„Die Lage ist ernst, Herr Präsident“, schreibt der frühere italienische Ministerpräsident Matteo Renzi in einem offenen Brief an Regierungschef Giuseppe Conte. Dieser befindet sich in einer höchst unangenehmen Lage. Er muss nicht nur die Coronapandemie eindämmen. Innerhalb seiner Regierungskoalition gärt es. Und im Hintergrund wartet die rechtspopulistische Lega auf seinen Sturz.
Renzis langer Brief ist freundlich und konziliant abgefasst. Doch so freundlich ist er nicht. Zwischen den Zeilen droht der frühere Regierungschef: Wenn sich die Regierung nicht endlich wachrüttle, würden die Renzianer sie nicht länger unterstützen. In diesem Fall droht der Regierung Conte der Kollaps.
Werbung in eigener Sache?
Der Brief ist fast 7’000 Worte lang. Er enthält viele Wahrheiten und gute Ideen. Der frühere Ministerpräsident legt den Finger auf heikle wunde Punkte. Trotzdem wird man den Verdacht nicht los, dass es sich vor allem um Werbung in eigener Sache handelt.
„Wir haben die höchste Zahl von Corona-Toten in Europa“, heisst es in dem Brief. „Es ist sinnlos, mit der Rhetorik ‚alles ist gut‘ weiterzumachen.“
„Vernachlässigte Gesundheitspolitik“
Das Land sei schlecht auf die Pandemie vorbereitet gewesen. Die Regierung habe zudem bei der Eindämmung der Corona-Krise geschlampt. „Wir können nur hoffen, dass es bei den Impfungen nicht wieder, wie bei den Tests, zu Verspätungen kommt. Italien muss in der ersten Reihe stehen, wenn der Impfstoff verteilt wird.“
Der 45-jährige Renzi wirft der Regierung Conte vor, zu wenig Geld in die Gesundheitspolitik zu investieren. „Wie ist es möglich, nur neun Milliarden in die Gesundheit zu stecken?“, schreibt er. Er selbst habe in den drei Jahren seiner Regierungszeit sieben Milliarden mehr investiert. Die Botschaft ist deutlich: Hätte die Regierung mehr in die Gesundheitspolitik investiert, hätte die Pandemie nicht dieses Ausmass erreicht.
Kein gutes Haar
Doch Renzi begnügt sich nicht mit einer Kritik an der Corona-Politik. Eigentlich findet er kein gutes Haar an Contes Politik.
Der Sozialdemokrat Renzi war von Anfang 2014 bis Ende 2016 italienischer Ministerpräsident. Er war einer der wenigen, der Visionen hatte und die eigentlichen, tiefgreifenden Probleme Italiens erkannte und angehen wollte. Seine Bilanz kann sich sehen lassen.
Doch beliebt war er nicht. Das lag auch an seiner forschen, autoritären Art. Ein Brückenbauer war er beileibe nicht. Eine von ihm angestrebte tiefgreifende Verfassungsreform verband er mit seinem persönlichen Schicksal und präsentierte sie dem Volk zur Abstimmung. Nachdem sein Vorhaben mit 59 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde, trat er zurück.
„Italia Viva“
Doch ein Alphatier wie Renzi verschwindet nicht vom Fenster. Da er in seinem sozialdemokratischen „Partito Democratico“ (PD) jetzt nur noch die dritte oder vierte Geige spielte, spaltete er sich faktisch mit einer eigenen Mitte-Partei von der Mutterpartei ab. Er versprach jedoch, die Sozialdemokraten weiter zu unterstützen – dies vor allem, um eine Machtergreifung des rechtspopulistischen Lega-Chefs Matteo Salvini zu verhindern.
Mit „Italia Viva“, so heisst die neue Partei, hoffte Renzi, wieder eine wichtige Rolle in der italienischen Politik spielen zu können. Doch Italia Viva kommt nicht über 4 Prozent Zustimmung hinaus – kein Erfolgserlebnis für den Ex-Ministerpräsidenten, der bei den Europa-Wahlen 2014 über 40 Prozent der Stimmen erhalten hatte.
Contes knappe Mehrheit
Trotzdem: Die jetzige Regierung von Ministerpräsident Conte ist auf Renzi angewiesen.
Conte steht einer Koalitionsregierung vor, die aus Sozialdemokraten und Mitgliedern der Protestbewegung „Cinque Stelle“ gebildet wird. Doch diese Koalition verfügt in der 630 Sitze zählenden grossen Kammer nur über 40 Sitze mehr als die Rechtsparteien – und von diesen 40 gehören 31 Renzis Italia Viva an.
Klein, aber einflussreich
Wenn diese 31 nun Conte das Vertrauen entzögen, ginge der Regierungschef schwierigen Zeiten entgegen – vor allem auch, weil es bei den „Fünf Sternen“ immer wieder Abweichler und Querschläger gibt – neuerdings aber auch bei den Sozialdemokraten.
Renzis Partei, so unbedeutend sie sein mag, hat also grossen Einfluss und spielt das Zünglein an der Waage. Renzi weiss das und nützt es aus.
„Haben wir keine neuen Ideen?“
Sein langer, offener Brief liest sich vor allem als Empfehlungsschreiben in eigener Sache. Der Brief ist wohl eher an die Bevölkerung gerichtet als an den „Caro presidente“. Dennoch enthält das lange Schreiben viel berechtigte und bedenkenswerte Kritik.
