„Ich glaube, ich spreche für alle Amerikaner, wenn ich sage, dass wir froh sind, wenn diese Wahl vorbei ist. Eigentlich spreche ich für den ganzen Planeten, weil die Wahl alles ist, worüber die Leute irgendwo noch reden“, schreibt Roger Cohen in der „New York Times“ in seiner letzten Kolumne vor dem Urnengang am 8. November.
Ein Kränzchen für Bernie
Der Kolumnist wirbt weder für Hillary Clinton noch verdammt er Donald Trump. Cohen windet dem demokratischen Kandidaten Bernie Sanders ein Kränzchen dafür, dass er im Wahlkampf Amerikas wachsende Ungleichheit zum Thema gemacht und Probleme wie den zu tiefen Mindestlohn, das ungerechte Steuersystem oder die ungenügende Gesundheitsreform angesprochen habe. Clinton sei daher nicht anderes übrig geblieben, als zumindest teilweise nachzuziehen.
Lediglich kurz kriegt Donald Trump von Cohen sein Fett weg: „Der Wahlkampf ist, dank Trump, zu einem Schaufenster all dessen geworden, was in der menschlichen Natur niederträchtig, bösartig, vulgär, abstossend, primitiv, gewalttätig, bedrohlich, gereizt, hasserfüllt, unehrenhaft, oberflächlich und genügsam ist.“ Doch die geradezu gehörschädigende Salve abfälliger Adjektive genügt dem Kolumnisten noch nicht: „Der Wahlkampf war auch ein Einführungskurs zum Thema, wie demokratische Gesellschaften vom Pfad abkommen und in einen Horror abgleiten können, der im Nachhinein unvorstellbar scheint. Fauler Kompromiss für Kompromiss, Fehltritt für Fehltritt wird eine Republik demontiert.“
Wichtige Minderheiten und „schweigende Mehrheit“
Wenige Tage vor dem Urnengang ist der amerikanische Wahlkampf in seine heisseste Phase getreten. Für beide Kandidaten gilt es, in „swing states“ unentschiedene Wählerinnen und Wähler auf ihre Seite zu ziehen und ihre Anhänger dazu zu motivieren, auch stimmen zu gehen. Hillary Clinton hilft eine im „Bodenkampf“ erprobte Wahlkampftruppe, die weiss, wie man säumige Individuen zur Urne bewegt. Donald Trump, weniger gut organisiert, vertraut der Ausstrahlungskraft seiner Person und seiner vom Fernsehen übertragenen Auftritte vor Tausenden von Besuchern, um seine Sympathisanten in die Wahllokale zu locken. Dass es seiner Konkurrentin am Freitag gelang, bei einem Konzert in Cleveland (Ohio) die Bühne mit Megastars wie der Sängerin Beyoncé und dem Rapper Jay Z zu teilen, lässt Trump angeblich kalt. Er selbst ist der Grösste.
Hillary Clintons Lager sorgt sich nach wie vor, dass Schwarze in Staaten wie Florida oder North Carolina kommende Woche weniger motiviert sein könnten, für die Demokraten zu stimmen, als noch vor vier Jahren im Falle Barack Obamas. Gleichzeitig stimmt die demokratischen Wahlhelfer optimistisch, dass Latinos mehreren Indizien zufolge dieses Jahr zahlreicher zur Urne gehen werden als 2012.
Donald Trumps Organisation indes hofft auf die Stimmen der „schweigenden Mehrheit“, jener Amerikanerinnen und Amerikaner, die bei der letzten Entscheidung nicht wählen gegangen sind. Allerdings dämpfen Experten diese Hoffnung mit dem Hinweis, dass sich 2016 nicht spürbar mehr Republikaner in die Wahllisten hätten eintragen lassen.
„Möge es nicht mehr lange dauern“
Der fieberhafte Aufwand in letzter Minute seitens der Kandidatin und des Kandidaten ändert aber nichts am Umstand, dass ein überwiegender Teil der Wählerschaft vom Stand der amerikanischen Politik angewidert ist und daran zweifelt, dass es der Siegerin oder dem Sieger im Rennen um den Einzug ins Weisse Haus gelingen wird, die Nation nach einem hässlichen Wahlkampf, wie ihn das Lande so noch nie gesehen hat, erneut zu einen. In einer Umfrage der „New York Times“ und des Fernsehsenders CBS äussern sich acht von zehn Wählern dahingehend, der Wahlkampf habe sie eher abgestossen als angeregt. Ein Schild, das auf einem Rasen in Alexandria (Virginia) eingepflanzt worden ist, zeigt zwei zu flehentlichem Beten ausgebreitete Arme über dem Schriftzug: „Möge es nicht mehr lange dauern“.
Der landesweiten Befragung zufolge liegt Hillary Clinton immer noch relativ knapp vor Donald Trump – mit 45 zu 42 Prozent der Stimmen. Nur rund sechs von zehn Trump-Wählern sagen jedoch, sie würden eine Niederlage ihres Kandidaten akzeptieren. Zwei von fünf dieser Skeptiker glauben nicht, dass der Urnengang 2016 fair abläuft und dass ihre Stimmen korrekt gezählt werden.
