Portugal sieht dem 50. Jahrestag der «Nelkenrevolution» vom 25. April 1974 und damit dem Sturz seiner langjährigen faschistischen Diktatur entgegen. Ein Streifzug durch Lissabon und ein Sprung über die Grenze zu Spanien führen zu Erinnerungen an die Verfolgten von einst und natürlich an den demokratischen Neubeginn.
Das Flugzeug hat den blau glänzenden Tejo-Fluss und die portugiesische Hauptstadt überflogen, ehe es am Boden aufsetzt und die übliche Ansage erklingt. «Verehrte Fluggäste, wir sind soeben auf dem Flughafen Humberto Delgado in Lissabon gelandet. Wir bitten Sie, angeschnallt sitzen zu bleiben, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben.» Mit dem Namen von Humberto Delgado mögen dabei nur wenige der ausländischen Personen an Bord etwas anfangen können. In der nächsten Zeit könnte aber öfter von diesem als «General ohne Angst» bekannten prominenten Kämpfer gegen die faschistische Diktatur der Jahre 1926–1974 die Rede sein. Er ist Teil einer kollektiven Erinnerung, die das Land zum baldigen 50. Jahrestag der befreienden Nelkenrevolution pflegt.
In Spanien auf Abwegen
Nein, Humberto Delgado war kein Aktivist der festlichen Revolte, bei der aufständisches Militär in den Morgenstunden des 25. April 1974 einer 48-jährigen faschistischen Diktatur das überfällige Ende bereitete – unter begeisterter Anteilnahme der Bevölkerung. Delgado, geboren 1906 in Torres Novas, gut 100 Kilometer nördlich von Lissabon, hat jenen Tag nicht erlebt. Er war im Februar 1965 in der spanischen Provinz Badajoz nahe der Grenze zu Portugal von einem Kommando der portugiesischen Geheimpolizei PIDE ermordet worden.
Gut 20 Jahre ist es her, da suchte der Schreibende auf spanischen Abwegen nach der Stelle, an der Delgados Leiche einst gefunden wurde. Mehrere Leute, die er fragte, hatten von einem Feld- oder Waldweg namens «Los Malos Pasos» gehört. Wie er zu erreichen war, konnte jedoch niemand erklären, und die Zeit der Smartphones stand erst noch bevor.
Denkmal zwischen Rinderweiden und Steineichen
Im November 2023 gestaltete sich die Suche viel leichter. Von der einst portugiesischen und seit 1801 spanisch beherrschten Stadt Olivenza führt die Strasse durch eine Landschaft mit Rinderweiden, Olivenhainen und Steineichen erst nach Alconchel, von dort nach Villanueva del Fresno und dann in Richtung einer kleinen Ortschaft namens Valencia. Nach einigen Kilometern weist eine diskrete Steintafel rechts den Weg zum «Monumento Humberto Delgado», 400 Meter seitlich der Landstrasse, in freier Natur, ohne Pforte, rund um die Uhr zugänglich.
Auf einer weiteren Tafel steht, in spanischer und portugiesischer Sprache, in aller Kürze, was dort vor fast 59 Jahren passiert ist, aber die Details lassen sich nachlesen.
Humberto Delgado schien nicht zum Freiheitskämpfer geboren. Als junger Soldat war er am 28. Mai 1926 mit dabei, als rechtes Militär gegen die im Jahr 1910 errichtete «Erste Republik» putschte und eine Diktatur errichtete. Zum starken Mann im Land wurde António de Oliveira Salazar (1889–1970), erst mächtiger Finanzminister, um dann von 1932 bis 1968 die Regierung zu führen – als Bewunderer von Mussolini in Italien und Hitler in Deutschland. Zu Salazar hielt lange Humberto Delgado, der 1945 die Fluggesellschaft TAP gründete und sein Land als Luftwaffengeneral 1958 bei einer Tagung der Nato in Washington vertrat, aber bei der Rückkehr nicht mehr derselbe war.
Wahlergebnis wohl manipuliert, aber beachtlich
Delgado bewarb sich im Mai 1958 als Kandidat einer vom Regime geduldeten Opposition für das Amt des Staatspräsidenten. Er fand dafür auch die Unterstützung der aus dem Untergrund operierenden Kommunisten, stärkste Kraft der Opposition, und brachte Massen auf die Strassen. Als ihn ein Journalist der Agentur France Presse fragte, was er nach einem allfälligen Wahlsieg mit Salazar machen werde, antworte er knapp «Obviamente demito-o» – «natürlich entlasse ich ihn» – was seinen Beinamen «general sem medo» – General ohne Angst – rechtfertigt. Selbst nach dem offiziellen, wahrscheinlich gefälschten Wahlergebnis erhielt er rund 234’000 Stimmen, was einem Anteil von 23 Prozent entsprach. Er verlor damit gegen den Kandidaten des Regimes, Admiral Américo Thomaz, der bis zum Tag der Nelkenrevolution im Amt bleiben sollte.
