In unserem Land wird seit Jahren eine leidenschaftliche Diskussion darüber geführt, ob Frontal- oder offener Unterricht zielfördernder sei. Auch darüber, ob sich die Resultate in kleinen, großen oder Sonderklassen markant unterscheiden, wird debattiert. Kindergarten oder Grundstufe, da haben kürzlich die Stimmberechtigten entschieden, was zweckmäßiger sei. Auch jene, die davon gar nichts verstehen. Über die Vor- und Nachteile der Schulleitung an Volksschulen wird weiter gestritten.
Volksschule
Da kommt die Meldung aus der Ferne gerade recht: Zwar ist das inzwischen berühmte Buch bereits vor 5 Jahren erschienen, doch erst jetzt elektrisiert es die pädagogische Welt im alten Europa. Geschrieben hat es John Hattie – Professor an der University of Melbourne, Bildungsforscher, Neuseeländer – und er zieht den uneinigen Fachkräften und politisch Zuständigen buchstäblich den Teppich unter den Füßen weg. „Wir diskutieren leidenschaftlich über Strukturen – doch, sie sind, was das Lernen anbelangt, unwichtig.“ Da reiben sich jetzt wohl einige die Augen. Doch wenn die Times vom wohl einflussreichsten Bildungswissenschaftler der Welt spricht, lohnt sich die Aufmerksamkeit.
Visible Learning heißt das Buch. Es ist das Resultat einer Megaanalyse, bei der mehr als 50‘000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern statistisch ausgewertet wurden. Sämtliche englischsprachige Studien zum Lernerfolg weltweit sind zu einer Synthese verarbeitet und beantworten die Kardinalsfrage: Was ist guter Unterricht? Die Fleißarbeit des Professors dauerte 15 Jahre. Die Antwort ist kurz. Entscheidend ist: die Lehrperson. Die Klassengröße, zum Beispiel, ist völlig unwichtig (im Ranking auf Platz 106). Strukturreformen sind Glaubenssache. Was Schüler lernen, entscheidet der einzelne Pädagoge.
Die kantonalen Erziehungsdirektoren steuern in der Schweiz das Bildungswesen, sie alle wollen nur das Beste für die Jugend. Die einzelnen Kantone sind autonom – deshalb werden die Hauptthemen der schweizerischen Reformideen (Grundstufe, integrativer Unterricht, frühe Sprachförderung und Harmos-Konkordat) nach lokalen Befindlichkeiten unterschiedlich begriffen. Lehrerverbandsdelegierte, Elternvertreter, mehr oder weniger zufällig ausgewählte Politiker, sie alle „glauben“, das richtige Rezept zu kennen. Nur, mit Glauben kommen wir der Sache nicht näher.
Nicht einfacher machen das Puzzle die Bildungsökonomen. Sie kommen – wen erstaunt es - in Studien zu unterschiedlichen Resultaten. „Zuhören statt diskutieren, Wissen pauken“, tönt es hier – dort lesen wir: „Eigenständiges Lernen bringt Schüler nicht zu besseren Leistungen.“ Und an anderer Stelle wird verkündet: „Um die Motivation der Schüler aufrechtzuerhalten, braucht es problemorientierte Aufgaben.“
Derweil plädiert Peter Mott, der ehemalige Direktor der Zurich International School, vehement dafür, die Schüler auf die raue Luft der globalisierten Welt vorzubereiten, „Denkweisen zu entwickeln, die sie flexibel genug machen, um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Es geht um das Vermittlung von kritischem Denken, von Team- und Projektarbeit, von Kreativität“. Seine Kritik am heute praktizierten Schulmodell ist unüberhörbar. „Alles, was hinten rauskommt, muss gleich aussehen.“ Für ihn ist deshalb ein individuelleres Lernen mittels Einsatz der neuen Technologien die Zukunft. Doch er bestätigt: Wissen und Können gehören natürlich als Grundbedingung in jeden Rucksack.
Gemeint ist damit wohl in erster Linie die Weltrevolution Internet. Noch immer fehlt das Fach „Informatik“ an unseren Grundschulen. Ein Fach Medienbildung gibt es im Kanton Solothurn, sonst nirgends. Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ist die Vermittlung der Kulturtechnik Medienkompetenz „eine moderne Form der Alphabetisierung, ohne die man nicht am Leben in der mediatisierten Gesellschaft teilhaben kann“.
