Die Analyse ist kurz, sie stammt aus berufenem Munde und kommt der Realität sehr nah: «Es ist ein Krieg der Saudis gegen uns, sie wollen sich rächen wegen Syrien, Irak, Jemen und nicht zuletzt wegen unserer Reaktion auf Todesurteil gegen Scheich Nimr», so die Erklärung des iranischen Parlamentsabgeordneten Nasser Soudani, warum seit Monaten der Ölpreis unaufhörlich sinkt.
Der 54jährige Volksvertreter aus der Erdölprovinz Khusestan, muss es wissen. Als Vizepräsident der Energiekommission des Parlaments hält er sich ungewöhnlich oft in seinem Heimatort auf und ist mit dem Zustand der iranischen Ölindustrie, über die Sanktionen und Exportprobleme ebenso vertraut wie mit der Konkurrenz der Nachbarstaaten. Doch Soudani hat auch noch andere Fähigkeiten, deretwegen man ihm genau zuhören muss, wenn er sich über die arabische Welt äussert. Soudani, der fliessend Arabisch spricht und einen Doktortitel in «Auslegung des Korans» führt, ist oft Mitglied der iranischen Delegation bei Besuchen in den arabischen Staaten. In der Pilgerzeit leitet er das Büro des Revolutionsführers Khamenei in Saudi-Arabien.
Turbulenzen nach Todesurteil
Soudanis Aufzählung der Gründe, warum Saudi Arabien Iran den Ölkrieg erklärt habe, lässt aufhorchen. Denn sie macht klar, wo sich die blutige Rivalität zwischen beiden Regionalmächten inzwischen zeigt: nicht nur im Irak, in Syrien oder Jemen, sondern auch auf dem Territorium Saudi-Arabiens selbst. Das Todesurteil gegen den Prediger Nimr aus der saudischen Provinz Katif hat für Soudani offenbar dieselbe Bedeutung wie die brutalen Bürgerkriege, die derzeit die Landkarte des Nahen Ostens verändern.
Mit dieser Einschätzung steht er keineswegs allein da. Für viele einflussreiche Politiker, Prediger und Publizisten der islamischen Republik ist Scheich Nimr längst kein normaler Geistliche mehr. Der 56Jährige, der seine theologische Ausbildung in der iranischen Stadt Ghom absolvierte, wird in den iranischen Medien längst wie ein Revolutionsführer geehrt, der – wie einst Khomeini im Iran – bald das saudische Königshaus samt seinen Bewohnern davonjagen werde. Unter den saudischen Schiiten ist Nimr beliebt, und für die Jugendlichen ist der redegewandte und entschlossene Geistliche ein Idol. Nicht zuletzt durch seine Aktivität und seine scharfen Attacken auf die saudische Monarchie werden seit bald vier Jahren die Ostprovinzen Saudi-Arabiens, in denen die grosse Mehrheit der saudischen Schiiten lebt, von Unruhen erschüttert.
Königsfamilie in Zugzwang
Die Machthaber in Riad sind alarmiert. Wahhabitische Geistliche schlagen zunehmend aggressiv zurück, heizen den Hass an und beschimpfen die eigenen Schiiten als Ketzer und Agenten des Iran. Proteste werden mit Repression beantwortet. Aktivisten kommen entweder bei Razzien um oder werden in den Gefängnissen misshandelt.
Die Spirale der Spannungen dreht sich seit dem Todesurteil gegen Scheich Nimr vor drei Wochen schneller. Am schiitischen Aschura-Fest am vergangen Montag wurden bei einem Anschlag auf eine Versammlungsstätte im Nordosten Saudi-Arabiens nach offiziellen Angaben fünf Schiiten getötet. Doch nicht fünf, sondern mindestens 36 Personen hätten den «Märtyrertod» gefunden und Hunderte von Menschen seien bei diesem Anschlag verletzt worden, berichteten tags darauf «Al Alam», der arabischsprachige TV-Sender in Teheran und «Alamanar», das Hezbollah-TV in Libanon.
Die Propagandamaschine läuft auf Hochtouren. Die Schiiten in Saudi-Arabien sind zwar weit davon entfernt, eine ernsthafte Bedrohung für die Herrschenden in Riad zu werden. Doch das Hochschaukeln der Extremisten der beiden Seiten trifft Saudi-Arabien in einer sehr heiklen Zeit, nämlich mitten in einer Krise um die Übertragung der Macht auf die nächste Generation der Königsfamilie. Um die sunnitischen Extremisten zuhause zu beruhigen, darf das saudische Königshaus gegenüber Iran keine Schwäche zeigen, zumal es auf den Schlachtfeldern Syriens, des Iraks und Jemens für die Saudis nicht gut aussieht.
