Im vergangenen Sommer hatte die EU Italien einen Wiederaufbau-Kredit von 209 Milliarden Euro zugesprochen. Überraschend viel Geld. Damit sollen die dringend notwendigen, einschneidenden Strukturreformen verwirklicht werden.
Doch Italien weiss nicht, was es mit dem Geld anfangen soll. Jeder schwatzt drein, jeder hat seine Ideen, jeder will sich profilieren: Italien wie es leibt und lebt. Doch die EU verlangt schnelle, konkrete, wirksame Vorschläge. Nur dann gibt sie die Gelder frei.
Das Land droht diese „historische Chance“, wie Ministerpräsident Giuseppe Conte am Mittwoch sagte, zu verpassen. Die Zeit eilt. Bis Februar verlangt die EU einen konkreten Plan.
Kompromisse finden, das war noch nie die Stärke der italienischen Politiker. Man streitet sich, man droht. Und viele wollen mit den Milliarden einfach nur Löcher stopfen und marode Unternehmen, die keine Zukunft haben, mit Subventionen über Wasser halten. Nach ein paar Jahren ist das Geld dann weg und das marode Unternehmen noch immer da.
Die EU hat ultimativ deutlich gemacht, dass sie keine Gelder fürs Löcher-Stopfen zur Verfügung stellt. Schon jetzt steht fest, dass die EU-Kommission einige Pläne der Italiener für nicht akzeptabel hält.
Brüssel will nachhaltige, tiefgreifende Investitionen: eine klare Strategie. Der Einsatz „grüner“ Energie muss vorangetrieben werden. Die Bürokratie und die Justiz sollen grundlegend entschlackt werden. Die Industrie muss modernisiert und wieder wettbewerbsfähig gemacht werden. Gesundheits- Schul- und Fernmeldewesen müssen endlich zeitgemässen Bedürfnissen angepasst werden. Die Infrastruktur muss modernisiert und die Digitalisierung gefördert werden. Darbende Unternehmen sollen endlich stillgelegt werden. Nur Drittwelt-Länder haben so viele Gesetze und Verfügungen wie Italien; der Wirrwarr erstickt jede Initiative.
Paolo Gentiloni, der jetzige EU-Kommissar für Wirtschaft, hat am Dienstag in einem Zeitungsinterview die Politiker aufgerüttelt. Wenn nicht schnell Projekte klar definiert würden, sagte der frühere italienische Ministerpräsident, sei das Risiko gross, dass Italien die zugesagten EU-Gelder verliert. Das Interview schlug wie eine Bombe ein. Finanzminister Roberto Gualtieri stellte sich sofort auf Gentilonis Seite.
Die Gelder werden in Tranchen vergeben. Alle halbe Jahre prüft die EU, ob eine neue Tranche freigegeben werden kann. „Die 209 Milliarden Euro, die für Italien vorgesehen sind, werden nur zugewiesen, wenn die gesetzten Ziele innerhalb des Zeitrahmens erreicht werden“, warnt Gentiloni.
Er betont, Italien brauche jetzt dringend ausserordentliche Verfahren. Wenn sich die Politiker nicht zusammenraufen, sei das Geld weg. Die Botschaft ist klar: die Bürokratie und das in Italien traditionelle Hickhack müssten schleunigst in den Hintergrund rücken – ebenso die Selbstdarstellung der Politiker. „Italien muss jetzt auf die Überholspur“, sagt Gentiloni. Das ist wohl einfacher gesagt als getan.
Giuseppe Conte, der angeschlagene Ministerpräsident, ist nicht zu beneiden. Seine Koalitionspartner, die Protestbewegung „Cinque Stelle“ und die Sozialdemokraten, haben teils völlig verschiedene Ansichten, wie das Geld ausgegeben werden soll. Kompromisse scheinen in weiter Ferne zu liegen. Eine Strategie ist nicht erkennbar.
Und jetzt fällt auch noch Matteo Renzi, der frühere Ministerpräsident, dem jetzigen Regierungschef in den Rücken. Er und seine kleine Partei „Italia Viva“ drohen ultimativ, Conte in den ersten Tagen des neuen Jahres zu stürzen. Renzi hat in vielem Recht. Er beklagt, dass die Regierung keine Visionen habe und nur alte, nicht zukunftsträchtige Projekte finanzieren wolle. Sie verschlafe diese historische Gelegenheit, Italien zu modernisieren. Den Vorstellungen Contes würden „die Seele“ fehlen, sagt Renzi und fügt bei: „Für mich ist diese Regierung am Ende.“
Mit seiner Attacke katapultiert sich der abgehalfterte Matteo Renzi wieder in die Schlagzeilen. Seine Mini-Partei kommt laut letzten Umfragen auf 2,7 Prozent der Stimmen. Viele werfen ihm vor, er wolle nur sein unersättliches Ego wieder befriedigen. Doch sein Vorprellen stösst auch bei vernünftigen Politikern auf Zustimmung. Contes Regierungszeit könnte durchaus bald einmal zu Ende sein.
Und dann? Neuwahlen wären verheerend für das Land. Dann befände sich Italien zunächst in einem drei-, viermonatigen aufreibenden Wahlkampf. Und während dieser Zeit könnte erst recht kein ernsthafter, von der EU verlangter Reformplan zustande kommen.
Wenn Conte stürzt, wird Staatspräsident Mattarella, ein moralisches Schwergewicht, versuchen, eine neue Regierung zu bilden. Wieder mit Conte? Wieder mit den Sozialdemokraten und den Cinque Stelle – aber ohne Conte? Viele drängen sich vor, um Regierungschef zu werden.
Schon gibt es abenteuerliche Spekulationen: Würde der Sozialdemokrat Renzi eine Rechtskoalition zustande bringen, und zwar mit dem noch immer Fäden-ziehenden Berlusconi und dem Rechtspopulisten Matteo Salvini? Und mit dissidenten Cinque-Stelle-Politikern? Viele schaudert es schon.
Wahrscheinlicher ist, dass Mattarella versuchen würde, eine Allianz zu zimmern, und zwar mit Mario Draghi als Ministerpräsident. Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank wird seit längerem als möglicher Regierungschef gehandelt. Doch auf welche Koalition würde sich Draghis Regierung stützen? Italien könnte vor einem turbulenten Januar stehen.
Über allem steht die Frage: Ist Italien überhaupt in der Lage, auf die Überholspur zu wechseln? Fehlender Gemeinsinn und tiefsitzende Bürokratie lassen sich nicht über Nacht ändern – ebenso wenig wie der Hang zur Konfusion und die unbezähmbare Lust, einfache Dinge zu verkomplizieren.