Am Sonntag versammelten sich Zehntausende Menschen auf den Strassen Griechenlands, um gegen das verheerende Eisenbahnunglück in Tempi zu protestieren. Mit vereinten Stimmen fordern die Bürger Gerechtigkeit für die Opfer des Unglücks und die Bestrafung der Verantwortlichen. Die Proteste fanden in über 110 Städten innerhalb und ausserhalb Griechenlands statt. Aber auch von anderer Seite gerät die Regierung Mitsotakis unter Druck.
Eigentlich hätte sie im Parlament eine solide Mehrheit. Die griechische Regierung sitzt seit 2019 fest im Sattel. Aber nun gerät sie gleich von zwei Seiten unter Druck.
Eisenbahnunfall nicht vergessen
Zum einen wird der 26. Januar 2025 in die Geschichte Griechenlands eingehen als ein Tag, an dem der Schmerz über den verheerenden Eisenbahnunfall in Tempi in massive öffentliche Proteste umschlug. (Ich habe hier und hier darüber geschrieben). Über das ganze Land verteilt versammelten sich Zehntausende Menschen, um gegen das Unglück und die daraus resultierende Untätigkeit der Verantwortlichen zu demonstrieren. Ein weit verbreitetes, kraftvolles Motto prägte den Tag: «Δεν έχω οξυγόνο» («Ich habe keinen Sauerstoff») und «Κανένα έγκλημα χωρίς τιμωρία» («Kein Verbrechen ohne Strafe») – kaum ein ausländisches Medium berichtete.
Die grösste Versammlung fand am Syntagma-Platz in Athen statt, wo Tausende von Menschen mit Transparenten und Slogans gegen das «Verbrechen in Tempi» protestierten. Diese Proteste wurden von einer Vielzahl von Organisationen und politischen Gruppierungen unterstützt, darunter der «Vereinigung der Opfer des Tempi-Unfalls» und zahlreichen Gewerkschaften. Ein starkes Zeichen der Solidarität kam auch von den Angehörigen der Opfer, die in den sozialen Medien ihre Forderungen laut und unmissverständlich formulierten. Sie verlangten nicht nur eine sofortige und umfassende Untersuchung der Explosion eines illegalen chemischen Ladegutes, sondern auch eine Erklärung bezüglich der angeblichen Vertuschung von Ermittlungen im griechischen Parlament.
«Wir haben uns heute alle versammelt, um zu zeigen, dass dieses Verbrechen nicht ungestraft bleiben wird. Dies ist der Anfang eines unaufhaltsamen Kampfes, und die Verantwortlichen, egal wie hoch sie stehen, müssen bestraft werden», erklärte die Thessaloniker Ärztin Maria Karystianou, die ihre Tochter bei dem Unglück verlor. Ihre Worte spiegeln die Entschlossenheit wider, die Griechenland an diesem Tag prägte. «Es ist nicht genug, einen Tag zu protestieren. Wir müssen jeden Tag hier sein, bis Gerechtigkeit herrscht», fügte Nikos Plakia, der Vater von Zwillingsmädchen, die bei dem Unfall starben, hinzu. Die Polizei löste die friedliche Demonstration mit Gewalt auf. In den griechischen Medien war von wenigen Hundert Demonstranten die Rede, was eine dreiste Lüge ist, denn Luftbilder zeigen klar, dass nicht nur der weitläufige Syntagmaplatz, sondern auch anschliessende Gassen rappelvoll waren.
Neben der zentralen Protestaktion in Athen fanden auch in anderen Städten Griechenlands massive Demonstrationen statt. In Thessaloniki etwa versammelten sich mehr als 25’000 Menschen auf dem zentralen Platz Kamara. In Patras, Volos, und Larissa fanden ebenfalls grosse Proteste statt, bei denen die Menschen ihren Unmut über das Unglück und die fehlende Verantwortung seitens der Behörden zum Ausdruck brachten. In der Stadt Larissa, von wo aus der Zug des Unglücks startete, führte eine der Demonstrationen zu den Büros der Griechischen Eisenbahn (OSE), wo die Versammelten ihre Forderung nach Aufklärung und Verantwortung lautstark einforderten.
Der Unfall, der vor fast zwei Jahren in Tempi stattgefunden hatte, bei dem ein Zug mit mehr als 300 Menschen an Bord eine Tragödie erlebte, bei der offiziell 57 Menschen, vor allem junge Studenten, ihr Leben verloren. Das ist allerdings schönfärberisch, weil kaum von den zahlreichen Vermissten die Rede ist, die nie gefunden wurden. Der Unfall hat nicht nur die Angehörigen der Opfer erschüttert, sondern auch das kollektive Gewissen der griechischen Gesellschaft. Die anhaltende Wut und Trauer über das Unglück, das von Karystianou als Verbrechen bezeichnet wird, haben viele Menschen dazu motiviert, sich zu organisieren und auf die Strasse zu gehen, um für eine gerechte Aufarbeitung des Vorfalls zu kämpfen.
