Was tut ein einst umjubelter Spitzenpolitiker und Shootingstar, der fast schon vergessen ist und von dem kaum noch jemand spricht? Er provoziert, attackiert und droht.
Mitten in der Corona-Pandemie und mitten in den entscheidenden Verhandlungen über die Verwendung des EU-Aufbaufonds hat der frühere italienische Ministerpräsident Matteo Renzi eine gefährliche Regierungskrise ausgelöst.
Renzi, bekannt für seinen unbezähmbaren Ehrgeiz, kämpft dagegen, dass man ihn ganz vergisst. Kaum jemand nimmt ihm ab, dass es ihm um die Sache geht. Es geht ihm darum, wieder in die Schlagzeilen zu geraten.
Das ist ihm gelungen.
Spiel mit dem Feuer
Am kommenden Montag und Dienstag findet im italienischen Parlament die Vertrauensabstimmung über die Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte statt. Da Renzi der Regierung den Rücken kehrt, ist die Möglichkeit gross, dass Conte stürzt. Damit wäre die 66. italienische Nachkriegsregierung am Ende.
Doch Renzi spielt mit dem Feuer. Sein Taktieren könnte dazu beitragen, dass bald einmal der davongejagte Rechtspopulist Matteo Salvini wieder an die Macht gelangt.
Anstatt die Kräfte auf die Bekämpfung der Corona-Seuche mit ihren bisher fast 82’000 Toten zu konzentrieren, müssen jetzt die Politiker eine neue Regierungsmehrheit suchen. Das verläuft in Italien erfahrungsgemäss turbulent
„Der kälteste Händedruck“
Der Sozialdemokrat Matteo Renzi, ein früherer Christdemokrat, war vor wenigen Jahren noch ein gefeierter Star. Er, der junge Bürgermeister von Florenz, war im Februar 2014 durch einen parteiinternen Putsch an die Macht gekommen.
Mit 116 zu 36 Stimmen hatte sich die sozialdemokratische Parteiführung für eine Ablösung des sozialdemokratischen Regierungschefs Enrico Letta durch den stürmischen Renzi ausgesprochen.
Bei der Machtübergabe blickte Letta demonstrativ zur Seite – ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Medien sprachen vom „kältesten Händedruck in der italienischen Geschichte“.
Renzi trat mit vielen Vorschusslorbeeren an. Er versprach, das bürokratisch festgefahrene, gelähmte Italien zu modernisieren. Er, der „Rottamatore“, wollte jeden Monat ein neues Gesetz, eine neue Reform einbringen, damit Italien endlich wieder aufwacht.
Renzi hatte in vielem Recht. Das Land verfügt über ein riesiges Potential an fähigen Menschen, an Ideen, an Projekten. Doch jede Neuerung, jede Innovation wird durch tausende Verordnungen und Gesetze und eine schreckliche Bürokratie im Keim erstickt. Das wollte Renzi ändern, er wollte die alten Strukturen aufbrechen, eben: verschrotten.
Resoluter Regierungsstil
Bei den Europawahlen im Jahr 2014 kam Renzis Sozialdemokratische Partei auf sagenhafte 40,8 Prozent der Stimmen. Der aus dem toskanischen Arno-Tal stammende Ministerpräsident war auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Ideologisch allerdings bekam er schnell Probleme mit seiner eigenen, traditionell zerstrittenen Partei. Die linken Linken warfen ihm vor, eine neoliberale Politik à la Tony Blair zu führen – was nicht ganz falsch war.
Dazu kam, dass er einen ziemlich resoluten Regierungsstil führte. Wer nicht für ihn war, wurde in die Wüste geschickt.
Keine Krönung
Um seine Vorstellungen durchzusetzen, brauchte er eine Verfassungsänderung. Und jetzt beging er einen kapitalen Fehler. Renzi war nie vom Volk zum Ministerpräsidenten gewählt worden (er hatte Enrico Letta parteiintern weggeputscht). Deshalb suchte er jetzt eine Bestätigung durch das Volk. Er wollte sich, wie einige spotteten, in einer Volksabstimmung krönen lassen.
Dazu legte er die Verfassungsänderung dem Volk zur Abstimmung vor – obwohl er das nicht hätte tun müssen. Er erklärte dieses Referendum zu einer Vertrauensabstimmung. Wenn die Vorlage abgelehnt würde, sagte er, werde er zurücktreten.
Die Verfassungsänderung wurde mit 59 Prozent abgelehnt. Renzi, als Matteo I. verspottet, trat tief gekränkt zurück. Das Volk verweigerte ihm die Krönung. In dieser Abstimmungsniederlage liegt die Wurzel für sein heutiges Verhalten.
Abspaltung
Zwar blieb er noch eine Zeit lang Mitglied des sozialdemokratischen „Partito Democratico“ (PD). Doch dort spielte er nur noch die vierte oder fünfte Geige. Das behagte dem Erfolgsverwöhnten gar nicht.
So gründeten er und einige seiner Getreuen eine eigene Partei mit dem Namen „Italia Viva“ (IV). Er beteuerte jedoch, Sozialdemokrat zu bleiben und die Mutterpartei zu unterstützen – doch eben mit einer eigenen Formation. Sein Hauptziel sei, die rechtspopulistische Lega von Matteo Salvini an einer Machtübernahme zu hindern. 18 Senatoren hatten zusammen mit Renzi die Partei verlassen und waren zu Italia Viva übergetreten.
