Er hat sich in den letzten Jahren zu einer Art Chef-Prophet entwickelt. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2008 sagte Nate Silver das Ergebnis fast hundertprozentig richtig voraus. Nur in einem der 50 Bundesstaaten, in Indiana, täuschte er sich knapp.
Vor vier Jahren kam es noch besser. In allen 50 Staaten lag er richtig. Landesweit prognostizierte er 50,8 % für Obama. Der Präsident erhielt 50,5 %.
Das katapultierte ihn auf den Olymp der Meinungsforscher. Die Washington Post bezeichnet den jetzt 38-jährigen Statistiker als „Rockstar“ der Meinungsforscher.
Die Blutwerte der Baseball-Spieler
Seine Karriere hatte er mit Voraussagen zu Baseball- und Footballergebnissen begonnen. Schon damals täuschte er sich selten. Er fütterte den Computer mit Tausenden Daten, machte Mischrechnungen, zog sogar die Blutwerte und den Cholesterinspiegel der einzelnen Spieler mit ein, sah voraus, wie viele Zuschauer die Mannschaft anfeuern werden.
Dann stieg er in die Politik ein. Selbst führt er keine Meinungsumfragen durch. Dafür ist er sich zu schade. Er stützt sich auf die Umfragen der andern. Doch nicht nur.
Meinungsforscher, die nur eins zu eins das prophezeien, was ihnen die Befragten am Telefon sagen, liegen immer falsch. Die Analysten wissen, da wird gelogen.
Tausende Daten
Nate Silver hat der Branche klar gemacht: Es genügt nicht, einfach 1‘200 Telefoninterviews durchzuführen, die Ergebnisse mit einem Computerprogramm etwas zurechtzubiegen, einige Vergleiche mit früher anzustellen – und dann zu glauben, das Schlussresultat würde richtig herauskommen.
Nate Silver arbeitet nach einer völlig neuen Methode. Neben allen Umfragen zieht er in seine Berechnungen Tausende anderer Daten mit ein. In allen 50 Bundesstaaten führt er eigene Analysen durch.
- Er eruiert, wie stark die Wahlkampfauftritte der Kandidaten besucht werden.
- Er analysiert im Internet die Kommentare zu den einzelnen Kandidaten.
- Er stellt fest, wie die Wahlkampfspots der Kandidaten beim Publikum ankommen.
- Er zieht die Klickzahlen der Webseiten der einzelnen Kandidaten und Parteien in seine Berechnungen mit ein.
- Er analysiert die Einschaltquoten der Wahlsendungen.
- Er beobachtet die Zeitungskommentare und Leserbriefe in den lokalen Zeitungen.
- Er prüft, welche ideologische Haltung die Chefredaktoren der lokalen Zeitungen haben.
- Er versucht zu eruieren, wie viele Spendengelder die Kandidaten in den einzelnen Bundesstaaten erhalten.
- Er untersucht, wie oft die Bewohner der einzelnen Staaten in die Kirche gehen – und in welche Kirche.
- Und vor allem hält er ein Auge auf die demografische Entwicklung in den einzelnen Bundesstaaten.
Lange Zeit hat er für die New York Times gearbeitet. Doch dann überwarf er sich mit ihr und stellt seit drei Jahren auch Prognosen für den amerikanischen Sport-TV-Sender ESPN an.
Hokuspokus?
Sein Unternehmen heisst „FiveThirtyEight“. Der Name leitet sich von der Anzahl Abgeordneten im Kongress ab. Das Repräsentantenhaus und der Senat zählen zusammen 538 Parlamentarier.
Inzwischen arbeiten 45 Journalisten und IT-Spezialisten für seine Firma. Im letzten Jahr wurde FiveThirtyEight von 8,7 Millionen Usern angeklickt.
Da er fast immer richtig lag, wurde er bewundert – und beneidet. Alles sei „viel Show, viel Hokuspokus, viel Magie“, sagten seine Konkurrenten der grossen Institute. Doch sie mussten zugeben, dass er meist recht hatte.
Unterschätzter Hassprediger
Dann kam Donald Trump. Und dann fiel Nate Silver auf die Nase.
Seine Berechnungen waren von Anfang an eindeutig: Trump schafft es nie. So dumm sind die Amerikaner nicht. Seine Analysen, die sich wieder auf Tausende Daten stützten, sagten voraus, dass der aggressive Blondschopf chancenlos war. Noch im Februar war Nate Silvers Verdikt in Stein gemeisselt.
Trotz den ersten Siegen von Trump bei den Vorwahlen waren viele Republikaner entspannt. Sie wurden beruhigt durch die Voraussagen des Papstes der Meinungsforschung.
Es kam anders, Nate Silver musste seine erste grosse Niederlage einstecken. Er hat den Hass, mit dem Trump die Bevölkerung ansteckte, unterschätzt. Die Wucht des Hasspredigers Trump hat ihn überfahren.
„Wir haben gelernt, vorsichtig zu sein“
Jetzt bröckelte der Lack. Nate Silver gab sofort zu, einen „big mistake“ gemacht zu haben und entschuldigte sich. Sofort kamen Zweifel an seinen Modellrechnungen auf. Die Konkurrenz freute sich. Doch viele halten ihn noch immer für den besten Meinungsforscher. Ein schwacher Trost für Silver ist, dass auch die anderen Forschungsinstitute lange Zeit danebenlagen.
Jetzt erklärt Silver bescheiden: „Wir machen die besten Prognosen, die wir machen können.“ Und: „Wir haben gelernt, dass wir vorsichtig sein sollen.“
65 % Wahlchance für Clinton?
Silver aktualisiert seine Vorhersage täglich, oft stündlich. Noch immer sagt er einen klaren Sieg von Hillary Clinton voraus.
Jetzt, 48 Stunden vor der Wahl, gibt er Clinton eine 66,1-prozentige Chance zu gewinnen. Der Wert ist in den letzten Stunden wieder leicht gestiegen.
Auch bei Nate Silver hat die Demokratin in den letzten Tagen stark Boden verloren – allerdings nicht so stark wie in Umfragen anderer Institute. Am 18. Oktober gab er ihr noch eine 88,1-prozentige Chance.
In den entscheidenden Swing States hat Clinton zwar an Boden verloren, könnte aber laut „538“ immer noch genügend Elektorenstimmen sammeln. Nach Silvers jetziger Voraussage würde die Demokratin 292 Elektorenstimmen erobern. 270 sind nötig, um gewählt zu werden.
Laut den Prognosen von Nate Silver wird Trump Ohio (18 Elektoren) gewinnen. In Florida liegt er knapp in Führung. Clinton hingegen könnte die wichtigen 22 Wahlmänner und Wahlfrauen aus Pennsylvania gewinnen.
Jetzt geht es nicht nur um Nate Silvers Ehre. Wenn Trump gewinnt, wird der Shootingstar der Meinungsforscher wohl endgültig vom Thron gestossen. Wenn er das Ergebnis nicht in mindestens 45 der 50 Bundesstaaten richtig voraussagt, dann sind seine glorreichen Tage gezählt. Dann ist er nicht mehr der „Rockstar“ der Wahlanalysten. Dann ist er ein gewöhnlicher Meinungsforscher.