Jim al-Khalili, Professor für theoretische Atomphysik in England, wurde 1962 als Sohn eines irakischen Vaters und einer englischen Mutter in Bagdad geboren. Beheimatet waren die Khalilis ursprünglich in der Stadt Kufa in der Nähe der den Schiiten heiligen Städte Nadschaf und Kerbela. Kein Wunder, dass sich der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsautor al-Khalili auch der Frage zugewendet hat, welchen Beitrag eigentlich die arabischen Wissenschaften zum Fundament der westlichen, oft als abendländisch bezeichneten Kultur geleistet haben.
Die "arabischen Wissenschaften" und ihre Zulieferer
"Das Haus der Weisheit" (das es einst in Bagdad wohl tatsächlich gegeben hat) lautet der Titel seines Buches. Das detailliert recherchierte Werk führt den Leser zu dem Ergebnis, dass zu den Grundlagen der europäischen Kultur nicht nur das viel zitierte jüdisch-christliche Fundament gehört. Vielmehr haben die arabisch-orientalische Zivilisation und das griechisch-römische Erbe so gut wie gleichberechtigt zur Basis unserer Kultur beigetragen.
Unter dem Begriff "arabische Wissenschaften" versteht der Autor jene Wissenschaften, die unter der arabisch-muslimischen Dynastie der Abbasiden, die von 750 bis 1258 herrschte, gepflegt wurden. Zu den damaligen Wissenschaftlern gehörten Perser, Juden, Araber, Berber auch christliche Forscher, sie alle haben zur Blüte der neuen Wissenschaft beigetragen. Quellen der Forschungen waren griechische und persische Philosophie und Medizin, indische Mathematik, indische Naturwissenschaften.
Übersetzungen aus dem Persischen und Griechischen
Weiterentwickelt wurden diese Kenntnisse vielfach von Arabern, die zunächst unter den Kalifen Harun al-Raschid (Regierungszeit 786-809) und Abu Dschafafar Abdallah al-Mamun (Regierungszeit 813?833) lebten. Basis dieser Wissenschaften waren Übersetzungen persischer und griechischer, aber auch indischer Werke ins Arabische, der Amtssprache des Abbasidenreiches und der Lingua Franca der gesamten Region.
Als ideologische Grundlage der neu erwachten Wissensfreude, die unter der vorausgegangenen arabischen Dynastie der in Damaskus residierenden Umayaden kaum ausgeprägt war, diente der Mutazilismus. Die Vertreter dieser Denkrichtung sahen zwischen (islamischen) Glauben und rationalem, wissenschaftlichem Forschen keinen Widerspruch. Diese Haltung vertrat vor allem auch der Kalif Mamun.
Bagdad als Zentrum der Wissenschaften
Die "spannenden Fortschritte", so schreibt der Autor, in der Medizin, der Astronomie, der Mathematik und in der Philosophie, in der Industrialisierung der Chemie, die sich zunächst in Bagdad, dann aber im gesamten Abbasidenreich bemerkbar gemacht hätten, seien auf eine umfangreiche Übersetzungsbewegung zurückzuführen.
Diese Entwicklung, schreibt Autor al-Khalili, "dauerte 200 Jahre, eine Zeit, in der die Weisheit früherer Zivilisationen" - Griechen, Perser, Inder - zu grossen Teilen ins Arabische übersetzt wurde. Nachdem sich damit im islamischen Grossreich Gelehrsamkeit durchgesetzt hatte, wurde diese schnell zum Selbstläufer. Sie führte zu einer Synthese der wissenschaftlichen Kenntnisse, die weit über die Summe dessen, was es vorher gegeben hatte, hinausging.?
