Kleine Reishäufchen, zu Tausenden, insgesamt 1400 Kilo Reis, nehmen beinahe die ganze Grundfläche des grossen Ausstellungssaals im Untergeschoss des Bündner Kunstmuseums ein. Die Installation Wolfgang Laibs ist radikal einfach und gerade darum komplex.
«Ist für eine Kunstausstellung Reis auf dem Boden zu streuen nicht absurd, ganz besonders in Zeiten des Krieges», fragt die Radio-Kulturjournalistin Ellinor Landmann den Künstler. «Nein, im Gegenteil», antwortet Wolfgang Laib. Erst im Krieg werde klar, wie wichtig Kunst und Kultur seien. Sie seien Handlungen, die die Menschen im Gegensatz zum Krieg inspirieren, erfreuen, weiterbringen.
In ihrer Zuschrift an die «Südostschweiz» zur neuen Ausstellung im Bündner Kunstmuseum fragt die Leserin Brigitta Meier erbost: «Weiss Herr Laib, dass eine Tasse Reis für viele Leute das einzige Tagesmenu ist, um zu überleben?» Herr Laib weiss es, das Bündner Kunstmuseum auch: «Den hier eingesetzten Reis wird der Künstler für zukünftige Werke wiederverwenden» steht im Saaltext.
Wolfgang Laibs Installation «Crossing the River» ist tatsächlich eine Provokation, nicht wegen der «Verschwendung» von Lebensmitteln, wie Brigitta Meier suggeriert, wohl aber wegen der Radikalität, mit welcher der Künstler seine Position vertritt: Für ihn ist Kunst per se Ausgleich, Verständigung, Frieden, Besinnung aufs Wesentliche. Kunst ist, als das Ganz-Andere, Widerstand gegen jede Macht und Aggression.
Kunst des Ephemeren
Das ist Kunst mindestens im Verständnis des 1950 geborenen Wolfgang Laib. Seit rund vierzig Jahren setzt der Künstler, der Medizin studierte, sich nach dem Staatsexamen aber der Kunst zuwandte, unveränderte natürliche Materialien ein, um seine Sicht der Welt darzulegen: Jeweils im Frühling über Wochen gesammelte Pollen, die er zu gelb leuchtenden Quadraten auf den Boden streut, Milch, die er achtsam auf weisse Marmorplatten ausgiesst, Bienenwachs, den er zu Häusern formt – und eben weissen Reis, den er, wie jetzt in Chur, in Tassenportionen je zu etwa 50 Gramm zu Häufchen schichtet. Die eng nebeneinander liegenden Häufchen nehmen beinahe die ganze Grundfläche des rund 30 auf 30 Meter messenden Ausstellungsaumes ein, auch jene Raumteile, welche die Besucherinnen und Besucher nicht sehen können. Ihnen bleibt ein schmaler Rand zum Zirkulieren.
Laibs Materialien verweigern sich meist klarer und hart konturierter Formgebung. Sie bleiben fragil und sind Veränderungen ausgesetzt. Die Übergänge zwischen den Pollenflächen und dem Boden, auf den Laib die Pollen aufträgt, sind fliessend. Die kleinen «Berge» – er hat sie schon «unbesteigbar» genannt –, die der Künstler aus den Pollen aufschichtet, könnten jederzeit in sich zusammenfallen. Die Milch auf den Milchsteinen muss täglich ersetzt werden. Bienenwachs bleibt auch als Skulptur biegsam. Der Charakter von Wolfgang Laibs Kunst ist ephemer. Da ist nichts festgefügt.
Lebendiges Flimmern
Das gilt auch von der Installation im Bündner Kunstmuseum. Man erlebt sie erst, wenn man sich Zeit nimmt. Vielleicht spürt man den Duft des Basmatireises und stellt fest, dass die Reishäufchen nur einigermassen geordnet, nicht aber nach stur angewendetem Raster ausgelegt sind. Wolfgang Laib und seine Crew zogen keine Hilfslinien, als sie, während Tagen auf den Knien, die Reisportionen auf den Boden setzten. Das führt, geht man langsam den Rändern entlang und blickt über diese Reislandschaft, zu einem lebendigen Flimmern. Auch die Häufchen selber sind nicht präzis in ihrer Form. Sie sind nur in etwa gleich gross – je eine Handvoll Reis. Da ist Raum für Spontaneität. Hier und dort fällt der Reis, wie und wo er will. Zufall und Notwendigkeit begegnen sich.
Wer das Bild von Walter De Marias «The 2000 Sculpture», ebenfalls eine Bodeninstallation riesigen Ausmasses, die kürzlich im Kunsthaus Zürich erneut ausgelegt wurde, vor sich sieht, wird, ohne werten zu wollen, feststellen: Laib setzt auf spielerische Freiheit innerhalb des Rasters, De Maria aber auf begradigte Klarheit. De Maria arbeitet mir rationaler Unbedingtheit, Laib mit dem Eigenleben des natürlichen Materials. Und: Wenn die Ausstellung am 31. Juli zu Ende geht, wird alles zusammengekehrt, als sei es ein Sand-Mandala.
