Ministerpräsident Guiseppe Conte war eben von Brüssel nach Rom zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft auf dem Römer Flughafen war er euphorisch. Die EU hatte an ihrer Sondersitzung Italien 209 Milliarden Euro zugesprochen – ein gigantischer Geldsegen.
Gleichzeitig gingen die Zahlen der Corona-Infektionen zurück. Italien schien die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Beliebtheitswerte von Giuseppe Conte stiegen und stiegen.
„Mit den 209 Milliarden Euro wollen wir Italien wieder durchstarten lassen“, sagte Conte. „Wir wollen das Gesicht dieses Landes verändern.“
Das war im vergangenen Sommer.
Tempi passati
Fünf Monate später: von Durchstarten keine Rede. Im Gegenteil: Die Regierung streitet, was mit den vielen Milliarden geschehen soll. Conte wirkt unsicher, er zögert. Wie eine Billardkugel wird er hin- und hergeschubst.
Die Corona-Infektionen steigen wieder rapide. Im vergangenen Frühjahr zeigten Italiener und Italienerinnen eine beispiellose Solidarität und Disziplin. Man hielt sich rigoros an die Vorgaben. Man blieb zuhause, man half sich, man sang an den Fenstern und machte sich Mut. Tempi passati.
Zwar sieht auch jetzt die Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit des weihnachtlichen totalen Lockdowns ein – doch immer mehr Italiener lehnen sich gegen die Regierung auf. „Wieso schon wieder zuhause eingesperrt? Hätte man nicht Zeit gehabt, sich besser auf eine zweite oder gar dritte Welle vorzubereiten?!“
Gefragt sind radikale Strukturreformen
Es gärt in der italienischen Regierung. Von allen Seiten wird der Ministerpräsident angegriffen, auch von seinen eigenen Leuten. Seine Beliebtheitswerte sinken und sinken. Kann sich der gewiefte Taktiker über Wasser halten? Und für wie lange? Und wenn er stürzt? Gibt es dann Neuwahlen? Triumphieren dann die Rechtspopulisten?
Die Zeit drängt. Das Land hat industriell und technologisch den Zug längst verpasst. Zwar gibt es einige schöne Vorzeigeprojekte, doch sie sind die Ausnahme. Wirtschaftlich lahmt das Belpaese seit Jahren. Nötig wären endlich radikale Strukturreformen: ein Abbau der schrecklichen Bürokratie, eine Modernisierung der Industrie, eine grundlegende Reform der Justiz. Mit den 209 EU-Milliarden hatten viele gehofft, das Land endlich moderner, wettbewerbsfähiger und wieder innovativer zu machen.
Schnell kam jedoch die Befürchtung auf, der Geldsegen könnte wirkungslos versickern. Alle würden nun die hohle Hand hinhalten, jedes Ministerium, jeder Politiker, jede Partei, die Gewerkschaften, die KMUs, die Industrieverbände, die Kultur, das Gesundheitswesen. Und am Schluss ist das Geld weg: und die Strukturreformen auch. Soweit die Befürchtung.
Der Teufel liegt im Detail
Damit es nicht so weit kommt, hat die Regierung Conte schon früh einen provisorischen Plan vorgelegt: Er besteht aus sechs Kapiteln: Digitalisierung, Umwelt, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung und soziale Inklusion.
Soweit so gut, doch dann taten die italienischen Politiker das, was sie am besten können: sie stritten sich theatralisch. Wer soll wie viel erhalten? Laut dem Entwurf sollen 74,3 Milliarden Euro für den Aufbau eines nachhaltigen und umweltfreundlicheren Industriesystems dienen. 48,7 Milliarden Euro sollen zur Förderung der Digitalisierung und der Innovation zur Verfügung gestellt werden. 27,7 Milliarden Euro will die Regierung für Infrastruktur und grüne Mobilität aufwenden. 19,2 Milliarden Euro sollen für Bildung und Forschung und 17,1 Milliarden Euro für die Förderung der Chancengleichheit eingesetzt werden. Und: Neun Milliarden Euro will die Regierung dem Gesundheitswesen zuweisen.
Doch der Teufel liegt im Detail. Conte war sich bewusst, dass sich die Minister und das Parlament bei der Zuweisung der Gelder in endlosen Streitereien verrennen könnten. Deshalb ernannte er eine Taskforce. Diese bestand aus sechs „Super-Managern“ und einigen Dutzend Experten. Sie sollten nun im Detail erarbeiten, wer und warum wie viel Geld erhält.
„Gegenparlament“
Doch Contes Idee mit der Taskforce war keine gute Idee. Sofort schrien Politiker und Parteien auf und sprachen von einer „Entmachtung des Parlaments“, einem „Gegenparlament“, einer „Umgehung der demokratischen Institutionen“. Der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi drohte in einem offenen Brief, der Regierung das Vertrauen zu entziehen – was zum Sturz Contes hätte führen können (siehe: Journal21, „Renzi prescht vor“).
Das Land stand wieder einmal vor einer Regierungskrise, Conte drohte zu stürzen.
Renzi, ein schlauer Fuchs, konnte sich durchsetzen. Am Dienstag dieser Woche fand eine Krisensitzung zwischen dem Ministerpräsidenten und Vertretern von Renzis Mitte-Partei „Italia Viva“ statt. Nach der Zusammenkunft sagte Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova, eine „Renzianerin“: „La task force non c’è più.“
Weihnachtlicher Waffenstillstand
Conte war eingeknickt. Die Regierungskrise verschoben. Über die Feiertage herrscht ein weihnachtlicher Waffenstillstand. Doch auch wenn es die Taskforce nicht mehr gibt: „Die Krise ist nicht abgewendet“, schreibt am Mittwoch die Zeitung „La Repubblica“. Renzi hat schon durchblicken lassen, dass er nicht locker lassen wird. Es geht vor allem um Grundsätzliches.
