Der israelische Historiker Shlomo Sand schrieb ein Buch („Die Erfindung des jüdischen Volkes“, deutschsprachige Ausgabe 2011), in dem er die Vertreibung der Juden durch die Römer als historische Legende abtut. Nun legt er nach. In seinem neuesten Werk „Die Erfindung des Landes Israel“ bezeichnet er die zionistische These von der „Rückkehr ins Land der Väter“ als Mythos und das Schweigen über die Tragödie der Palästinenser als Kultur des Vergessens.
Kritik an den akademischen Kollegen
Wer kennt schon das arabische Dorf Al-Scheich Muwannis? Niemand, oder kaum jemand, denn es existiert nicht (mehr). Doch einer hat sich auf die Suche nach der einst blühenden arabischen Siedlung gemacht. Es ist Shlomo Sand. Als Historiker, als „diplomierter Sachwalter der Erinnerung, der davon lebt, über das Gestern zu erzählen“ (Shlomo Sand in seinem neuesten Buch) erinnert sich der Autor daran, dass sein Büro an der Universität Tel Aviv – und damit der gesamte Komplex dieses Wissenstempels – auf den Trümmern eben jenes Dorfes Al-Scheich Muwannis liegt, das die Hagana, die vorstaatliche Armee Israels, und die terroristische Gruppe Lehi (die Stern-Gang) 1948 eroberten und ausradierten.
Allein die Geschichte dieses Dorfes, das der Autor als Nachbetrachtung an den Schluss seines eindrucksvollen Werkes stellt, zeigt beispielhaft die Katastrophe, die mit der zionistischen Landnahme über die Palästinenser hereingebrochen ist. Shlomo Sand kritisiert seine akademischen Kollegen und die gesamte politische Elite des Landes, dass sie Flucht und Vertreibung der Palästinenser dem historischen Vergessen anheimgegeben hätten und dieses Schweigen auch in Zukunft nicht brechen wollten.
Busse für Antisemitismus und Holocaust?
Vor dieser Schlussbetrachtung liegen Hunderte von Seiten einer detaillierten historischen Exkursion, die sich jene Politiker ihrem historischen Fundus zuführen sollten, die noch immer Israels Kriegszüge gegen Gaza und die interne Vertreibung Zehntausender von Palästinensern schweigend übersehen. Auf diese Weise, so meinen sie offenbar, soll für den Jahrhunderte alten Antisemitismus und den Nazi-Holocaust Busse getan werden.
Die Entwicklung des Staates Israel nach seinem Sieg über die arabischen Staaten im Juni 1967 charakterisiert Shlomo Sand drastisch so: „Die langfristigen Ergebnisse dieses Pyrrhussieges haben im Gegenteil die pessimistische und bittere Hypothese bestätigt, die Geschichte sei fast immer Schauplatz eines Rollenwechsels zwischen Opfern und Henkern, ein Schauspiel über entwurzelte Verfolgte, die zu Verfolgern und Herrschern über die Heimat eines anderen werden.“
Eine Religionsgemeinschaft, keine Ethnie
Das Werk ist eine historische Fundgrube. Sein Befund, exakt an Hand zahlreicher Quellen nachgewiesen, lautet: Es gibt keine Kontinuität zwischen dem im Alten Testament erwähnten Erez Israel, dem „Land Israel“, und dem heutigen Staat Israel. Ein weiterer Befund: Juden stellen eine Religionsgemeinschaft dar, aber keine eigenständige Ethnie, kein eigenständiges Volk also – ebenso wenig, wie es ein buddhistisches, islamisches oder christliches Volk gebe. Und: Die Juden in aller Welt – etwa in Äthiopien, im Jemen, in Osteuropa hätten stets den Einwohnern dieser Regionen geähnelt. Ihr Judentum stamme aus Bekehrung, Übertritt, hervorgerufen durch den Umstand, dass das Judentum als erste monotheistische Religion eine grosse Überzeugungskraft ausgeübt habe.
Und überhaupt - die „Rückkehr ins Land der Väter“. Wohin kämen wir, fragt der Autor, wenn etwa die Indianer ihr Recht auf Manhattan geltend machen würden oder die Serben ins Kosovo zurückkehren wollten, weil sie dort im Jahre 1389 in einer verhängnisvollen Schlacht geschlagen worden seien? Man könnte die Beispiele fast endlos fortsetzen: Deutsche zurück in die Ostgebiete, Polen zurück in die Ukraine – eine ständige Weltvölkerwanderung und ein ständiger weltweiter Krieg wären die Folgen.
Das Leid der andern Seite anerkennen
Natürlich plädiert Shlomo Sand nicht für die Auflösung Israels. Ein solcher Akt, politisch ohnedies unmöglich und keineswegs wünschenswert, riefe nur neue Tragödien hervor. Wohl aber fordert Shlomo Sand eine Anerkennung des Leides, das den Palästinensern angetan wurde. Er beklagt, dass jedes Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft sofort die israelische Staatsbürgerschaft bekomme - und seine gegenwärtige behalten könne - während vertriebenen Palästinensern das Rückkehrrecht verweigert werde und niemand in Israel an eine Entschädigung für verlorenes oder zerstörtes palästinensisches Eigentum denke.
