Geschichtsprofessor Tobias Straumann über seine Rolle als Beirat beim Forschungsprojekt «Zug in der Welt» (ZIDW), seine aufregende Zeit als Lokaljournalist in Zug und das beliebte «Zug bashing», das die Medien lieben und ihn langweilt.
Sabinde Windlin: Sie arbeiteten in den 1990er Jahren als Journalist in Zug. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Tobias Straumann: Nur gute! Ich war bei der «Zuger Presse» angestellt, die ein Jahr zuvor von Dani Brunner, Josef Speck und Hans-Rudolf Wild ins Leben gerufen wurde und mit einem illustren Verwaltungsrat besetzt war. Die Arbeit beim Blatt war spannend, lebendig, abwechslungsreich. Ich habe sehr viel gelernt, vor allem schnell zu arbeiten und mich mit Informanten zu vernetzen. Ich deckte das ganze Spektrum des Wirtschaftsjournalismus und der Wirtschaftspolitik ab.
Wie nahmen sie den Kanton, seine Meinungsmacher und Entscheidungsträger wahr?
Angenehm und unkompliziert. Ich komme aus der Region Baden. Das Kleinstädtische und Katholische – mit reformiertem Einschlag – ist mir vertraut. Wobei «kleinstädtisch» nicht mit «provinziell» gleichzusetzen ist. Baden war durch die BBC/ABB international aufgestellt, Zug war es mit Glencore und Siemens ebenso.
Sie sitzen im Beirat des Forschungsprojekt «Zug in der Welt», das im Frühling 2024 lanciert wurde. Ist Zuger Wirtschaftsgeschichte für Sie als Schweizer Wirtschaftshistoriker von besonderem Interesse?
Jeder Kanton ist interessant! Aber Zug ist historisch besonders vielfältig. Zusammen mit dem ETH-Archiv für Zeitgeschichte, wo das Firmenarchiv der Landis & Gyr lagert, haben wir an der Universität Zürich mehrere Seminare über den Wirtschaftsplatz Zug durchgeführt. Zug liefert Landwirtschaftsgeschichte, Geschichte zur Textilindustrie, Maschinenindustrie, zum Dienstleistungssektor und ist Drehscheibe für diverse lokale und internationale Standbeine. Ein wichtiger Aspekt ist ferner die für Zugs Wirtschaftsentwicklung so relevante Gotthardlinie. Auf kleinsten Raum lief in Zug im 20. Jahrhundert extrem viel – und so ist es bis heute.
Über die Zuger Wirtschaftsgeschichte existieren bereits diverse Publikationen. Liefert «Zug in der Welt» neue Fakten und Erkenntnisse?
Die Zuger Wirtschaftsgeschichte wurde nie umfassend aufgearbeitet. Es herrscht eine veritable Lücke. Die will man nun schliessen. Auch eine nationale Wirtschaftsgeschichte existiert im klassischen Sinne nicht. Darum lohnt sich der Blick auf die Kantone. Spannend ist immer die Frage, wie die Firmengründungen zustande kamen. Da spielt die Zuwanderung für Zug eine wichtige Rolle, die Standortpolitik, aber auch die Heiratspolitik. Männer mussten sich teilweise in angesehene Familien einheiraten, um sich Kapital zu beschaffen. Bei ZIDW stehen aber nicht in erster Linie einzelne Firmen im Fokus. Es werden Vergleiche angestellt und Muster identifiziert.
Was heisst das konkret?
Ein Muster, das sich beispielsweise für Zug herauskristallisierte, ist die Tatsache, dass viele junge Pioniere vom protestantischen Zürich ins katholische Zug kamen, weil sie hier Standortvorteile ausmachten und ihre ambitionierten Ideen umsetzen konnten. Auch hat das Projekt den Anspruch, zu schauen, welche politischen Entscheide etwa in der Bildungs- oder Steuerpolitik einen Einfluss auf die Wirtschaft hatten, und darzulegen, was funktioniert hat und was nicht. Dazu braucht es bestimmte Bezugspunkte, z. B. den Rohstoffhandelsplatz. Da lässt sich Zug mit Genf vergleichen, und genau das macht ZIDW. Durch die Vergleiche werden Unterschiede und Besonderheiten sichtbar, Gewichtungen und Einordnungen möglich. Für mich ist klar: Wer den Kanton Zug verstehen will, muss seine Wirtschaftsgeschichte kennen.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist jedoch so intensiv mit der Bewältigung der Gegenwart und dringlichen Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz beschäftigt, dass der Blick in die Vergangenheit gern vergessen geht.