Delgado wurde aus dem Militär entfernt und ging erst ins brasilianische Exil, von wo er später nach Algier wechselte, um sich weiterhin gegen die Diktatur daheim zu engagieren. Er dachte jedoch an einen bewaffneten Kampf, womit er sich innerhalb der Opposition isolierte. Angehörige der PIDE (später in DGS umbenannt) gaben sich als Mitstreiter aus und lockten ihn nach Spanien in einen Hinterhalt, wo Delgado und seine brasilianische Sekretärin Arajaryr Moreira Campos unter Kugeln der Agenten den Tod fanden. Ihre Leichen wurden am Ort des heutigen Denkmals verscharrt und am 13. Februar 1965 entdeckt. Am Denkmal wird Delgado auf einer aus Marmor gehauenen Säule mit den Worten zitiert, dass er bereit sei, für die Freiheit zu sterben.
PIDE-Chef mit rebellischer Tochter und Schweizer Schwiegersohn
War der Mord geplant? Wäre ein Mordplan nicht für das Verhältnis zu Franco-Spanien problematisch gewesen? Ein Mord wäre zudem in Rom, wo sich Delgado zuvor einer Operation unterzogen hatte, wohl leichter zu bewerkstelligen gewesen. Möglicherweise war nur geplant, Delgado nach Portugal zu entführen und dort zu verhören. In diesem Fall wäre der Mord für PIDE-Generaldirektor Major Fernando Silva Pais ein Missgeschick gewesen. Ihn ereilte aber noch ein ganz Missgeschick, eines von familiärer Natur, bei dem sogar ein Schweizer Diplomat ins Spiel kam.
Silva Pais’ Sorge galt seiner rebellischen Tochter Ana Maria (1935–90), bekannt als Annie, die gern über den Suppentellerrand des verschlossenen Regimes hinausträumte. In Lissabon kreuzte sich der Weg der überaus attraktiven Frau mit dem des Schweizer Diplomaten Raymond Quendoz (1924–2018). Als er 1962, zwei Jahre nach der Heirat mit Annie, in die Botschaft der Schweiz im kubanischen Havanna versetzt wurde, zog Annie begeistert mit.
Die Schweizer Botschaft in Kuba, wo Fidel Castro seit 1959 an der Macht war, vertrat damals die USA. Während Annies Vater in Lissabon nach wie vor Regimegegner verhören und foltern liess und Ehemann Raymond mit der Verschlüsselung geheimer Nachrichten beschäftigt war, packte Annie der revolutionäre Enthusiasmus. Sie lernte unter anderem Che Guevara kennen. Im Oktober 1965 kehrte sie von einer Reise nach Mexiko nach Havanna zurück. Ihr Mann wartete auf sie am Flughafen, sie aber verliess das Flugzeug nicht und liess ihren Mann glauben, sie sei gar nicht an Bord gewesen, also verschwunden. Frau und Mann sahen sich nie wieder. Annie blieb in Kuba und war als Übersetzerin und Dolmetscherin für Fidel Castro tätig. Ehemann Raymond musste nach Bern zurück. Auf dieser Geschichte beruht die Serie «Cuba Libre», die das staatseigene portugiesische Fernsehen RTP im Jahr 2022 ausstrahlte.
Wohnluxus wo einst die Geheimpolizei folterte
Die Tage der Verfolgung gingen mit der Nelkenrevolution zu Ende. Ihr wichtigster Schauplatz war der Largo do Carmo, ein gemütlicher kleiner Platz in der Oberstadt von Lissabon mit der Ruine einer beim Erdbeben von 1755 zerstörten gotischen Kirche. Gleich daneben ist die Kaserne Quartel do Carmo, einst Hauptquartier der paramilitärischen GNR, in der sich Ministerpräsident Marcello Caetano, Nachfolger von Salazar, am Morgen des 25. April verschanzte.
Er widerstand mehrere Stunden lang der von Leuten aus dem Volk neugierig beobachteten Belagerung unter dem Kommando des nur 29-jährigen Hauptmanns Fernando Salgueiro Maia, bis er die Macht an die Aufständischen übergab und sich, mit Präsident Thomaz, nach Madeira ausfliegen liess. In der Kaserne hat jetzt die Kommission für die 50-Jahr-Feier ihren Sitz. Eine Tafel am Boden auf dem kleinen Platz ehrt Salgueiro Maia.
