im Amt sein wird. Auch die verteidigungspolitische Ausnahmestellung Frankreichs als einzige Atommacht im Rahmen der EU könnte eine Rolle spielen. Und die Aussichten in Italien? Wäre die Vorbereitung einer Ratifikation des EVG-Vertrages durch die gegenwärtige Koalitionsregierung überhaupt denkbar?
So oder so wird die verteidigungspolitische Situation Europas in Bewegung geraten. Die Frage ist nur, wie rasch dies geschehen wird, und dies wiederum hängt vom Verhalten zweier Männer ab: Zum einen vom russischen Diktator, seiner Kriegsführung in der Ukraine und seinen auch für Nato-Mitgliedstaaten bedrohlichen Phantasien zum Wiedererstarken eines russischen Imperiums.
Zum anderen vom gegenwärtigen US-Präsidenten und seinem Prinzip der Verunsicherung durch Disruption. Drittens aber hängt die Geschwindigkeit der Veränderungen sogar davon ab, welche Deals diese beiden Männer miteinander vielleicht auf den Weg bringen wollen. Sollte es sich darum handeln, die Ukraine gleichsam zu «opfern», könnte Europa nicht untätig zusehen, wenn es seine eigenen Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und vor allem Freiheit nicht preisgeben will. Und die verteidigungspolitischen Konsequenzen einer solchen Situation für diesen Kontinent sind unübersehbar.