Mouhanad Khorchide sagt schlicht: "Jeder, der sich zu Liebe und Barmherzigkeit bekennt und dies durch sein Handeln bezeugt"... ist ... "ein Muslim, auch wenn er nicht an Gott glaubt, denn Gott geht es nicht um die Überschriften 'gläubig' oder 'nichtgläubig'. Gott sucht nach Menschen, durch die er seine Intention, Liebe und Barmherzigkeit, verwirklichen kann; Menschen, die bereit sind, seine Angebote anzunehmen und zu verwirklichen."
Viele Wege führten zu diesem Ziel, schreibt der Autor weiter, etwa auch der christliche und der jüdische. Der speziell muslimische Pfad zu diesen Zielen bestehe darin, fünfmal am Tag zu beten, einmal im Leben die Wallfahrt nach Mekka zu machen, im Monat Ramadan zu fasten, den Sakat, die Spende an die Armen, zu leisten und darüber hinaus stets bestrebt zu sein, Liebe und Barmherzigkeit gegenüber seinen Mitmenschen zu üben.
Erfahrung mit den politischen Ränken
Das ist - fast - ein christliches Weltbild, das der Koran da in den Augen von Mouhanad Khorchide verkündet. Der Autor hat Erfahrung mit den politischen Ränken der Region und mit der oft, wie er meint, fehlerhaften Interpretation des Islam. Mouhanad Khorchide ist Palästinenser, seine Eltern flohen 1948 vor den israelischen Truppen in den Libanon, aufgewachsen ist er im glaubensstrengen, angeblich den wahren Islam praktizierenden Königreich der Großfamilie Al Saud, genannt Saudi-Arabien. Sein Studium widmete er der islamischen Theologie und der islamischen Soziologie in Beirut und Wien. Heute ist er Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster.
Der Autor unterscheidet - das ist im Grunde nichts Neues - zwischen den in Mekka und den in Medina verkündeten Suren. In der mekkanischen Periode (610 bis 622 unserer Zeitrechnung) habe Mohammed allgemeingültige, von den jeweiligen Zeitumständen unabhängige, also für alle Zeiten gültige Glaubenssätze verkündet.
Mohammed, der Reformer
In Medina aber (620 bis 632) sei Mohammed Oberhaupt des ersten, zwar muslimisch geprägten, aber doch, sozusagen, multikulturellen Staates gewesen, in dem auch Christen und Juden wohnten; hier habe Mohammed versucht, schreibt der Autor, die allgemeinen Glaubenssätze, die er in Mekka verkündet habe, im täglichen Leben zu verwirklichen, indem er so etwas wie die Grundlagen eines Rechtsstaates gelegt habe.
In Mekka sei Mohammed Rasul, Bote, Überbringer der Botschaft Gottes gewesen. In Medina aber habe Mohammed als Staatsoberhaupt gehandelt und habe als solches versucht, die überkommenden Bräuche, Gesetze und Sitten der traditionellen arabischen Stammesgesellschaft durch den Islam zu reformieren. Als Reformer habe er stets auch Kompromisse schließen müssen. Vor allem habe er die Reformen mit den ihm im damaligen Medina zur Verfügung stehenden Mitteln realisieren und darauf Rücksicht nehmen müssen, daß er in einer Stammesgesellschaft lebe. Es sei Mohammed, dem Staatoberhaupt darum gegangen, die rauhen und oft rigorosen Stammessitten zu reformieren.
**"Historische Kontextualisierung".
Der Autor plädiert wieder und wieder dafür, die Gebote, die der Koran für das tägliche Zusammenleben gebe, im historischen Zusammenhang zu sehen. Heute aber herrschten vollkommen andere gesellschaftliche Verhältnisse, also müßten die vor etwa 1400 Jahren erlassenen Vorschriften den Gegebenheiten der Gegenwart angepaßt werden. Mouhanad Korchide nennt diese Forderung "historische Kontextualisierung".
Die Vorschrift etwa, der Mann dürfe bis zu vier Frauen nehmen, - sofern er alle gleich behandele - war seinerzeit ein Schritt zur Reform der oft herrschenden Vielweiberei. Außerdem war diese Regel im Zeitalter ständiger Stammeskriege ein Mittel, Kriegerwitwen zu versorgen. Im - sonst zu Recht vielgeschmähten - Tunesien Ben Alis ist dem Mann bis heute nur eine Frau genehmigt - Mohammeds Gebot wurde der Moderne angepaßt.
Ermordet eure Frauen nicht!
Ein anderes Beispiel: Mohammed hat seinerzeit vorgeschrieben, daß Frauen nur die Hälfte erben dürften wie Männer. Grund für diese heute untragbare Regelung war die Tatsache, daß in der damaligen Stammesgesellschaft Frauen oft aus politischen Gründen in einen anderen Stamm verheiratet wurden. Starb ein Verwandter der Frau, so sollte die Frau nichts erben, damit ihr Vermögen nicht von einem Stamm zum anderen überginge. Heute, schreibt der Autor, sei diese Regelung natürlich eine Diskriminierung der Frau und damit hinfällig.
