Zwei lose verbundene Ausstellungen, «Italia» und «Nord – Süd» im Winterthurer Reinhart-Museum, kreisen um Fremd- und Selbstbilder des Belpaese, aber auch um das sich wandelnde Selbstverständnis der Kunst im Lauf der letzten vier Jahrhunderte.
Die mit der Stiftung Oskar Reinhart vereinten Sammlungsbestände des Kunstmuseums Winterthur bilden ein schier unerschöpfliches Reservoir, aus dem sich mit kreativen Ideen immer neue thematische Ausstellungen hervorzaubern lassen. Die Kuratorin Andrea Lutz zeigt im Reinhart-Museum am Stadtgarten gleich zwei solche Aktualisierungen der im Depot schlummernden Schätze. Unter dem schlichten Titel «Italia» präsentiert sie im grosszügigen Dachgeschoss eine Geschichte des Italienbildes vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, die auch eine Gegenüberstellung von Fremd- und Selbstbild ist.
Im zweiten Obergeschoss präsentiert Andrea Lutz in überraschend leergeräumten Sälen zudem die lose an «Italia» anknüpfende Schau «Nord – Süd». Deren Süd-Teil gehört der Arte Povera, jener radikalen Nachkriegsmoderne, die den gesellschaftlichen Befindlichkeiten – und damit auch dem italienischen Selbstbild – mit ätzender Kritik gegenübersteht.
Waren es bis ins 19. Jahrhundert Niederländer, Franzosen, Deutsche und Schweizer gewesen, die mit ihren Sichtweisen das Italienbild von Generationen geprägt hatten, so trat mit der Arte Povera eine italienische Kunstbewegung hervor, die nicht nur der ästhetischen Fremdbestimmung ein Ende gemacht, sondern der ganzen westlichen Kunst einen Reflexions- und Vitalitätsschub verpasst hat. Ein nördliches Gegenstück zu diesem südlichen Kunstlabor verortet die Ausstellungsmacherin beim Gravitationszentrum der Düsseldorfer Kunstakademie sowie den damit verbundenen Namen Gerhard Richter, Isa Genzken, Imi Knoebel, Thomas Schütte, Pia Fries und anderen.
Fragende und sich selbst befragende Kunst
Die beiden Ausstellungen sind lesbar als Manifestationen der Ablösung eines erst idealisierenden, dann objektivierenden Blicks durch eine fragende und insbesondere sich selbst befragende Kunst. Sieht man «Italia» und «Nord – Süd» in dieser Weise als Spiegelungen eines kunsthistorischen Langzeitprozesses, so kann man darin die Anzeichen finden für den sich verflüchtigenden Objektbezug und die in den Vordergrund rückende Selbstreferenz künstlerischer Arbeitsweisen.
Mit seiner Skulptur «Averroè» von 1967 (Bild ganz oben) hat Giulio Paolini das Objekt Fahne gleich mehrfach dekonstruiert: Statt einer einzigen sind an der Stange gleich fünfzehn Nationalflaggen befestigt, womit das Moment der nationalen Identifikation – unzweifelhafter Zweck solcher Textilien – schon mal erledigt ist. Zudem fliegen die Fahnen nicht stolz im Wind, sondern sind niedergelegt, was für patriotische Fahnenträger an sich schon ein Sakrileg ist. Kein Fähndrich, der noch einen Funken Leben im Leib hat, lässt sein Feldzeichen zu Boden sinken! Und zu guter Letzt sind die ungeordnet als farbiger Stoffhaufen drapierten Flaggen auf einem durchsichtigen Postament inszeniert, was die von den niedergesunkenen Nationalsymbolen signalisierte Niederlage zum paradoxen Monument macht.
Paolinis Skulptur ist in der Zeit des Vietnamkriegs geschaffen worden. Man kann diese schöne Arbeit wohl im weitesten Sinn als ein Antikriegs-Manifest lesen. Mit dem Titel «Averroè» gibt der Künstler jedoch noch einen weiteren Hinweis. Der Arzt, Jurist und Philosoph Ibn Ruschd, latinisiert Averroes, war ein muslimischer Andalusier, der im 12. Jahrhundert wirkte und auf die abendländische Philosophie einen enormen Einfluss hatte – insbesondere durch seine Vermittlung des Werks von Aristoteles. Als eigene Leistung skizzierte Averroes die Vorstellung einer universellen Vernunft, an der die Menschen je nach ihrem intellektuellen Vermögen partizipieren, die sie sich aber nicht in Gänze aneignen können. Als Appell formuliert, würde Averroes’ Lehre etwa lauten: Nehmt euch nicht zu wichtig, ihr Individuen, ihr Nationen, Kulturen und Religionen! Ihr könnt an der Wahrheit bestenfalls teilhaben. In Besitz nehmen könnt ihr sie nicht. – Eine Haltung, die sich keinesfalls damit verträgt, hinter Fahnen herzulaufen.