Das Gebäude mit dem PIDE-Hauptquartier an der nahen Rua António Maria Cardoso, wo einst Major Silva Pais waltete und das eine wütende Menge am 25. April 1974 bestürmte, wich mittlerweile einer Luxus-Wohnanlage. Nur eine Tafel erinnert an Folter und Grauen. Von dort rattern gelbe Uralt-Trams der bei Touristen beliebten Linie 28 bergab in die Unterstadt und von dort wieder bergauf.
Auf dem Weg, unmittelbar gegenüber der romanischen Kathedrale, existiert noch der «Aljube», ein Bau mit vergitterten Fenstern, wo die PIDE bis 1965 politische Gefangene einsperrte – meist solche, deren Verhöre am Sitz der PIDE noch nicht abgeschlossen waren.
Wer einmal verurteilt war, kam in andere Gefängnisse – nach Caxias, bei Lissabon, eventuell ins alte Fort der Hafenstadt Peniche, 100 Kilometer nördlich von Lissabon, oder ins berüchtigte «Lager des langsamen Todes» von Tarrafal auf der Kapverden-Insel Santiago. Im Aljube, wo Zellen von einst bis heute zu sehen sind, ist jetzt ein Museum für Widerstand und Freiheit untergebracht. In diesem Verlies heiratete 1949, als 25-jähriger Häftling, Mário Soares (1924–2017), 1973 Gründer des Partido Socialista und Staatspräsident der Jahre 1986–1996), per Vollmacht seine Gattin Maria Barroso.
Nicht weit ist schliesslich das Nationalpantheon, dessen weisse Kuppel aus der Skyline von Lissabon ragt. Innen ruhen längst nicht mehr Figuren, die der vor 50 Jahren gestürzten Diktatur genehm waren. Seit 1990 ruht dort sogar Humberto Delgado, dessen sterbliche Überreste damit ihren dritten «Umzug» bewältigten. Sie wurden 1965 ja erst notdürftig verscharrt und dann im spanischen Villanueva del Fresno beigesetzt, 1975 auf einen Lissabonner Friedhof gebracht – und schliesslich ins Pantheon.
Orden für Luftpiraten
An ihre Rolle als einst wichtigste Kraft der Opposition erinnert bis heute gern die Kommunistische Partei. Ihretwegen, so sagt man, heissen die Spieler des Fussball-Spitzenclubs Benfica trotz roter Trikots nicht «os vermelhos» – das wären «die Roten», damit waren aber einst vor allem die Kommunisten als wichtigste Staatsfeinde gemeint –, sondern «os encarnados», die Fleischfarbenen. Eine Anlaufstelle für revolutionäre Nostalgiker ist nach wie vor der 1978 eröffnete Sitz der Partei in Lissabon, dessen Fassade 39 Künstlerinnen und Künstler mit verkachelten Bildern ihrer Ideen und Träume vom Kampf für Freiheit, Frieden und Sozialismus zierten.
Die rote Hängebrücke über den Tejo, 1966 als «Ponte Salazar» eingeweiht, wurde schon 1974 in «Ponte 25 de Abril» umbenannt. Heute sind etliche Strassen und Plätze nach Figuren des Widerstandes gegen die Diktatur und der Nelkenrevolution benannt – und da kam in einem nördlichen Wohnquartier von Lissabon sogar ein Luftpirat zu Ehren, nämlich Hermínio de Palma Inácio. Im Jahr 1961, als Flugzeugentführungen noch nicht in Mode waren, zwang er mit einigen Mitstreitern die Piloten einer Super Constellation der TAP auf dem Flug von Casablanca nach Lissabon den Flugplan etwas zu ändern. Anstatt wie vorgesehen in Lissabon zu landen, mussten die Piloten die Hauptstadt in geringer Höhe überfliegen, um den Abwurf von Pamphleten gegen die Diktatur aus den geöffneten Türen zu ermöglichen. Nach dem Abwurf flog die Maschine nach Tanger, und dort gab es laut einer Version dieser Geschichte für die Damen an Bord gar Rosen, zur Entschuldigung für die Umstände. Als ehrbarerer Luftpirat wurde Palma Inácio vom Staatspräsidenten der Jahre 1996–2006, Jorge Sampaio, mit dem Orden der Freiheit ausgezeichnet.