Weibliche und männliche Wähler – was Umfragen sagen
Etliche Republikaner sind aber auch überzeugt, dass Donald Trumps Kandidatur der Partei geschadet habe – ebenso viele wie jene, die glauben, die Kandidatur des New Yorker Immobilien-Unternehmers nütze der „Grand Old Party“ (GOP). Eine geeinte Partei sieht anders aus. Es wird interessant sein, zu beobachten, in welche Richtung sich die GOP nach der Wahl entwickelt, und es fragt sich, ob die Machtübernahme des konservativen Flügels total sein wird oder ob es gemässigten Kreisen noch gelingt, Teile ihres früheren Einflusses zu behalten. Auf jeden Fall verheisst die Art und Weise, wie sich führende Republikaner Trump charakterlos, aber berechnend an die Brust geschmissen haben, wenig Gutes.
Die Meinungsumfrage von „New York Times“ und CBS zeigt ferner, dass Hillary Clinton unter Frauen mit einem Vorsprung von 14 Prozent führt, während Donald Trump unter Männern mit 11 Prozent vorne liegt. Die Demokratin erfreut sich dabei des Zuspruchs von 48 Prozent der Weissen mit einem College-Abschluss – ein Wählersegment, das bis anhin überwiegend republikanisch gestimmt hat und dieses Jahr nur noch zu 41 Prozent hinter Trump steht. Der Republikaner ist sich dagegen des Zuspruchs von 58 Prozent der Weissen ohne einen höheren Schulabschluss gewiss.
Trump-Wähler würden sich davor fürchten, dass nun nach einer langen Ära der Männerherrschaft eine Frau ins Weisse Haus einziehe, weiss der populäre US-Filmemacher Michael Moore. Sein jüngster Dokumentarfilm – „Michael Moore in TrumpLand“ – ist die Aufzeichnung eines zweitägigen Auftritts im Murphy Theatre in Wilmington (Ohio), einer Kleinstadt, die erfahrungsgemäss stramm republikanisch wählt, ironischerweise aber im Clinton County liegt, wo 25‘000 eingeschriebenen Republikanern 500 Demokraten gegenüberstehen. In Washington DC läuft der Streifen im „Avalon“, einem historischen Quartierkino an der Wisconsin Avenue in Chevy Chase, das heute dank einer Nachbarschaftsinitiative wieder in alter Schönheit erstrahlt.
Aussterbende Dinosaurier?
Um Trump-Anhänger nicht zu erschrecken, hat Moore in Wilmington die Theaterbesucher südamerikanischer Herkunft auf die Galerie verbannt und um sie herum eine symbolische Pappmauer errichten lassen. Auf dem Balkon dürfen auch Amerikaner muslimischen Glaubens Platz nehmen. Über ihnen lässt der Filmer während seines 75-minütigen Auftritts eine Drohne kreisen.
Mit Hillary Clintons Einzug ins Weisse Haus, prophezeit Michael Moore, würden in Amerika endgültig die Frauen die Macht übernehmen. Die Präsidentin würde jene Männer, die es dann nicht mehr brauche, internieren lassen. Davon verschont würden lediglich die Gescheiten und die Schönen, die es zur Arterhaltung noch brauche. Diese Vorstellung, so der Filmer, mache die Wähler Donald Trumps halb wahnsinnig. Man brauche während einer Wahlveranstaltung lediglich zuzuhören, wie sie brüllten und röhrten: „Es ist der Lärm eines aussterbenden Dinosauriers.“
„Brexit Staaten“
Bei aller Ironie zeigt der Dokumentarfilmer in seiner One-Man Show aber auch Verständnis für jene, die Donald Trump wählen. Er kenne zu Hause in Michigan viele Leute, gleich alt wie er, die wirklich zornig seien: „Und sie sind zu Recht zornig, denn sie sind in die Autoindustrie arbeiten gegangen und haben nun ihre Jobs verloren. Wenn sie wieder Arbeit gefunden haben, dann für viel weniger Lohn. Manche haben zwei oder drei Jobs. Und sie sind zornig, wirklich zornig auf dieses System. Sie sehen Trump als ihren menschlichen Molotov-Cocktail und wenn sie am nächsten Dienstag wählen gehen, dann schmeissen sie ihn mit ihrer Stimme mitten ins System, das er ihnen in seinen eigenen Worten in die Luft zu sprengen versprochen hat. Er wird das wirklich tun. Und das Ganze wird dann zu einem Akt von legalem Terrorismus, nicht wahr?“
Michael Moore nennt Wackelstatten wie Ohio, Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin die „Brexit Staaten“, weil dort wie in Grossbritannien die weisse Arbeiterschaft für eine Systemänderung stimmen werde, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. „Wir stimmen am Dienstag aber nicht darüber ab, ob wir aus Europa austreten wollen. Wenn du Donald Trump wählst, dann stimmst du dafür, dass Amerika Amerika verlässt. Du sagst im Grunde, ‘Wir wollen alles hinter uns lassen, was immer das ist, was wir haben und mit ihm neu beginnen, unter seiner Verantwortung, mit ihm als Erbauer des Neuen.‘ Dieser Gedanke erschreckt mich.“
Der Dokumentarfilmer hat im Übrigen noch nie einen oder eine Clinton gewählt, nicht Bill 2000 und 2004 und nicht Hillary 2008 und 2016, obwohl er seinerzeit im Weissen Haus empfangen wurde und die First Lady sich sehr positiv über ihn äusserte. 2016 hat er in den Vorwahlen für Bernie Sanders gestimmt. Doch will er tags darauf nicht bös in TrumpLand erwachen, hat Michael Moore am 8. November keine andere Wahl.