Der ist aber unverzichtbar. Zugs spektakulärer Aufstieg vom agrarisch geprägten Armenhaus zum wohlhabenden Industrie- und Dienstleistungsstandort wäre ohne Pionierarbeit in der Vergangenheit schlicht undenkbar. Dies macht ZIDW deutlich. Im Kanton Zug haben in der Vergangenheit weit grössere Umwälzungen als heute stattgefunden, und wer nicht weiss, wie die Menschen den Strukturwandel früher gestaltet und Krisen gemeistert haben, tendiert dazu, pessimistisch zu werden und allen Mut zu verlieren. Man darf nie vergessen: Früher gab es keine finanziellen Reserven, keinen Sozialstaat, keine staatlichen Firmenkredite während einer Pandemie. Jede Krise ging sofort an die Substanz. Der Staat, die Gesellschaft waren arm. Ein Arbeitsplatzverlust oder persönlicher Schicksalsschlag brachte die Menschen an den Rand der Existenz. Trotzdem haben unsere Vorfahren Grosses geleistet.
Geschichte, zumal als Schulfach, wird immer stärker marginalisiert und geniesst nicht mehr jenen Stellenwert, den sie früher hatte. Ist das für Sie als Geschichtsprofessor nicht frustrierend?
Geschichte als Schulfach hat tatschlich an Wert verloren, aber nicht nur in der Schweiz. Das ist ein Trend in allen westlichen Ländern. Doch bei Erwachsenen ist das historische Interesse gross, was nicht erstaunt, denn es ist urmenschlich. Wir wollen wissen, was in der Vergangenheit so alles passiert ist, auch in unserem Alltag. Wenn das Magazin Spiegel ein historisches Thema aufs Cover bringt – z. B. Tutanchamun oder Cäsar – sind die Verkaufszahlen sehr hoch. Auch historische Netflix-Serien boomen. Entscheidend ist die Art der Vermittlung. Um bei der jüngeren Generation mit Geschichte zu landen, sollte der Weg über Menschen – etwa Biographien von Pionieren – gewählt werden oder sonst mit etwas Greifbarem, z. B. der Lorze. Der Fluss brachte diverse Industrien, wie die Spinnerei Baar, nach Zug. Weitere folgten. Wunderbar dokumentiert dies der Industriepfad Lorze.
Bisher wurden auf der ZIDW-Plattform 25 Themen aufgearbeitet, u. a. der Verlauf der Industrialisierung, das Erstarken des Grosshandels, die Hintergründe zur Steuerpolitik, die Bedeutung des Rohstoffhandels und der Pharmabranche, die Etablierung des Dienstleistungssektors. Haben Sie ein persönliches «Lieblingsthema»?
Ich finde alle Themen interessant und wünsche mir sehr, dass die Informationsangebote von ZIDW von möglichst vielen Leuten genutzt werden, insbesondere von Politikern, Journalisten oder Lehrpersonen. Sie alle können sich hier schlau machen, können Informationen und Zahlen extrahieren und diese für Artikel, Vorträge oder Schulstunden verwenden. Auch Medienschaffende aus dem Ausland können von der Plattform profitieren. Normalerweise kommen die nach Zug, laufen durch die Stadt und realisieren dann einen Beitrag, in dem vieles schlicht nicht den Tatsachen entspricht. Schade. Denn gerade an einem faktenbasierten Diskurs hat Zug als Wirtschaftskanton ein genuines Interesse. Wer nur nachplappert, was seit Jahren kolportiert wird und Klischees wiederholt, macht es sich zu einfach.
Es ist aber nicht zu negieren, dass das Erfolgsmodell auch Kollateralschäden mit sich bringt. Die hohen Mietpreise, die die Einheimischen verdrängen, ist nur einer von vielen negativen Aspekten.