Scharf geht Renzi mit der Wirtschaftspolitik der Regierung Conte ins Gericht. Renzi fürchtet, dass die 209 Milliarden, die die EU jetzt über Italien ausschüttet, undemokratisch und falsch verwendet würden. „Welchen Sinn macht es, 88 Milliarden nur für die Finanzierung von Projekten auszugeben, die bereits existieren? Haben wir eine Vision, oder haben wir nur aus den Schubladen der Ministerien die alten Vorschläge herausgeholt? Haben wir heute keine guten, neuen Ideen?“
„Keine Visionen“
Man müsse kein Keynesianer sein, um zu verstehen, dass der einzige Weg zu Wachstum über öffentliche und private Investitionen führe. Doch da werde viel blockiert. Wieso würden in Rom die Metro-Linien B1 und C und in Mailand die Metro 5 nicht gebaut? Viele Eisenbahnprojekte würden auf ihre Verwirklichung warten, im Norden und im Süden, so die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Salerno nach Palermo. Das würde Arbeitsplätze schaffen. Auch der Bau von Flughäfen, Häfen, Schulen, Krankenhäusern, die Versorgung mit Glasfaserkabeln, die Renovierung von Gefängnissen, in denen Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen leben, würde der Wirtschaft Auftrieb geben.
Renzi wirft Conte generell vor, keine Visionen zu haben, sondern nur ein Verwalter zu sein. Wie soll die Zukunft digital gestaltet werden? Schlüsselthemen wie Künstliche Intelligenz KI, Big Data, Biowissenschaften, Robotik würden stiefmütterlich behandelt. „Die Welt bewegt sich: Wir brauchen eine Vision, kein Management, das sich in tausend Rinnsalen und separaten Büros verliert.“
Kultur – Divertissement für gelangweilte Herren
Und die Umwelt, und das Klima? Keine Vision, keine Kreativität. „Lassen Sie uns in ökologische Nachhaltigkeit investieren“, schreibt Renzi.
Während Joe Biden den früheren Aussenminister John Kerry zum Klimaschutz-Beauftragten ernannt hat, gebe es in Italien „einen Flickenteppich von Zuständigkeiten zwischen dem Umweltministerium, dem Aussenministerium und dem Regierungschef“.
Ferner verlangt Renzi mehr Einsatz zur Förderung der Kultur und des Tourismus. „Wir müssen die Sicht aus dem neunzehnten Jahrhundert über Bord werfen. Damals wurden Museen und Theater als Divertissement für gelangweilte Herren betrachtet.“ Doch die Kultur sei „die Basis unserer Identität“. Kulturschaffende seien nicht diejenigen, „die uns unterhalten, sondern diejenigen, die uns daran erinnern, wer wir sind, warum wir leben, warum wir lieben, warum wir noch träumen können“. Wenn Italien aber von den 170 EU-Milliarden nur 3 Milliarden für Kultur und Tourismus ausgebe, „sind wir auf verlorenem Posten. Herr Präsident, haben Sie eine Ahnung, wie sehr Hotels, Restaurants, Kunststädte und Betreiber leiden?“
Genüsslich über den eigenen Bauch streicheln
Renzis Brief kommt nicht nur gut an. Vor allem der Zeitpunkt stört viele. In Italien sind bisher über 67‘894 Menschen am Virus gestorben (Stand: Samstag *). Die Zahl der Infizierten steigt wieder stark an. Pro Tag werden bis zu 20‘000 neue Fälle und fast 700 Tote gemeldet. Vom 24. Dezember bis zum 6. Januar geht das Land wieder in den totalen Lockdown. Die meisten weihnachtlichen Familientreffen, die für die Italiener so wichtig sind, werden verboten. Ministerpräsident Conte ist wirklich nicht zu beneiden. Und in dieser Zeit, so kritisiert ein Römer Journalist, „streichelt sich Renzi genüsslich über seinen eigenen Bauch“ und lässt einen Werbespot in eigener Sache steigen.
Die Frage ist nur: Meint es Renzi ernst, oder will er sich nur in den Mittelpunkt stellen? Oder verlangt er mehr Einfluss in der Regierung: mehr Ministerposten? „Was zur Diskussion steht, sind Ideen, keine Regierungsposten“, sagt er vielleicht etwas scheinheilig. Will er mit seinen versteckten Drohungen erreichen, dass viele Anliegen seiner Partei durchgesetzt werden?
„Un caro saluto“
Oder könnte er seine Drohung wahrmachen und der Regierung das Vertrauen entziehen? Hofft er dann auf Neuwahlen? Damit könnte er erreichen, was er bestimmt nicht will: dass nämlich die postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ und die teils rechtsextreme Lega an die Macht gelangen.
Doch vielleicht wird alles nicht so heiss gegessen, wie es angerichtet ist. Der Brief endet jedenfalls versöhnlich: „Wir haben nur einen Wunsch: dass Italien auf Kurs kommt. Wir wollen über diese Themen sprechen und sind bereit, sie zu diskutieren.“
Und: „Un caro saluto, ci vediamo domani.“
*) Grossbritannien verzeichnet 66'541 Tote