Filigran und verletzlich wirkt die «Scarpetta», das Schühlein von Marisa Merz, einer weiteren Arte-Povera-Exponentin. Das Gespinst aus Nylon und Kupferdraht erscheint wie ein Zwitter aus Artefakt und Natur, ein Kokon auf dem ausgespannten hauchfeinen Gestrick. Indem die Künstlerin die Scarpetta in ihrer eigenen Schuhgrösse ausführte, hat sie dem Werk eine autobiografische Note gegeben, es gar zu einem indirekten Selbstporträt gemacht. Marisa Merz zeigt und versteckt sich zugleich in dem poetischen Objekt. Was sie damit zu erkennen gibt, ist eine Identität im Konjunktiv, eine Anwesenheit ohne Behauptung, eine Verortung im Offenen. Für sie ist Arte Povera nicht in erster Linie eine Kunstrichtung, sondern eine Existenzform.
Bedeutungsgeladene Bildinhalte
Ein Stockwerk höher im Reinhart-Museum bei den frühen Bildern der «Italia»-Ausstellung finden sich von solch materialsensitivem und selbstreflexivem Schaffen selbstverständlich noch keine Spuren. Bei Claude Lorrain (1604/05–1682), dem Ahnherrn des ästhetischen Ideals italienischer Landschaft und «italienischen Lichts», standen die Bildobjekte und deren konventionalisierte Bedeutungen fraglos im Mittelpunkt der Malerei. Alles weitere war Handwerk, das man meistern musste.
Die Aufladung der Sujets mit geradezu übermächtiger Bedeutung war für die nach Italien pilgernden Künstler dermassen selbstverständlich, dass sie weder die gemalten Objekte von deren metaphorischem oder mythologischem Surplus trennen noch die Botschaften der Gemälde und Druckgrafiken als willkürliche Hinzufügungen durchschauen konnten. So wurde denn eine typisierende Landschaftsdarstellung amalgamiert mit den Wunschvorstellungen eines heiteren Arkadiens, einer unverbildeten, mit der Natur lebenden Bevölkerung und einer von der Antike geprägten Kulturlandschaft.
Bildlogik eines Tourismusprospekts
An Lorrains in ganz Europa begeistert aufgenommenem Werk orientierten sich im 17. Jahrhundert die «Bentvueghels», eine in Rom ansässige Gilde niederländischer Künstler, die nebst ihrer gewerbsmässigen Bedienung der Nachfrage nach Bildern des Italienfaches sich auch durch epische Besäufnisse hervortat (und so vermutlich zur frühen Prägung stereotyper Vorstellungen von Künstlertum beitrug). In ihrer Malkunst – typisch ist etwa Jan Both – gewannen im Vergleich zu Lorrain die Landschaftsideale des goldenen Lichts und des bäurischen Lebens an Gewicht, während die mythologischen Gehalte eher in den Hintergrund traten.
Boths «Südliche Landschaft mit See» zeigt das ganze Repertoire des niederländischen Italienbildes. Die Szenerie wirkt allerdings im Vorder- und Mittelgrund nicht sonderlich italienisch. Der Bildraum ist ausstaffiert mit den Kulissen eines im Kunstmarkt gängigen Landschaftstheaters: tiefer Horizont und hoher Himmel, schattendunkler Wald von mitteleuropäischer Art, extreme Tiefenstaffelung vom detailliert gestalteten Betrachterstandort über die Wasserfläche hinweg bis zu den in der Ferne verblassenden Hügeln. Dramatisiert ist die Szenerie von starken Lichteffekten. Soeben schiebt sich eine Wolke vor die schon ziemlich tiefstehende Sonne.
Ausserdem ist das Bild voller Geschichten. Ein Bauer treibt zwei Kühe des Weges. Er will wohl vor dem Einnachten sein Zuhause erreichen. Dennoch meint er Zeit genug zu haben, sich dem auf seinem Esel entgegenkommenden Spielmann zuzuwenden, der im Damensitz zur Laute singt. Ein weiterer Reiter, der zusammen mit einem Packesel unterwegs ist, wird gleich hinter einem Felsblock verschwinden. Zwei Angler am Ufer wenden dem Betrachter den Rücken zu. Der eine kauert, wohl um seinen Fang vom Haken zu nehmen, der andere behält den Hund im Auge, der den Vorgang beobachtet.