Das Öl als ultimative Waffe
Nun holt Saudi-Arabien als global führender Ölexporteur seine schlagkräftige und sehr wirksame Waffe heraus: den Ölpreis. Trotz der fallenden Preise wird merkwürdigerweise die Produktion ausgeweitet. Die Zeiten sind offenbar vorbei, in denen man bei fallenden Preisen die Produktion drosselte.
Für diesen ungewöhnlichen Schritt hat Rashid Abanmy, der Präsident des Zentrums für saudiarabische Ölpolitik, eine einfache Erklärung: Saudi-Arabien drücke den Preis gezielt, um Russland und Iran zu schwächen, so Abanmy gegenüber der Nachrichtenagentur Anadolu. Beide Länder seien abhängig von Öleinnahmen, und besonders der finanzschwache Iran werde bei niedrigen Ölpreisen immer stärker unter Druck geraten, so Abanmy weiter. Auch die Hauptabnehmer des iranischen Öls in Asien, vor allem China, würden mit langfristigen und günstigen Verträgen gelockt. Dies berichtet die gut informierte Seite irdiplomacy.ir.
«Dunkle Zeit für den Islam»
Als am vergangenen Montag der Ölpreis unter 80 Dollar pro Barrel und damit auf den tiefsten Stand seit mehr als zwei Jahren fiel, sprachen deshalb viele arabische Kommentatoren von einer neuen Qualität des Ölkrieges zwischen Iran und Saudi-Arabien. In Teheran schrillen die Alarmglocken zunehmend lauter. Moderaten wie Ex-Präsident Rafsandschani oder Universitätsprofessor Zibakalam wenden sich mit offenen Briefen an den saudischen König, er möge für die Entspannung zwischen Teheran und Riad sorgen und als erstes die Hinrichtung von Scheich Nimr verhindern. In diesen dunklen Zeiten, in denen sich der Islam insgesamt befinde, sei «eine Vollstreckung des Todesurteils gegen Ayatollah Nimr bar jeglicher Vernunft», so Rafsandschani, dem ein gutes Verhältnis zum saudischen König nachgesagt wird.
Noch ist dieses spektakuläre Todesurteil nicht vollstreckt; es könnte schliesslich zu einer lebenslangen Haft umgewandelt werden. Über solche offene Briefe machen sich die Radikalen im Iran auf ihren Webseite lustig. Die Parlamentsabgeordneten fordern Präsident Rohani auf, einen Nachtragshaushalt für dieses Jahr und Alternativpläne für das nächste Jahr vorzulegen.
Rohanis prekäre Lage
Rohanis Regierung ist in einer missliche Lage. Bei seinem Machtantritt lag der Ölpreis bei 110 Dollar je Barrel, in seinem laufenden Haushalt, der zu 70 Prozent von Erdöleinnahmen abhängig ist, hat er nach eigenen Angaben mit 100 Dollar je Barrel kalkuliert. Für das nächste Jahr «gehen wir von 70 bis 75 Dollar pro Barrel aus», sagt Mohssen Ghamssary, Generaldirektor der iranischen Erdölorganisation. Und das bei einer sinkenden Produktion und Kunden, die von Saudis mit lukrativen Angeboten gelockt werden.
Rohani hatte in dem Wahlkampf seinen Wählern viel versprochen: Von Öffnung der Gesellschaft bis Aufhebung des Hausarrest gegen Oppositionsführer, von mehr Freiheit für Frauen und Journalisten bis zu Lockerung der Zensur. Dass er je in der Lage oder willens wäre, all diese Versprechen tatsächlich einzulösen, das haben selbst die grössten Optimisten nicht geglaubt. Aber auf zwei Bereichen hat man ihm zugetraut, etwas erreichen zu können: bei der Besserung der wirtschaftlichen Situation und bei der Lösung der Atomfrage mit dem Westen. Doch auch hier scheint Rohani langsam die Grenzen des Machbaren erreicht zu haben: Bei einer Arbeitslosigkeit um die 35 Prozent und einer Inflationsrate bei 15 Prozent muss er nun mit 20 bis 30 Prozent weniger Einnahmen rechnen. Wie er trotzdem seine wirtschaftlichen Vorhaben erreichen will, ist ungewiss.
Rohanis zweites Standbein, nämlich ein Ende des Atomkonflikts und Aufhebung der Sanktionen, könnte ebenfalls wackelig werden. Die Frist läuft in zwei Wochen ab, und nach den jüngsten Kongresswahlen in den USA und dem Siegeszug der Republikaner wird er von der Obama-Administration weniger Geschmeidigkeit erwarten können.
Dieser Beitrag erscheint am 8. November bei «Transparency for Iran».