Es hat viele Erklärungen dafür gegeben, dass ausgerechnet im Bagdad der Abbasiden plötzlich die Wissenschaften erblühten. Autor Jim al-Khalili sieht den Hauptgrund in der Tatsache, dass die Abbasiden nach ihrem Sieg über die Umayaden ihre neue Hauptstadt Bagdad (gegründet 762) mitten im ehemaligen Reich der persischen Sassaniden bauten. Der wichtigste Grund für die Übersetzungsbewegung sei die "Versessenheit der Abbasiden" auf persische Kultur gewesen. Freilich: Persische Familien hatten wesentlich zum Sieg der Abbasiden über die Vorgängerdynastie der Umayaden beigetragen.
Auch Cordoba spielte eine führende Rolle
Allerdings muss hier angemerkt werden, dass sich einer der wenigen überlebenden Umayaden, Abdel Rahman, bis nach Spanien durchgeschlagen hatte und dort das Kalifat von Cordoba gründete, in dem, zeitgleich mit Bagdad, Wissenschaft und Kunst einen identischen Standard erreichten.
In Bagdad erwies sich der Kalif al-Mamun als der grösste Förderer der Wissenschaften. Er lud Gelehrte und Künstler wöchentlich an seinen Hof, bewirtete sie mit Wein und Speisen. Auch schickte er Gesandte in seinem weiten Reich herum, die antike Texte aufkaufen sollten. Hatte er, so berichtet der Autor, einen Feind in der Schlacht besiegt, so habe es zu den Kapitulationsbedingungen gehört, dass der Besiegte antike Texte aus seinem Archiv übergeben musste. Vor allem aber gründete al-Mamun in Bagdad das Beit al-Hikma "das Haus der Weisheit", das Haus der (Natur)-)Wissenschaften. Archäologische Überreste gibt es von der Institution nicht (wie überhaupt alle Paläste der Zeit verschwunden sind; mangels Steinbrüchen waren alle Gebäude aus Schlammziegeln konstruiert, welche die Jahrhunderte, und später den Mongoleneinfall nicht überlebt haben).
Kunst der Papierherstellung von den Chinesen
Im Haus der Weisheit, so berichtet der Autor, habe der Kalif im Laufe der Zeit die grösste Bibliothek der damaligen Epoche (vielleicht mit Ausnahme jener in Cordoba) eingerichtet. Zugute sei der Wissenschaft gekommen, dass die Abbasiden in einer siegreichen Schlacht mit den Chinesen von den Verlierern die Kunst der Papierherstellung übernommen hätten, so dass bald in Bagdad die erste Papiermühle der arabisch-persisch-muslimischen Welt gebaut worden sei.
Der Autor schreibt: "Die Bibliothek wuchs schnell heran: Sie erwarb zahlreiche Texte aus Griechenland, Persien und Indien, und hinzu kamen die arabischen Übersetzungen dieser Texte, deren Anfertigung in Bagdads bereits eine ganze Branche beschäftigte."
Aristotelische Philosophie und islamische Theologie
Euklid, Aristoteles, Ptolemäus wurden mehrfach übersetzt. Als einen der Grossen der Epoche nennt der Autor Mohammed Ibn Musa al-Khwarizimi (etwa 780-850), der Übersetzer, Mathematiker und Astronom gewesen sei und das Kitab al-Jebr geschrieben habe (daher das Wort Algebra); auch habe al-Khwarizimi entscheidend dazu beigetragen, das indische Zahlensystem in die abbasidische Welt einzuführen.
Ein andrer Grosser der Epoche war der Christ Hunayn Ibn Ishaq (Tod um 767), ein Arzt und Übersetzer, der selbst viel reiste, um alte Manuskripte zu sammeln, und der Platon und Aristoteles ins Arabische übertrug. Als "Philosoph der Araber" nennt der Autor schliesslich den "Universalgelehrten der Abbasidenzeit", Abu Yusuf al-Kindi (801-873) , einen Mathematiker, Musiktheoretiker und Philosophen, der ebenfalls dazu beigetragen habe, das indischen Uzahlensystem in die Welt der Abbasiden einzuführen.