Konkret: Ein Angehöriger der jüdischen Glaubensgemeinschaft, der beispielsweise in New York lebt, kann israelischer Staatsbürger werden, in Jerusalem ein Haus kaufen und weiter in New York leben. Verlässt aber ein Palästinenser sein Haus in Jerusalem für längere Zeit, wird ihm das Aufenthaltsrecht aberkannt. Denn nach dem Willen der israelischen Regierung sollen in Jerusalem dereinst nur noch Juden wohnen.
Zwielichtige Balfour-Erklärung
Der Autor Shlomo Sand präsentiert noch andere, harte historische Wahrheiten: dass etwa Lord Balfour, der 1917 in seiner berühmt-berüchtigten Erklärung den Juden eine „Heimstatt“ in Palästina in Aussicht stellte, zuvor als Premierminister eine strikte Einwanderungsgesetzgebung durch das Parlament gebracht habe, welche die Immigration aus dem Commonwealth ebenso wie die Immigration von Juden strikt begrenzt habe. Shlomo Sand wirft die Frage auf, ob der Staat Israel überhaupt entstanden wäre, wenn es diese diskriminierenden Einwanderungsquoten, welche die USA auch 1945 noch aufrecht erhalten hätten, nicht gegeben hätte.
Und weiter: Als beim Zusammenbruch der Sowjetunion Hunderttausende Juden auswandern wollten, sei deren Ziel zumeist der Westen, die USA gewesen, nicht aber der Nahe Osten. Durch israelischen Druck und durch eine schmutzige Zusammenarbeit mit der Securitate, dem Geheimdienst des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu, sei der jüdische Auswanderungssturm aus der untergehenden Sowjetunion nach Israel umgeleitet worden – wobei Israel nicht immer darauf geachtet habe, ob die einwandernden sowjetischen Juden auch wirklich hundertprozentige Juden gewesen seien. Die Zahl war ausschlaggebend, denn es drohte schon damals eine palästinensische Mehrheit im „Land der Väter“, in „Erez Israel“.
Das Nein der Araber zum Uno-Teilungsplan
Man kann in diesem Buch stundenlang blättern – auf fast jeder Seite findet man Informationen und Deutungen, die auch auf die Tagespolitik Bezug nehmen, aber von westlichen Politikern tunlichst verschwiegen werden. So etwa, schreibt Shlomo Sand, sei das „Schaffen von Fakten vor Ort das Leitmotiv der zionistischen Politik von ihrer Geburt an gewesen“. Und auch heute noch sei das Leitmotiv Fakten zu schaffen – etwa der Bau neuer Siedlungen – die nicht mehr rückgängig zu machen seien.
Dagegen sei die Weigerung der Araber, der Teilung ihres Landes zuzustimmen, „logisch und nachvollziehbar, wenn auch im Nachhinein wenig zweckdienlich“ gewesen. Denn: „Es dürfte nur wenige Bevölkerungen auf der Welt geben, die sich mit der Ansiedlung landhungriger Fremder abfinden würden, die sich langsam aber stetig die Anbauflächen einverleiben, die nicht bereit sind, mit den Alteingesessenen zusammenzuleben und die sogar danach streben, ihren eigenen Nationalstaat zu errichten.“
Von Anfang an seien dann, schreibt der Autor, Palästinenser von Juden strikt getrennt worden, so dass den Palästinensern in Israel schon zu Beginn der fünfziger Jahre die meisten Chancen einer wirtschaftlichen Entwicklung genommen worden seien. „Diese Situation, im Zusammenspiel mit einer Gesetzgebung, die eine Zivilehe zwischen Juden und Nichtjuden ausschloss, erlaubte es dem zionistischen Staat, seine Politik einer 'ethnisch reinen Kolonisation' erfolgreich fortzuführen.“
Keine Erinnerung an das verschwundene Dorf
Ethnisch rein. Das eingangs erwähnte arabische Dorf Al-Schein Muwannis ist verschwunden. Auf seinen Ländereien stehen heute die Universität Tel Aviv – und gleich vier Museen: das Erez-Israel-Museum, das Museum der Palmach, das Museum des jüdischen Volkes - Haus der Diaspora und das Israelische Museum im Rabin-Center. Alle Museen sollen, so der Autor, „eine jüdische, eine zionistische, eine israelische Vergangenheit“ bewahren und dokumentieren. Eine Nuance am Rande: Im internationalen Beirat des Hauses der Diaspora, berichtet der Autor, sitze auch Leonid Newslin, einst Aktionär des russischen Ölmultis Yukos, von den russischen Behörden der Anstiftung zu gezielten Morden und der Steuerhinterziehung angeklagt. Newslin habe sich 2003 nach Israel abgesetzt und sei von seinem „Freund“ Ariel Sharon dazu berufen worden, „dieses Flaggschiff der Erinnerung vor dem finanziellen Kollaps zu retten“.
Und das Dorf Al-Scheich Muwannis? Keine Erwähnung in den vier Tempeln der historischen Erinnerung? Im Jahre 2003 wandte sich eine Gruppe von Professoren und Studenten an den Präsidenten der Universität, Itamar Rabinovich (einst Oberstleutnant im militärischen Nachrichtendienst und dann Botschafter in Washington), mit der Bitte, „in bescheidener Form an die getilgte Vergangenheit“ des Dorfes Al-Scheich Muwannis zu erinnern. Der Bitte wurde bis heute nicht entsprochen.
Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit. 396 S., Propyläen Verlag Berlin 2012, 22.99 Euro