Renzi ist nicht der Einzige, der der Regierung Trägheit vorwirft. „Jetzt haben wir viel, viel Geld, jetzt hätten wir die Möglichkeit, das Land mit neuen Ideen grundlegend zu reformieren“, heisst es in Rom. „Doch wir verlieren uns in unserem traditionellen Hickhack.“ Es fehlten innovative Ideen, die Regierung müsse endlich aufwachen. Conte sei kein weitsichtiger Politiker, sagt Renzi. Er habe keine Visionen, er sei nur ein Verwalter.
Doch Renzi sollte eigentlich wissen, was mit „weitsichtigen Projekten“ in Italien geschieht. All seine wichtigen Vorhaben, die er während seiner fast dreijährigen Regierungszeit (2014–2016) präsentierte, zum Beispiel die Arbeitsmarktreform, konnte er nicht durchsetzen. Seine vorgeschlagene Verfassungsreform, die endlich ein effizienteres Regieren erlaubt hätte, wurde vom Volk abgelehnt. Daraufhin trat er zurück. Italien ist ein festgefahrenes Land, neue Ideen haben es schwer.
„Wir sind immer und bei allem die Letzten“
Renzi hat in vielem recht: Bisher liess die Regierung keine Strategie erkennen. Es ist zu befürchten, dass es nicht zu den nötigen einschneidenden Strukturreformen kommt, sondern dass alle mit einigen Milliarden zufriedengestellt werden. Renzi warnt davor, dass die Minister alte Projekte aus den Schubladen holen und sie finanzieren wollen. Von Innovation keine Spur. Vor allem stört ihn auch, dass in Zeiten der Corona-Pandemie nur 9 Milliarden für das darbende Gesundheitswesen eingesetzt werden sollen.
Im Juli hatte die EU das Wiederaufbauprogramm beschlossen. Die meisten Staaten, die in seinen Genuss kommen, haben Brüssel bereits detaillierte Vorstellungen vorgelegt, was finanziert werden soll. Italien nicht, Italien streitet noch. „Wir sind immer und bei allem die Letzten“, schrieb an diesem Montag der Editorialist Gabriele Canè in der Zeitung „Il Quotidiano“.
Conte ist nicht zu beneiden. Seine Regierung stützt sich auf eine Koalition zwischen dem sozialdemokratischen „Partito Democratico“ und der Protestbewegung „Cinque Stelle“. Er selbst gehört keiner Partei an. *) Immer wieder ist er den Launen der erratischen „Fünf Sterne“ ausgesetzt. Die Sozialdemokraten spielen eine konstruktivere Rolle als die „Sterne“. Conte hat bisher, moralisch unterstützt von Staatspräsident Sergio Mattarella, keine schlechte Arbeit geleistet. Er hat getan, was getan werden konnte.
Dampf aufsetzen
Es sei wichtig, sagt er jetzt, dass Italien die Chance nutze, die Gelder richtig einsetze und so zur Förderung des Wachstums beitrage. Vor allem soll die Industrie mit „grünen Technologien“ gefördert werden. Ein Konjunkturprogramm soll der Wirtschaft Auftrieb geben. Ziel ist es auch, die Steuern zu senken.
Jetzt will Conte Dampf aufsetzen. Er wolle „diese Feiertage nutzen und arbeiten“ und noch vor Ende des Jahres den Ministern einen endgültigen Entwurf vorlegen. „Wir können uns keine Verzögerungen leisten, die Glaubwürdigkeit des Landes in der EU hängt davon ab. Es wird ein nationales Projekt sein. Alle Forderungen der Sozialpartner werden gesammelt. Dann legen wir alles dem Parlament vor. Wir haben einen engen Zeitplan, wir können uns keine Verzögerungen leisten.“
Doch auch wenn dies gelingt: dann sind die Minister dran und dann die Parlamentarier und dann die Regionen und dann die Verbände und dann die Sozialpartner und am Schluss noch die Gemeinden – und dann wird gestritten, und dann wird jeder und jede dreinreden. Es wird noch dauern, bis Italien der Brüsseler Kommission sein Wiederaufbauprogramm vorlegt. Und zum Schluss muss die EU das Programm erst noch genehmigen. Erst dann fliesst Geld.
Der Heuchler
Während um eine Verteilung der Milliarden gerungen wird, gibt sich Lega-Chef Matteo Salvini wieder einmal als populistischer Heuchler. Er werde seine Weihnachtspläne nicht ändern, sagt der sehr rechtsstehende Populist. Er werde an Weihnachten „wie jedes Jahr an diesem Tag jemandem in der Not helfen“. Er werde am 25. Dezember, wenn alles geschlossen ist, rausgehen und mit Obdachlosen zu Mittag essen. Niemand und kein Gesetzeserlass könne ihn daran hindern, jemandem zu helfen, der in Not ist. „Natürlich werde ich es mit einer Maske und der nötigen Distanz tun.“
Und natürlich wird er es in Anwesenheit von Fotografen und Fernsehstationen tun.
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*) Die italienische Regierung (Conte II) wird getragen vom „Movimento Cinque Stelle“ (M5S, Fünf Sterne), vom sozialdemokratischen „Partitio Democratico“ (PD), von der Partei „Liberi e Uguali“ (LeU), von „Italia Viva“ (IV) und vom „Movimento Associativo Italiani all’Estero“. Dominierende Kräfte sind die Cinque Stelle und die Sozialdemokraten.