Die Bedeutung al-Kindis liege aber, schreibt der Verfasser, vor allem darin, die aristotelische Philosophie mit der islamischen Theologie in Einklang gebracht zu haben. Mit dieser Anstrengung habe al-Kindi "die intellektuelle Grundlage für eine Diskussion zwischen Philosophen und Theologen" gelegt, die sich über 400 Jahre hingezogen habe.
Erklärungen für den Niedergang des "Goldenen Zeitalters"
Was aber ist aus dem "Goldenen Zeitalter des Islam" (Jim al-Khalili) geworden? Wer heute die islamische Welt nach Spuren der alten Grösse durchforstet, wird meistens enttäuscht. Viele Erklärungen sind versucht worden, etwa jene, wonach der Mongolensturm von 1258, der Bagdad zerstörte und dazu die empfindlichen Bewässerungssysteme im Zweistromland, der islamischen Wissenschaft ein abruptes Ende bereitet habe.
Der Autor schliesst sich dieser Deutung nicht an. Er argumentiert, dass es die Osmanen gewesen seien, welche die glorreiche Entwicklung der Abbasiden nicht fortgeführt hätten, etwa dadurch, dass sie den Buchdruck nicht gefördert hätten. Das Arabische, eher eine Kursivschrift, habe sich für die neue Technik zunächst nicht geeignet, auch sei durch den Buchdruck eine grosse künstlerische Tradition des Arabischen, die Kalligraphie, gefährdet worden. So kam es, dass, wie der Autor berichtet, der erste Koran im Jahre 1537 nicht in Istanbul, sondern in Venedig gedruckt wurde.
Einfluss auf die europäische Renaissance
Auch hätten nach dem Fall Bagdads andere Zentren arabischer Kultur weiter bestanden - etwa Kairo. Und ein so berühmter Historiker wie Ibn Khaldun (1332-1408) aus dem heutigen Tunesien habe gelebt, als Bagdad schon in Trümmern lag. Dennoch: Eine befriedigende Erklärung für den heutigen, meistens beklagenswerten Zustand der arabisch-muslimischen Welt kann auch Jim al-Khalili nicht so recht geben.
Aber: Lebt nicht der frühere Glanz von Bagdad, Cordoba, Granada, Kairo in Europa fort - dadurch, dass die "arabischen Wissenschaften" griechisches, persisches und indisches Wissen nach Europa getragen haben und dadurch mit die Renaissance gebaren? Wie einst die Eroberung Persiens durch die Araber eben diesen Arabern persische Kultur vermittelt habe, so seien den spanisch-katholischen Siegern über das muslimische Spanien die reichen kulturellen Schätze etwa Cordobas in die Hände gefallen. Auch sei das christliche Toledo schon vor dem Fall des muslimischen Spanien 1492 vom wissenschaftlichen Geist der Mauren angesteckt worden.
Und schliesslich: Die Bewegung der Mutazilla im Bagdad des Kalifen Mamun versuchte, Glauben und Wissenschaft in Einklang zu bringen. Dennoch blieben die Rationalisten der Mutazilla gläubige Muslime. Ähnliches geschah später in der europäischen Renaissance: Auch die Humanisten suchten nach dem Einklang von Glauben und Forschung - und standen doch zu ihrem katholischen Glauben.
Mittel-, Ost-, West- und Nordeuropa mögen sich zu Recht mit dem griechisch-römischen Erbe schmücken. Das jüdisch-christliche und das muslimisch-orientalische Vermächtnis aber sind Kulturimporte. Angesichts einer ausufernden, oft auf wenig Kenntnis beruhenden Islamdebatte wäre es für diese Diskussion nur nützlich, wenn sich die Protagonisten der Tatsache bewusst würden, dass es eine Zeit gegeben hat, in der besonders die islamische Kultur Europa weit überlegen war.
Jim al-Khalili: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 443 S., 22.95 Euro