Aus einer 2012 veröffentlichten Studie des Kantons Zürich lernen wir, dass von 1068 befragten Schülern im Alter von 12 bis 20 Jahren über 70 Prozent angaben, in der Schule noch nie oder nur am Rande über das Internet gesprochen zu haben. Da haben wir es wieder: Die Kantone sind zuständig und da wuchern die Konzepte und Ansätze; jeder Kanton geht in der Medienbildung eigene Wege. Einig ist man sich nur darüber, dass der integrative, fächerübergreifende Ansatz der richtige sei. Thomas Merz, der Fachverantwortliche für Medienbildung an der pädagogischen Hochschule Thurgau, hat dazu eine klare Antwort: „Das integrative Konzept macht zwar theoretisch Sinn, aber in der Umsetzung funktioniert es offensichtlich nicht.“
Andy Schär, der den Kanton Solothurn bei diesen Fragen berät, wünscht sich ein Fach Medienbildung überall an den Volksschulen. „Was im Leben der Jugendlichen einen so hohen Stellenwert hat, gehört in den Unterricht. Das wirkliche Leben darf in der Schule doch nicht in der Garderobe bleiben.“ Tatsächlich zweifelt wohl niemand daran, dass Surfen im Netz in der Freizeit für unsere Jugend das Thema ist.
Lehre oder Gymnasium?
Nach Beendigung der Volksschule steht die Frage im Raum: Lehre oder Gymnasium. Die ideologisch angeheizte Debatte, ob mehr oder weniger Maturanden, auch darüber ist ein Glaubenskrieg ausgebrochen. Er lohnt sich nicht. Wir brauchen beides und unser duales Ausbildungssystem ist Spitze, auch unsere Universitäten sind es. Angesichts der steigenden Akademikerquote der Erwerbstätigen (weltweiter Trend) ist mehr akademischer Nachwuchs hoch willkommen. Doch ebenso bewährt sich die gute, alte Lehre – hier allerdings darf es nicht zu einem weiteren Anstieg der Lehrabbrüche kommen. Denn ohne valable Ausbildung steigt die Gefahr der Jugendarbeitslosigkeit. Diese ist dann allerdings ein grobes Problem.
Die digitale Transformation der Welt sollte an unseren Gymnasien Auswirkungen auf den Lehrplan haben. Kritisiert werden darf hier wohl die Sprachlastigkeit. Jede Zeit muss ihre Schwerpunkte definieren und daran fehlt es offensichtlich. Schwerpunktsetzung auf Sprache und Geisteswissenschaften ist ein Relikt des letzten Jahrhunderts. Latein büffeln hilft wenig zur Kompetenzförderung im Gestalten von Veränderungen unserer Zeit. Rudolf Strahm schreibt dazu: „Obschon es bloß einige Dutzend neue Fachhistoriker jährlich braucht, gab es letztes Jahr in der Schweiz 4282 Studierende mit Hauptfach Geschichte oder Kunstgeschichte. Und es gab 7847 Studierende in Psychologie, 4520 in Politologie und 1184 in Ethnologie.“ Nur halb so viele Studierende wie in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es in den exakten und naturwissenschaftlichen Richtungen. Wären da nicht auch die Eltern gefordert? Tatsächlich waren 2012 2337 arbeitslose Doktoranden bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) angemeldet. Nicht wenige melden sich schon im letzten Semester dort.
Berühmte Professoren im Internet
In dieser Kolumne soll der Blick in die Zukunft nicht fehlen. Bereits bieten viele angelsächsische Universitäten Gratis-Lehrgänge zum Studium online an. So offeriert die Princeton University in New Jersey „Elite College Courses, Free for All“ an. Deren Pionier, Professor Mitchell Duneier, brachte 2012 seine Lektionen gratis online – 40’000 Studenten aus aller Welt haben sich eingeschrieben. Der Economist sagt voraus, dass viele Universitäten weltweit „second, virtual university“ in ihr Angebot integrieren werden. Und Professor Robert Shiller von der Yale University New Haven verkündete 2012 anlässlich einer Rede an der Universität Zürich (SIAF) nicht ohne Stolz, dass seine Vorlesungen bereits gratis im Internet abgerufen werden könnten. Weltweit und zum Nulltarif revolutioniert das Internet die Bildung. In einer späteren Kolumne werde ich ausschließlich darauf zurückkommen.
Erinnern wir uns abschließend daran, was „unser“ Nobelpreisträger Richard Ernst schon vor mehreren Jahren riet. „Bildung und Forschung sollen sich nicht einfach auf gute Wettbewerbspositionen ausrichten, sondern die Verantwortung für künftige Generationen wahrnehmen.“ Er sieht die Verantwortung der Universitäten ganzheitlicher. Was immer unserer Gesellschaft in Zukunft zum Problem werden könnte, wir haben dazu die gedankliche Vorarbeit zu leisten, davon ist er überzeugt. Die dringend notwendige lange Sicht erfordert die Überwindung von vordergründigen Eigeninteressen und kurzzeitigen Begierden – und dazu ist echte Bildungsarbeit bei Studierenden zu leisten. Langfristig und ganzheitlich denken. Da finden wir uns wieder beim Anfang dieser Kolumne. Denken – das wichtigste Fach.