Es ist also ganz schön was los in dieser einsamen Gegend. Gut möglich, dass die Episoden alle auch «moralisch» gelesen werden können, etwa: Wer sein Vieh nach Hause zu bringen hat, lasse sich nicht von Gauklern ablenken; wer fischen will, nehme die Hände aus den Hosentaschen; um Hab und Gut nicht zu verlieren, reite man hinter und nicht vor dem Tragtier. Solcher Common Sense lädt den Staffagen nicht mehr Bedeutung auf, als sie tragen können, und verpasst ihnen doch einen Alltagssinn, wie ihn die an moralisierende Genrebilder gewöhnte Klientel erwartet.
Solch szenische Miniaturen gehören zu einem kunstgerecht gefertigten Landschaftsbild. Sie zeichnen den Menschen ein ins Panorama einer idealen Natur, wie man sie ersehnt und im gelobten Süden, einem imaginierten Italien, zu finden glaubt. Die Produktion der Bentvueghels gehorcht der Bildlogik des Tourismusprospekts. Es drängt sich denn auch auf, wie das die «Italia»-Ausstellung tut, die nordalpine Italienschwärmerei vergangener Jahrhunderte mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Massentourismus Richtung Süden zu vergleichen.
Revolutionierung der Landschaftsmalerei
In der Kunst des 19. Jahrhunderts war die Landschaftsmalerei, die lange Zeit neben der religiösen Kunst, der Historienmalerei und dem Porträtfach ein Schattendasein gefristet hatte, plötzlich zur innovativsten Disziplin geworden. In der Auseinandersetzung mit realer Landschaft fanden die Künstler nicht nur ein neues Thema, sondern vor allem auch eine vordem nicht denkbare Autonomie. Die alsbald in den Impressionismus mündenden Umwälzungen der Malerei entzündeten sich am Landschaftsthema.
Selbstverständlich brach sich das gewandelte Kunstverständnis auch in der weiterhin prächtig florierenden Italienverherrlichung Bahn. Die Winterthurer Schau versammelt eine ganze Reihe von Gemälden, die das neue Interesse an landschaftlichen Gegebenheiten, am Objekt der Kunst also, zum Ausdruck bringen.
Bei dem für diese neue Sichtweise typischen Bild Carl Blechens «Die Ruinen des Septizoniums» wird der klare Formwille dieser Malerei ebenso deutlich wie ihr Realismus. Das überbreite Format folgt dem Sujet und unterstreicht kontrastierend die Vertikalstrukturen der Mauer- und Felsformationen. Mit der farblichen Reduktion auf Blau und Ocker sowie der Bildkomposition in horizontalen Schichten erzeugt Blechen den Eindruck des Elementaren: Wir haben eine menschenleere sonnendurchglühte Ruinenlandschaft mit karger Vegetation vor uns. Da bleibt nichts von der kommerziellen Lieblichkeit, wie die Bentvueghels sie am Laufmeter produziert hatten. Die Kunst nähert sich der Realität, um sie in ihrer Schönheit zu erfassen, stellt sich aber auch ihren Spannungen und Brüchen.
Der Deutsche Carl Blechen hatte im frühen 19. Jahrhundert als Kunsttourist im Belpaese schon die Tür aufgestossen zu jener kritischen und dabei auch poetischen Selbstwahrnehmung, wie italienische Künstlerinnen und Künstler sie im 20. Jahrhundert an den Tag gelegt haben. «Italia» bildet diese moderne Position schwerpunktmässig mit Arbeiten einer Exponentin und eines Exponenten der italienischen Fotokunst ab.
Von Luigi Ghirris fotografischer Serie «Paesaggio Italiano» ist eine Sequenz von vierzehn kleinformatigen Bildern ausgestellt, allesamt von hinreissendem episodischem Charme, staunenswerter inhaltlich-formaler Reduktion und kompositorischer Schlüssigkeit.
Anders das Vorgehen der Fotografin Monica Bonvicini in ihrer mit fünfzehn Exponaten vertretenen Serie «Italian Homes». Im Stil von Bernd und Hilla Becher dokumentiert sie in gleichbleibender Frontalansicht Häuser einer Siedlung von Fertigbauten, die von deren Bewohnern im Lauf der Jahre «individualisiert» worden sind. Arrangiert zu einem grossen Tableau, lesen sich die Fotografien als schalkhafter Kommentar zu einer verordneten Einheitlichkeit, die von den Adressaten auf die selbstverständlichste Weise unterlaufen wurde. Indem die Künstlerin ihre Serie schlicht «Italian Homes» nennt, präsentiert sie ein launiges Selbstbild ihres Landes jenseits aller Klischees.
Kunst Museum Winterthur, Reinhart am Stadtgarten:
Italia. Zwischen Sehnsucht und Massentourismus
und
Nord – Süd. Perspektiven auf die Sammlung
beide bis 11. September 2022
Kuratorin: Andrea Lutz