Die Bilder von William Eggleston werden seit Jahrzehnten von ein- und derselben Frage begleitet: Sind sie Kunst oder sind sie es nicht? Angefangen hat das Ganze damit, dass 1976 der damalige Kurator des Museums of Modern Art in New York die erste Ausstellung mit Bildern von William Eggleston riskierte. Das Cover des Katalogs zierte das Foto eines Dreirads für Kinder, und ein anderes Bild, eine rote Zimmerdecke mit einer Glühbirne, zu deren Fassung drei weisse Kabel führen (Greenwood, Mississippi,1973), wurde ebenfalls präsentiert. Das Publikum war teilweise schockiert, und die New York Times resümierte giftig: «Perfectly banal, perhaps. Perfectly boring, certainly». Der Kurator John Szarkowski aber feierte zusammen mit anderen den Beginn einer neuen Ära der Fotokunst, diesmal in Farbe.
Urteilsvermögen
Heute gelten beide Bilder als Ikonen der Fotografie. Und die vielen Tausend Bilder von Eggleston, die folgten, werden von Fachleuten ebenfalls als Kunst angesehen, obwohl Eggleston nie davon abwich, den ganz banalen amerikanischen Alltag geradezu prosaisch abzulichten. Die wachsende Zahl der Ausstellungen und Publikationen stellt das Urteilsvermögen des grösser werdenden Publikums auf die Probe. Meint es wirklich, Kunst zu sehen? Oder lässt es sich bloss vom Label Eggleston täuschen, insofern alles, was aus seiner Kamera kommt, sowieso unter «Kunst» firmiert?
Der Steidl Verlag in Göttingen räumt dem Werk William Egglestons schon seit Langem breiten Raum ein. Im Juli diesen Jahres sind drei Bände mit Bildern erschienen, die Eggleston in den Jahren von 1969 bis 1974 aufgenommen hat. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von 400 Fotos aus einer Gesamtzahl von 5’500. Der Sohn des Fotografen, William Eggleston III, hat diese Auswahl zusammen mit seinem Vater und Mark Holborn, einem international renommierten Herausgeber von Fotobüchern, getroffen.
Daran kann der Betrachter selbst überprüfen, wie die Alltagsmotive auf ihn wirken und ob eine Spannung entsteht, die ihn von einem Bild zum nächsten weiterblättern lässt. Entsteht ein derartiger Sog, so ist damit zwar nicht die Frage beantwortet, ob es sich bei den Fotos von Eggleston um Kunst handelt. Aber zumindest sind die Bilder nicht banal oder langweilig.
Geometrie und Farben
Es gibt etwas in den Bildern, das einige Experten übereinstimmend an Edward Hopper denken lässt. Denn aus dessen Bildern, deren Motive ebenfalls dem amerikanischen Alltag entnommen sind, spricht eine Stimmung, die sich als eine Art metaphysischer Melancholie bezeichnen lässt. Stets ist etwas ungreifbar Drittes im Spiel, so dass man den Eindruck hat, das Abgebildete sei nur ein Ausdruck davon.
Es sind zwei formale Elemente, die die Bilder von William Eggleston prägen. Das ist einmal sein untrüglicher Sinn für Komposition. Er sagt, er mache von jedem Motiv stets nur eine Aufnahme. Dabei trifft er auf Anhieb die perfekte geometrische Gestaltung. Das Zweite ist die sorgfältige Bearbeitung der Bilder. Schon das Dreirad und die Zimmerdecke waren durch das damals für äusserst anspruchsvolle Drucke verwendete Dye-Transfer-Verfahren gegangen. Dabei werden die Farben intensiviert, und Oberflächen erscheinen – etwa bei Autos – makellos. Durch ihre Farben und Oberflächen treten die abgebildeten Dinge geradezu surreal hervor. Dies ist keine fragwürdige Manipulation, denn es wird nur etwas hervorgehoben, was im Ausgangsfoto ohnehin vorhanden ist.