Noch ein Exempel: eine koranische Aussage lautet, wenn eine Frau einen Vertrauensbruch begehe, solle der Mann mit ihr sprechen, sich aus "dem Intimbereich" zurückziehen und sie gegebenenfalls schlagen. Diese heute unhaltbare Regelung sei, so der Autor, aus den damaligen rauhen Sitten zu verstehen. Frauen nämlich wurden seinerzeit beim geringsten "Vergehen" von den Männern regelrecht verprügelt und auch ermordet. Der oben zitierte Koranvers müsse also umgekehrt verstanden werden: verprügelt und verletzt eure Frauen nicht und - vor allem - ermordet sie nicht, habe Mohammed gefordert.
Monotheismus, Unantastbarkeit der menschlichen Würde
Die Gleichheit von Mann und Frau gehe auch aus Sure 33, Vers 35 hervor. Dort heißt es etwa: "Wahrlich, die muslimischen Männer und die muslimischen Frauen, die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen,, die gehorsamen Männer und die gehorsamen Frauen ... Gott hat für sie Vergebung und großen Lohn vorgesehen."
Salafisten, welche diese Reformschritte, die Mohammed im ersten islamischen Staatswesen in Medina erlassen habe, für ewig und immer gültig erklärten, hätten Mohammeds Intentionen nicht verstanden schreibt Mouhanad Korchide.
Religion, auch der Islam, sei keine detailversessene Anleitung für das täglich Zusammenleben der Menschen. Solche Regeln müßten je nach den Umständen aus den allgemeinen Glaubensprinzipien stets neu erarbeitet werden. Die Grundsätze des Islam lauteten: Monotheismus (im Gegensatz zur Vielgötterei der vorislamischen Periode); Unantastbarkeit der menschlichen Würde; Gerechtigkeit; Freiheit des Menschen; Gleichheit der Menschen und soziale Verantwortlichkeit. Wolle man den Begriff "Scharia" unbedingt verwenden, dann müsse dieser Begriff die oben genannten Grundsätze umfassen. Alle anderen Regelungen seien ein "menschliches Konstrukt".
Der Westen macht es den Salafisten zu leicht
Mouhanad Korchide betont auch, daß der Islam Glaubensfreiheit gewähre, es gelte die Sure, die besage, daß "im Glauben" kein Zwang herrschen dürfe. Andere, oft zitierte Passagen, etwa jene, wonach man "Ungläubige" töten dürfe, wo immer "man sein treffe", seien aus dem historischen - und auch aus dem textualen - Zusammenhang gerissen, damit fehlinterpretiert und heute ganz und gar ungültig. Daher sei es auch grundfalsch, wenn sich Salafisten auf solche Passagen beriefen. Der Koran sei kein Buch, das - ohnedies veraltete - Verhaltensweisen für jede Lebenslage gebe. Vielmehr sei es ein spirituelles Werk in dem sich Gott dem Menschen offenbare. Glauben und nach seinem Glauben auch gerecht zu handeln gehöre zusammen, die Auffassung, daß Gott auch dem schlimmsten Mörder vergebe, wenn er nur Muslim sei, bezeichnet der Autor als abwegig.
Den Salafisten habe es der Westen zu leicht gemacht, schreibt Mouhanad Korchide weiter: "Salafisten würden nicht so stark auftreten können, wenn es nicht Staaten wie die USA und einige europäische Staaten gäbe, die das Regime in Saudi-Arabien und andere diktatorische Regime unterstützten."
Rückwärtsgewandt, unreflektiert, engstirnig
In der Tat. Als der deutsche Außenminister Guido Westerwelle im Juli 2011 Saudi-Arabien besuchte, erklärte er, "verantwortungsvolle Außenpolitik" müsse auch "unsere und die Sicherheitsinteressen unserer Verbündeten berücksichtigen?". Und: "Im Interesse von Frieden und Sicherheit müssen wir nicht nur in der Nahost-Region immer wieder mit Partnern zusammenarbeiten, die nicht unseren demokratischen Maßstäben entsprechen." (zitiert nach der Bildzeitung).
So ist das im Reiche der "Realpolitik". Realistisches politisches Denken müßte aber auch zu dem Schluß kommen, daß jenes Saudi-Arabien, welches der Westen so hofiert, die größte, von Mouhanad Korchide in seiner Jugend selbst hautnah erlebte salafistische Macht ist, die jetzt etwa in Ägypten die Gelegenheit beim Schopfe packt, ihre rückwärt gewandte, unreflektierte, engstirnige und vollkommen phantasielose Ideologie zu verbreiten.
Nein, das ist keine, wie man so oft sagt, "Steinzeit-Ideologie". Verglichen nämlich mit den Saudis waren die Steinzeitmenschen schöpferische Wesen, die ihre Höhlen manchmal mit wunderbaren Malereien ausstatteten. Taliban und Salafisten würden diese Kunstwerke heute sofort zerstören.
Mouhanad Korchide: Islam ist Gerechtigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Herder Verlag Freiburg, Basel, Wien 2012, 220 Seiten, 18,99 Euro