Internationale Solidarität kam nicht nur von griechischen Gemeinschaften im Ausland, sondern auch von anderen Ländern, in denen Proteste für die Opfer des Tempi-Unglücks stattfanden, darunter in Serbien, Zypern und den Niederlanden. Diese weltweiten Aktionen haben ein starkes Signal gesendet, dass dieses Unglück nicht nur ein griechisches Problem ist, sondern die Menschlichkeit und die Werte von Gerechtigkeit und Verantwortung betreffen.
Die Demonstranten haben klargestellt, dass ihre Forderung nach Gerechtigkeit fortgesetzt wird, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Frage bleibt: Wird die Regierung in der Lage sein, die öffentliche Wut zu besänftigen und echte Massnahmen zur Aufklärung des Unglücks zu ergreifen? Der Druck aus der Bevölkerung wird in den kommenden Wochen und Monaten weiter zunehmen, und es ist klar, dass die Proteste nicht abflauen werden, bis Gerechtigkeit für die Opfer des Tempi-Unglücks erzielt wird.
Die Staatsanwältin, die den Unfall von Tempi aufklären soll, ist kürzlich zurückgetreten. Ihr Sohn war plötzlich verschwunden. Hofft sie, dass dieser durch ihren Rücktritt wieder auftauchen wird? Das Signal an die Justiz, am offiziellen Narrativ nicht zu rütteln, ist jedenfalls überdeutlich.
Im Parlament wird bald eine Debatte über den Zugsunfall bei Tempi stattfinden. Einen entsprechenden Antrag stellte am 27. Januar Dimitris Koutsoumpas, der Generalsekretär der kommunistischen KKE.
30 der Todesopfer sind nicht durch den Zusammenstoss mit einem Güterzug, sondern durch einen dadurch ausgelösten Brand gestorben. Es wird vermutet, dass der Güterzug illegal gefährliche Fracht transportierte, die nicht korrekt deklariert war. Eine Untersuchung der Polytechnischen Universität Athen könnte bald klären, ob das Feuer tatsächlich nur durch die offiziell angegebenen Frachtmaterialien verursacht worden sein könnte – erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass dies unwahrscheinlich ist. Es gibt zudem Vorwürfe, dass die Behörden versucht haben, den Unfallort schnell zu säubern und Beweismaterial unvollständig an die Justiz weitergegeben haben. So wurde etwa Videomaterial zur Beladung des Güterzuges nicht den Ermittlern übermittelt. Auch die forensischen Untersuchungen werden von Kritikern als unzureichend angesehen. Die KKE und andere Oppositionsparteien werfen der Regierung nicht nur vor, ein «Verbrechen zu vertuschen», sondern kritisieren auch die grossen Mängel bei der Griechischen Bahn und der Schieneninfrastruktur.
Aufs falsche Pferd gesetzt – und jetzt der Purzelbaum
Viele Jahre ging es gut. Die unausgesprochene Vereinbarung der griechischen Regierung von Kyriakos Mitsotakis mit Washington und Brüssel war wohl: Ich mache, was ihr wollt und ihr seht darüber hinweg, dass ich die Grundrechte im Allgemeinen und die Pressefreiheit im Besonderen immer weiter aushöhle. (Ich habe zum Beispiel hier darüber berichtet.)
So kommt es, dass die Regierung Dinge tat, die innenpolitisch hoch umstritten waren und die Bevölkerung spaltete. Beispiele sind die Einführung der Ehe für alle, des gemeinsamen Sorgerechtes und die Etablierung einer Nato-Basis in Alexandroupolis ohne jede Gegenleistung. Es sind auch Projekte, bei denen es für die Regierung nichts zu gewinnen gab, deren politische Kosten sie aber zu tragen hat. Mitsotakis setzte dabei voll auf die Regierung Biden und die demokratische Partei. Er ging damit auch eine politische Wette ein, wonach Kamala Harris die US-Präsidentenwahl für sich entscheiden würde. Auch bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Donald Trump war kein höherer griechischer Offizieller eingeladen. Dieser weiss genau, auf wen die griechische Regierung gesetzt hat.
Nach einem Monat des sprachlosen Schreckens versucht Mitsotakis jetzt das, was die Griechen in solchen Fällen tun: Er macht eine «κολοτούμπα», einen Purzelbaum.
Neuerdings sagt er wie Trump, dass es nur zwei Geschlechter gäbe, nachdem die Regierung jahrelang in eine andere Richtung gearbeitet hat. Der Gesprächsfaden zwischen Washington und Athen scheint aber gerissen.