Die eigentlich interessante Frage ist aber, was die Faszination der abgebildeten Autos, Tankstellen, Vorgärten, Imbissbuden, heruntergekommenen Läden oder verfallener Häuser ausmacht. William Eggleston III erinnert in seinem Vorwort an Marcel Duchamp, der alltägliche Gegenstände hervorgehoben und dadurch etwas Besonderes gemacht hat. Ganz sicher ist Eggleston dadurch ebenso inspiriert wie durch die Popart, in der Künstler wie Andy Warhol ebenfalls Alltagsgegenstände geradezu sakralisiert haben.
Diese Verbindung muss den Betrachter heute aber nicht mehr inspirieren. Vielmehr stellt sich bei den 400 Bildern der Eindruck ein, dass es sich bei den abgebildeten Gegenständen oder Konstellationen um Zeichen einer Zivilisation handelt, die wir zugleich verstehen und nicht verstehen. Was bedeutet der Vorgarten mit dem farbigen Baum im Hintergrund, was das offensichtlich schrottreife Auto auf dem verwilderten Grundstück? Manches versteht man, könnte es deuten, aber es bleibt ein grösserer unausdeutbarer Rest. Die Faszination der Bilder liegt in diesem Zwischenraum des Deutbaren und Unausdeutbaren. Philosophen könnten in diesem Zusammenhang an Immanuel Kant denken, der das Wesen der Kunst im freien Spiel der Erkenntniskräfte sah.
Die Zusammenstellung der Bilder in den drei Bänden folgt jeweils eigenen Logiken, die sich aber auch nicht in plakative Überschriften fassen lassen. Offensichtlich ist, dass im Band 3 Abendlicht dominiert und überhaupt eine Art Endzeitstimmung herrscht. Das letzte Foto zeigt einen Sonnenuntergang.
Der Band 1 wiederum beginnt mit einem Auto, dann kommen zwei Bilder mit Strassenoberflächen, und das dritte Bild zeigt ein etwas verlorenes Kind auf einem leeren Parkplatz, der offenbar zu einem Supermarkt gehört. Im Band 2 sticht ein inhaltlicher Kontrast hervor: die Welt der Reklameschriften inmitten trostlosen Verfalls. Dazu kommt der Autokult, der so gar nicht zur Erbärmlichkeit der Behausungen der Besitzer oder vielleicht eher: Kreditnehmer passen will.
Endzeitstimmung
Die meisten Bilder sind menschenleer. Aber Eggleston hat auch Fotos von Familienmitgliedern und deren Altersgenossen gemacht. Auch hier dominiert das Fragende. Insgesamt zeigt Eggleston ein Land, das eher an die Dritte Welt erinnert und von dem man sich nicht vorstellen kann, dass es zu den reichsten Nationen gehört.
Dazu passt der Titel «The Outlands», was soviel heisst wie «entlegene Gebiete» oder «Provinz». Wie ist er auf diesen Titel gekommen? William Eggleston III macht darauf aufmerksam, dass «The Outlands» als grosses Namensschild in dem Vorgarten eines Hauses steht. Hat sein Vater nun die Idee zu dem Titel gehabt und ist zufällig auf dieses Schild gestossen, oder hat ihn dieses Schild inspiriert? Eine Frage dieser Art könnte man auch zu vielen anderen Abbildungen stellen.
Der Preis für die drei Bände bei Steidl ist hoch, und manche werden ihn als prohibitiv empfinden. Aber es gibt schon seit längerem eine Tendenz auf dem Markt für Fotobücher, einzelne Ausgaben in begrenzter Auflage relativ teuer anzubieten. Die Auflage von «The Outlands» ist 2’500, und Gerhard Steidl druckt grundsätzlich nicht nach. Zudem handelt es sich um ein Dokument der Fotogeschichte, das gute Aussicht hat, zum Sammlerstück zu werden.
William Eggleston, The Outlands, 3 Bände, Steidl Verlag, Göttingen 2021, 380 Euro