Das grosse Publikum, das sich in den letzten Tagen in Scharen durch die Matisse-Ausstellung drängte, wird die Künstlernamen der neuen Beyeler-Ausstellung «Nordlichter» kaum kennen – ausser Edvard Munch. Doch wer die nordische Landschaftsmalerei der beginnenden Moderne kennenlernen will, kann auf die Rechnung kommen.
Trotz des griffigen Titels: Dem Nordlicht, der Aurora Borealis, ist kaum zu begegnen. Wir finden es lediglich auf drei Werken unter insgesamt rund 80. Sie stammen vom Kanadier Tom Thomson (1877–1917) und von der Schwedin Anne Boberg (1864–1935) und zeigen das Phänomen des wie ein über den Nachthimmel tanzenden Lichtvorhangs (Boberg) oder des über einer Hügelkante flackernden Nordlichts (Thomson) auf eindrückliche Weise (siehe oben).
Aber es geht Ulf Küster, dem Kurator der Fondation Beyeler, kaum um die geheimnisvolle Himmelserscheinung, die nördliche Völker zu farbigen Märchendichtungen anregte und Wissenschafter umtrieb, zum Beispiel Fridtjof Nansen, der das Nordlicht in einer ungelenken Zeichnung festzuhalten suchte. Es geht ihm vielmehr um einen Blick auf im Norden – in Skandinavien, Kanada und Russland – zwischen etwa 1880 bis 1930 entstandene Landschaftsmalerei, der hierzulande (ausser vielerorts natürlich Munch oder, in Lausanne vor ein paar Jahren, Strindberg) selten und sicher nicht in dieser aufgefächerten Breite zu begegnen war.
Diese Landschaftsmalerei hat kein einheitliches Gesicht. In Ulf Küsters Ausstellungskonzept gibt es aber trotzdem Gemeinsamkeiten: Vor allem liegt ihnen das Erleben der Künstlerinnen und Künstler einer «reinen» oder beinahe «reinen» Natur zugrunde. Dabei bleibt das Bild des Menschen fast durchwegs ausgeklammert. Menschen erscheinen in zwei Bildern Edvard Munchs als eine Gruppe kleiner Kinder am Waldrand und als im Walddickicht kauernder nackter Vampir, der seine Zähne in den Nacken einer ebenfalls nackten Frau gräbt: ein abgründiges, Liebe und Tod vereinigendes Motiv. Oder der Mensch hinterliess Spuren in der Landschaft, konkret Fussstapfen im in differenzierter Farbigkeit wiedergegebenen Neuschnee im grossen Bild des Schweden Gustaf Fjæstad (1868–1948) oder im Gemälde des Norwegers Harald Sohlberg (1869–1937). Hier steht eine allerdings winzig klein wiedergegebene Fischerhütte am Strand für den Menschen. Wir sehen die Behausung, in der, aus Licht im Innern zu schliessen, jemand wohnt, durch einen Wald, dessen dunkle Stämme und Äste ein Ornament aus waagrechten und senkrechten Elementen in den Abendhimmel zeichnen.
Der abwesende Mensch
Durch die Hintertür betritt der Mensch aber trotzdem die Bild-Bühne. Er tut dies insofern, als das Landschaftsbild immer den individuellen Blick einer Malerin oder eines Malers in die Landschaft oder die (nicht realitätsgebundene) Vorstellung von Landschaft zeigt. Blick und Vorstellung sind stets bewusst gewählt und gerichtet. Das schliesst ein, dass das Bild von einer getroffenen Entscheidung auch des Weglassens lebt: Auch was der Maler oder die Malerin nicht zeigt, wird zum Inhalt des Bildes und zu einem möglichen «Kommentar» zum Geschehen. So ist, nun bezogen auf die bei Beyeler unter dem Titel «Nordlichter» gezeigten Werke, auch die Abwesenheit des Menschen im Landschaftsbild eine wenn auch schwer zu deutende Aussage: Ist er ein Fremdkörper in der Landschaft, und lässt der Maler die Natur lieber Natur sein – in «Schneebedeckte Felsen» des Finnen Akseli Gallen-Kallela (1865-1931) zum Beispiel, der mit den virtuos wiedergegebenen Flechten auf dem Stein die Natur selber Malerin werden lässt?
Würde der Mensch das Landschaftserleben beeinträchtigen – zum Beispiel in den beiden wunderbaren und farblich üppigen Gemälden der Schwedin Hilma af Klint (1862–1944)? Hat der Mensch zuvor die Natur zerstört oder ihr Schaden zugefügt – wovon zum Beispiel Munchs «Gelber Baumstamm» berichten könnte? Vielleicht am eindrücklichsten ist die Abwesenheit des Menschen thematisiert in der kleinen Ölskizze «Das Kanu» von Tom Thomson. Das Boot liegt am Ufer eines waldgesäumten kanadischen Sees. Es ist leer. Eine Vorahnung? Ein Bild des Symbolismus? Der Maler, der mit seinen Freunden immer wieder die Waldlandschaft Kanadas durchstreifte, verlor hier unter bis heute nicht geklärten Umständen im Jahr 1917 sein Leben.
Überraschungen aus Kanada
Die Ölskizzen Thomsons und seiner Freunde J. E. H. MacDonald (1873–1932) und Lawren S. Harris (1885–1970) gehören zu den überraschenden Entdeckungen, die Kurator Ulf Küster seinem Publikum ermöglicht, das bis heute kaum zu Begegnungen mit kanadischer Malerei kam.