Ja, die Schattenseiten gibt es, und es ist offensichtlich, dass das hohe Wachstum negative Folgen hat: überlastete Infrastruktur, hohe Bodenpreise, überteuerte Immobilien, zerstörte Baukultur. Diese Dinge werden in ZIDW auch thematisiert, ebenso wie Misserfolge und Wirtschaftsskandale. Dafür sorgen hervorragende Autorinnen und Autoren. Sie vertreten nicht ein einheitliches Weltbild oder eine homogene politische Haltung, aber sie sind alle mit einer Expertise ausgestattet. Ihre Beiträge zeigen: Nicht jeder und jede profitierte gleichermassen vom Aufstieg Zugs. Die Wachstumsstrategie ist bisher jedoch immer demokratisch unterstützt worden.
Pioniere und Persönlichkeiten wie Oskar Weber (Metallwarenfabrik), Georg Page (Anglo Swiss Condensed Milk / Nestlé), Carl Heinrich Gyr (Landis & Gyr), Wolfang Henggeler (Spinnerei Unterägeri), Oskar Straub (Verzinkerei), Johann Bossard (Bossard AG) oder Marc Rich (Rohstoff) sind der breiten Öffentlichkeit bekannt und spielen auch in ZIDW eine wichtige Rolle. Gibt es neu entdecktes «Personal», auf das selbst Sie erst dank ZIDW aufmerksam geworden sind?
Eugen Keller-Huguenin ist bis anhin stets ein wenig unter dem Radar der Öffentlichkeit durchgesegelt. Aber er gilt als der Gründervater des Zuger Steuerwunders – eine höchst spannende Figur, die im Forschungsprojekt vom Zuger Historiker Michael van Orsouw porträtiert wird. Eine interessante, wenig bekannte Figur ist auch Peter Meyer-Hegi, der 1946 die Multiforsa gründete, die schon früh Ergänzungsfuttermittel und Kälbermilchpulver für landwirtschaftliche Nutztiere produzierte und damit sehr erfolgreich war. Mit ihm und der gesamten Agrargeschichte im Kanton Zug hat sich der Luzerner Historiker Beat Bächi befasst.
Zug macht regelmässig wenig schmeichelhafte Schlagzeilen. Nationale und internationale Medien üben teils harsche Kritik am Zuger «Erfolgsmodell». In den Medien kursiert bereits der Begriff der «Zugerisierung», was durchwegs negativ konnotiert ist. Ist das Forschungsprojekt ZIDW auch eine Art wissenschaftliche Antwort auf dieses «Zug bashing» oder dient es gar der Wiedergutmachung?
Nein, Zug braucht sich nicht zu schämen und muss nicht durch Forschung rehabilitiert werden. Aber ich bin sicher, dass ZIDW einen substanziellen Beitrag zur Versachlichung der Analysen beitragen kann. Was das «Zug bashing» anbelangt: Es langweilt mich. Ich erfahre nichts Neues, vernehme immer dieselben Halbwahrheiten, und ganz Wesentliches kommt nicht zur Sprache. Wenn wissenschaftliche Informationen leicht zugänglich sind, ist die Chance grösser, dass das Bild der Medien realistischer und interessanter wird.
Tobias Straumann, 1966 in Wettingen AG geboren, ist ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Zudem schreibt er in der NZZ am Sonntag die Kolumne «Geld & Geist». Straumann sitzt im Beirat von «Zug in der Welt»: dem Forschungsprojekt zur Zuger Wirtschaftsgeschichte.
Zug in der Welt
Wie gelangte Ende des 19. Jahrhunderts die Milch von Chamer Kühen in britische Kolonien? Wie wurde Steinhausen zu einem Knotenpunkt für Zusatzfutter? Wer legte die Basis für den Erfolg der Zuger Metall-, Elektro- und Textilindustrie? Warum entstand bei uns ein globaler Rohstoff-Hub und entwickelte sich Zug zu einem Life-Science-Cluster? Das Forschungs- und Vermittlungsprojekt «Zug in der Welt» liefert Antworten auf solch spannende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen, schärft den Blick für Zusammenhänge und will Laien für Zuger Geschichte(n) begeistern. Die digitale Plattform ist seit Frühling 2024 online und wird bis 2025 mit weiteren Inhalten bestückt. www.zuginderwelt.ch