Jacques Henri Lartigue liebte Gesellschaften und schnelle Autos. Und schöne Frauen. Seine Fotos fanden höchste Anerkennung.
Lartigue war ein verspielter Beobachter, der unversehens seine grosse bildnerische Begabung und gestalterische Kraft ins Spiel bringen konnte. So stösst man wieder und wieder auf beiläufig erscheinende Schnappschüsse und sogleich auf Bilder, die kompositorisch und technisch perfekt sind.
Jacques Henri Lartigue (1894–1986) wuchs in begüterten Verhältnissen auf, so dass er sich der Malerei und zusammen mit seinem Bruder dem Sport und dem Interesse für schnelle Autos und Flugzeuge widmen konnte. In seiner Jugendzeit schenkte ihm sein Vater eine Kamera, und da fing er an, Bilder von seinem Alltag zu machen. Dazu gehörte auch das gesellschaftliche Leben, das er liebte und als dessen fotografischer Chronist er später auch in den USA Ruhm ernten sollte.
Ausstellung im MoMA
Daran hatte John Szarkowski einen ganz wesentlichen Anteil. Szarkowski war 1962 von Edward Steichen zu seinem persönlichen Nachfolger am «Museum of Modern Art» in New York bestimmt worden. Die Fotografie war damals noch nicht als Kunst anerkannt, und so war jede Ausstellung eine Pioniertat. Als Lartigue 1962 in die USA reiste, kam er mit John Szarkowski in Kontakt. Der war beeindruckt und veranstaltete 1963 eine Ausstellung mit Bildern von Lartigue.
Das war zum Teil gewagt, zum Teil auch nicht. Denn Lartigue hatte in Frankreich nicht nur mit seinen Gemälden reüssiert, die 1930 und 1931 in verschiedenen Pariser Salons und schliesslich in der bekannten Galerie Georges Petit gezeigt wurden. Mehr und mehr erschienen seine Fotos auch in den damals führenden Zeitschriften «Points de Vue» und «Images du Monde».
Szarkowski wiederum machte ein Bild von 1912 oder 1913 zum Aufmacher der Ausstellung, dem Lartigue mehrere Jahrzehnte keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, das er aber Szarkowski anlässlich seines Besuchs vorlegte: Seine Aufnahme von einem Autorennen, das unter dem Titel «das verformte Automobil» zu einer Ikone der Fotografie werden sollte.
Im selben Jahr 1963 brachte die Zeitschrift «Life» ein Portfolio von Jacques Henri Lartigue. Weil die Titelstory von der Ermordung Kennedys handelte, hatte dieses Heft weltweit eine besonders hohe Verbreitung, wodurch die Bilder von Lartigue zusätzlich bekannt wurden.
Amerika blieb für Lartigue mehr als eine kurze Episode. Bei seinem Besuch 1962 rollte ihm Richard Avedon zusammen mit seiner Frau Hiro gewissermassen den roten Teppich aus. Beide waren zu dieser Zeit Amerikas führende Modefotografen und sie ebneten Lartigue die Wege zu «Harper’s Bazaar» und «Vogue». – In dem Band von Schirmer Mosel findet man eine zugleich eindrucksvolle und witzige Aufnahme von Richard Avedon in seinem Studio.
Mehrere Ehen
Lartigue führte ein bewegtes Leben. Nach seiner Ehe mit Madeleine Messager, aus der ein Sohn hervorging, lebte er mit Renée Perle zusammen. Er fotografierte sie ebenso gekonnt und leidenschaftlich wie kurz darauf Marcelle Paolucci, seine zweite Ehefrau. 1932 schreibt er unter ihren Halbakt am Strand:
«Ihre Haare werden durch das Salzwasser immer heller und ihre Haut immer dunkler; sie ähnelt mehr und mehr einem Photonegativ.»
1942 begegnete Lartigue an der Côte d’Azur Flore Oméa, die er Ende des Krieges heiratete. Er nannte sie Florette, und in dem Band von Schirmer Mosel finden sich mehrere Aufnahmen von dieser beeindruckenden und zugleich anrührenden Schönheit.
Wer aber ist Marie Helvin, die Lartigue 1977 in Cap d’Antibes im Hotel Eden Roc fotografiert hat? Da wüsste man gern mehr. Immerhin notierte Lartigue:
«Sie tritt auf … schlank in den sanften Kurven ihres Körpers. Ich umkreise allein mit meinen Kameras den Pool, während sie ins durchscheinende Wasser gleitet und die langen Haare über ihre Brüste streichen.»
Anruf des Präsidenten
In dem Band findet sich eine Geschichte, wie sie sich in dieser Weise wohl nur in Frankreich abspielen konnte. Eines Tages im Jahr 1974 klingelt das Telefon und Florette geht ran. Dann ruft sie Jacques Henri. Er fragt, wer ihn sprechen wolle. Sie antwortet trocken: «Der Präsident». Er fragt, um welchen Präsidenten es sich handele, und tatsächlich war Valéry Giscard d’Estaing am anderen Ende der Leitung. Er wollte, dass Lartigue das offizielle Präsidentenfoto seiner Amtszeit mache. Der wehrte ab und meinte, dass seine Fotos mit diesem Genre nichts zu tun hätten. Darauf d’Estaing: «Genau, exakt darum geht es mir.»
Überwiegend aber war Lartigue in der Öffentlichkeit als Chronist der «Belle Epoque», also der guten Jahre des Bürgertums vor 1914, bekannt. Er selbst muss sich auch so gesehen haben. Denn von den 1970er Jahren an begann er, Fotos, Eintragungen in Agenden, Tagebuchnotizen und ähnliche Dokumente sorgfältig zusammenzustellen und zu editieren. Der Anspruch des Malers und des Profi-Fotografen setzte hohe Massstäbe. Insgesamt 126 Bände sind auf diese Weise entstanden.
Ein Wunsch
Heute ist Jacques Henri Lartigue zumindest ausserhalb Frankreichs wohl nur noch Fachleuten bekannt. Es ist ein grosses Verdienst von Schirmer Mosel, wieder an ihn zu erinnern, und manche seiner Bilder sind geradezu betörend. Leider aber hat sich der Verlag offenbar nicht so recht entscheiden können, ob er diesem grossen Fotografen einer versunkenen Zeit nun einen entsprechenden Bildband widmen soll oder nicht. So ist eine Art Mäuschen herausgekommen: ein kleinformatiger, schmaler Band zu einem niedrigen Preis. Er wirkt eher wie eine Broschüre und wird zwischen veritablen Fotobänden in einem Regal das Schicksal der Unauffindbarkeit erleiden.
Zu wünschen wäre ein gut editierter Bildband, der Lartigues Werk einschliesslich der späteren Sammlungen zum Thema hätte. Lartigue ist mit 92 Jahren in Nizza gestorben. Sein Leben und seine Art, es zu sehen und zu dokumentieren, dürften auf allergrösstes Interesse stossen.
Jacques Henri Lartigue: Das schöne Leben, Photographien. Mit Texten von Jacques Henri Lartigue. Aus dem Französischen von Michaela Angermair. 128 Seiten, 97 Abb. in Farbe und Duotone, broschiert, ca. 14,80 Euro