Diese in Kolorit und Pinselstrich expressiven kleinen Skizzen sind spontane Zeugnisse hoch emotionalen Landschaftserlebens sensibler Menschen und ihres Eintauchens in eine urtümliche Natur. Dass einige dieser Maler zu Theosophie und Esoterik neigten, Harris zum Beispiel, aber auch Emily Carr (1871–1945) aus British Columbia, erstaunt nicht. Das gilt auch von Hilma af Klint, die ihre (in Riehen nicht gezeigten) abstrakten Werke selber auf Befehle «höherer Wesen» aus dem Jenseits zurückführte und mehrfach erfolglos die Nähe zu Rudolf Steiner suchte.
Überraschungen sind für viele Besucherinnen und Besucher sicher die Malereien von Prinz Eugen von Schweden (1865–1947), eines hochrangigen Mitliedes des schwedischen Königshauses, der sein Leben trotz Repräsentationsverpflichtungen in den Dienst seiner in Paris geschulten Landschaftsmalerei stellte, und ebenso die intensiv leuchtenden Winterlandschaften der Finnin Helmi Biese (1867–1933). Den thematisch sehr breit aufgestellten finnischen «Maler-Fürsten» Akseli Gallen-Kallela konnte man in der Schweiz kaum je anhand so vieler Werke kennenlernen. Insgesamt sind deren elf zu sehen – dem Ausstellungsthema entsprechend ausschliesslich Landschaften. Auch der Name des in seiner Heimat beinahe als «Kunst-Heros» gefeierten Russen Iwan Schischkin (1832–1898) ist hiesigem Publikum kaum geläufig. Die riesige Grisaille «Windbruch», der Blick in einen vom Sturmwind zerzausten Wald, belegt die Fähigkeit des Künstlers, Ordnung und Unordnung in der Natur ins Gleichgewicht zu bringen. Das virtuos gemalte Werk entstand 1888 und ist das älteste der Ausstellung.
Die Ausstellung «Nordlichter» bringt die Werke in freier und zwangloser Präsentation bestens zur Geltung. Fragen liessen sich vielleicht zur Künstler-Auswahl stellen, was allerdings für fast jede thematische Gruppenausstellung gilt: Warum gerade diese Malerin oder dieser Maler, dieses konkrete Bild und nicht ein anderes? Die Auswahl ist von vielen Faktoren bestimmt, die den Besuchern nicht bekannt sind. Sie lassen den Kuratoren auch nicht völlig freie Wahl. Zum Beispiel: Wie steht die Ausstellung im Gesamtprogramm der Institution? Wie umfangreich kann und soll sie werden? Für welche Räume und für welches Publikum ist sie gedacht? Sind die gewünschten Werke überhaupt verfügbar und zu welchen Bedingungen? Ergeben sie zusammen ein gültiges Bild? Darüber hinaus will und soll der Kurator auch seine eigene Sicht der Dinge zeigen. Im konkreten Fall ist die Auswahl sicher abhängig vom Naturverständnis und vom Naturerleben des Kurators Ulf Küster.
So liesse sich zum Beispiel fragen, warum die qualitätsvollen, aber düster bewegten und meist dunklen Landschaftsbilder des Schweden August Strindberg (1849–1912) in der Ausstellung keine Berücksichtigung fanden. Möglicherweise fügen sie sich schwer in ein Konzept, das vorrangig nach Licht, Wasser und dichten Wäldern als Themen der Malerei und nach dem Aufbruch in die Moderne fragt. Oder: Warum fehlen die expressiven, mitunter dramatisch aufgeregten Landschaften des Norwegers Nikolai Astrup (1880–1928)?
Und das Nordlicht?
Und das bis auf drei Beispiele fehlende Nordlicht? Tatsächlich hielten die Malerinnen und Maler der beginnenden Moderne das Phänomen nur selten mit dem Pinsel fest. Die Gründe? Die Region über dem Polarkreis, wo die zauberhafte Lichterscheinung vor allem zu beobachten ist, ist von den grossen Siedlungen im Süden Skandinaviens, wo die Künstler mehrheitlich tätig sind, weit entfernt und schwer zu erreichen. Es gab wenige Verkehrswege in den hohen Norden; die damals kleinen Schiffe der Hurtigruten fuhren anfänglich nur von Trondheim aus weiter nach Norden. Einer, der diesen Norden erwanderte und vom Boot aus in einzigartigen kleinen Ölskizzen die bewegten und leuchtenden Nordlichter festhielt, war der Norweger Peder Balke. Er lebte von 1804 bis 1886 – und malte seine postkartengrossen Skizzen, die den Geist der Romantik atmen, um 1870 oder früher. Das ist knapp vor der Zeitspanne, die Ulf Küster zu bearbeiten sich vorgenommen hatte.
Ein wichtiges Plus der Ausstellung: Der vielleicht allzu griffige Ausstellungtitel «Nordlichter» und die starke Präsenz des in weiten Kreisen bekannten und weit über Insider-Kreise hinaus beliebten Edvard Munch, dem wir hier als Landschaftsmaler begegnen, locken zweifellos ein breites Publikum an – und bringen es in Kontakt mit Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die den meisten Besuchern kaum zuvor bekannt waren.
Stiftung Beyeler, Riehen. Kuratiert von Ulf Küster. Bis 25. Mai. Katalog mit Abbildungen aller Exponate und mit verschiedenen Essays Fr. 62.50. Anschliessend wird die Ausstellung im Buffalo AKG Art gezeigt.