Es ist kein Geheimnis, dass Renzi hoffte, Italia Viva würde zu einer einflussreichen Kraft in der italienischen Politik. Vielleicht, so glaubte er, würde er gar die sozialdemokratische Mutterpartei überflügeln können.
Die 2,5-Prozent-Partei
Daraus wurde nichts. Italia Viva dümpelt heute zwischen 2,5 und 3,5 Prozent der Stimmen dahin. Die Sozialdemokraten hingegen haben sich erholt und bleiben klar, nach der Lega, mit über 20 Prozent die zweitstärkste Partei.
Doch Ministerpräsident Conte, der einer Koalition aus Sozialdemokraten und Mitgliedern der Protestbewegung Cinque Stelle vorsteht, war auf Italia Viva angewiesen. Nur mit dieser Splitterpartei hatte seine Koalition eine Mehrheit im Parlament.
Und jetzt also: Renzis Konfetti-Partei entzieht der Regierung das Vertrauen und zieht ihre zwei Minister aus dem Kabinett zurück. Einer 2,5-Prozent-Partei ist es gelungen, eine folgenreiche Regierungskrise auszulösen.
„Conte, unfähigster Premierminister“
Renzi gab vor, die Regierung zu stürzen, weil Ministerpräsident Conte unfähig sei. Es fehlten ihr die Visionen. Sie setze die 209 Milliarden Euro-Gelder nicht für nachhaltige Projekte und dringend nötige Strukturreformen ein, sondern wolle einmal mehr alte Löcher stopfen. Ganz unrecht hat er nicht.
Doch in Rom weiss man, dass es auch um sehr Persönliches geht. Renzi erträgt es nicht, dass der parteilose Conte, den er nur abschätzig „il professore“ nennt, beliebter ist als er. Zwar setzt Corona und das Gerangel um die EU-Gelder auch Conte zu, doch er bleibt mit Abstand der beliebteste italienische Regierungschef der letzten Jahrzehnte. Für Renzi ist Conte eine Gefahr für seine Ambitionen. Am 24. Juli 2019 nannte er ihn „den unfähigsten Premierminister, an den sich die Geschichte dieses Landes erinnert“.
Zehn Senatoren gesucht
Und jetzt? Am kommenden Montag stellte Ministerpräsident Conte in der Abgeordnetenkammer die Vertrauensfrage, am Dienstag um 09.30 Uhr folgt die Vertrauensabstimmung im Senat.
Nachdem die Renzianer dem Ministerpräsidenten den Rücken kehren, fehlen Conte im Senat mindestens zehn Stimmen, um überleben zu können. Der Regierungschef muss also bis zum Dienstag unbedingt mindestens zehn zusätzliche Stimmen mobilisieren, damit seine Koalition die Mehrheit behält.
Spaltet sich Renzis Partei?
Wo könnte Conte die fehlenden Stimmen gewinnen? In Rom glaubt man, dass nicht alle Senatoren von Renzis „Italia Viva“-Partei mit ihrem Chef einverstanden sind. Einige haben sich offenbar gewehrt, die Koalition zu verlassen und eine Regierungskrise auszulösen. Doch wie viele sind das? Steht Renzis Partei vor einer Spaltung? Ebenso wird spekuliert, dass einige Senatoren von Berlusconis „Forza Italia“ oder der Mitte-Partei UDC die Regierung stützen könnten.
Doch selbst wenn es Conte gelänge, zehn Stimmen oder mehr zu ködern, wäre das eine schwache Konstellation. Es bräuchte nur wenige Dissidente – und solche gibt es in Italien immer – und die Regierung wäre schon wieder am Ende.
Starker Rechtsblock
Renzi kann sich also damit rühmen, dass er die Regierung in schwierigen Pandemie-Zeiten an den Abgrund getrieben hat. Mehr noch: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Renzis Ego-Poker zu Neuwahlen in Italien führt – Wahlen, die die Rechtspopulisten gewinnen könnten.
Immerhin sagte Renzi am Freitag, er werde definitiv nicht mit Salvini zusammenspannen. „Nein, Italia Viva wurde geboren, um Salvini die volle Macht zu entreissen.“ Doch wenn es Neuwahlen gibt, könnte Salvinis Lega zusammen mit den postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ und Berlusconis „Forza Italia“ eine Mehrheit erhalten.
Spekulationen
Natürlich jagen sich in solch unruhigen Zeiten Mutmassungen. Gelingt es Conte, eine neue Regierung zu bilden? Oder kann er laut einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung an der Macht bleiben, wenn die Abgeordnetenkammer (die grosse Kammer des Parlaments) für ihn stimmt, der Senat (die kleine Kammer) aber nicht?
Oder: Wird er, der Parteilose, gar eine eigene Partei gründen? Laut Umfragen käme eine solche auf Anhieb auf 12 Prozent – vor allem auf Kosten der Sozialdemokraten, was einem Nullsummenspiel gleichkäme.
Oder: Soll Mario Draghi, der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Regierungschef werden? Doch will der überhaupt einer schwachen, heterogenen Regierung vorstehen?
(Selbst)Verschrotter?
Wie auch immer: Renzi könnte nicht nur die Regierung zu Fall bringen. Sein Verhalten könnte auch ihn ins Verderben stürzen. 78 Prozent der Italiener sagen laut einer diese Woche veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschers Antonio Noto, dass es „nicht der Moment“ sei, die Regierung zu Fall zu bringen. Noch schlimmer: Sowohl Renzis Partei als auch er selbst verlieren laut Umfragen an Zustimmung.
Renzi, der Rottamatore. Der Verschrotter der Regierung? Der (Selbst)Verschrotter?