Das Eigenleben des natürlichen Materials ist für Wolfgang Laib seit Jahrzehnten zentral. (Da zeigt sich eine Verwandtschaft mit den Künstlern der Arte-Povera-Generation.) Das gilt auch von der Rolle des Materials als Bedeutungsträger. Reis signalisiert das Lebensnotwendige, Fruchtbarkeit, Nahrung, Überfluss, aber ebenso Kargheit und Beschränkung. Das andere von Laib immer wieder verwendete Material, die Pollen, kann für Zeugung und Wachstum sowie dank der intensiven Farbe für strahlende Vitalität auch des Kleinen stehen.
Entgrenzungen
In die Churer Installation bezog Laib einen Blütenstaubberg aus Haselnuss-Blütenstaub ein. Er ist winzig, nur 12 cm hoch, und leuchtet doch von seinem Sockel aus über das ganze Reisfeld. Weit entfernt steht, ihm gegenüber, ein aus dem 8. Jahrhundert stammendes frühkarolingisches Eucharistiekästchen in einer Vitrine. Vergoldetes Kupferblech bedeckt den Holzkern. Edelsteine schmücken die berühmte Kostbarkeit aus dem Churer Kathedralschatz. Hinzutreten, um es aus der Nähe zu betrachten, kann man nicht, doch das Gold stahlt, wie auch das Gelb des «Blütenstaubbergs», in den Raum aus.
Wolfgang Laib wusste von diesem Objekt aus einem Buch mit dem Titel «Werdendes Abendland» in der väterlichen Bibliothek und wollte es einbezogen haben in seine Installation: Eine Entgrenzung, die eine Spannweite von 1300 Jahren öffnet und Gewicht und Bedeutung der Dimension Zeit ins Feld führt. Hier wird deutlich, dass Laibs mit Sorgfalt inszenierte Ästhetik nicht sich selber genügen will: «Kunst hat einen universellen Anspruch. Als ich den ersten Blütenstaub sammelte und den ersten Milchstein machte, dachte ich, diese Werke sind so wichtig, dass sie die Welt verändern. Diese Haltung habe ich immer noch. Kunst zielt auf Grundlegendes», sagte er in einem Gespräch mit Gerhard Mack von der «NZZ am Sonntag».
Für die Präsentation des Eucharistiekästchens – es diente während Jahrhunderten zum Aufbewahren der Eucharistie und hat seinen Sakralcharakter bis heute nicht eingebüsst – im Kontext der Installation zeitgenössischer Kunst war die ausdrückliche Erlaubnis von Joseph Marie Bonnemain, Bischof von Chur, erforderlich. Der Bischof schätzte die persönliche Begegnung mit dem Künstler und stellte erfreut fest, dass sie, beides Ärzte, aber einer Priester und der andere Künstler, eigentlich Kollegen seien.
Wie das karolingische Kultobjekt den Blick auf eine enorme Zeitspanne freigibt, so öffnet die chinesische Inschrift an einer anderen Wand, gemalt vom aus Kunming stammenden Kalligraphie-Spezialisten Xinglai Yang, den Blick auf weltweite kulturelle Räume. Auch das ist eine Entgrenzung. Die Inschrift erzählt von Yishan Yining (1247–1317), einem chinesischen buddhistischen Mönch, der den Chan-Buddhismus nach Japan brachte, wo er zum Zen wurde. Die Eingangszeile des rätselhaften Textes machte Wolfgang Laib zum Ausstellungstitel «Crossing the River»: «Er überquerte Flüsse und Wüsten und kam. Dem Kaiser gegenüber gestand er: Ich weiss es nicht. Erfolglos, zog er weiter. Seine Füsse traten auf das Wasser.»
Das Zeitlose den Zugang zur Aktualität
Das Kunstmuseum Chur spricht von Wolfgang Laib als einem «der bedeutendsten Künstler der Gegenwart». Seit den 1970er Jahren ist er seiner künstlerischen Praxis treu. Zentral sind ihm die Arbeit mit dem, was ihm die Natur zur Verfügung stellt, sowie die Einfachheit und Offenheit der Ausdrucksweise, die Konzentration auf das Wesentliche und der ephemere Charakter seiner Kunst. Damit zieht er sich aber nicht – wie man ihm vorwerfen könnte – naiv aus einer düsteren und von Gewalt gekennzeichneten Gegenwart auf esoterisches Terrain zurück. Im Gegenteil: Er sucht über das Zeitlose den Zugang zur Aktualität.
Schon früh erreichte Wolfgang Laib, ohne dem Mainstream zu folgen, weltweites Echo. 1978 hatte er seine erste Ausstellung in der Schweiz (Galerie Rolf Preisig, Basel). In der Folge zeigte Urs Raussmüller ihn in der legendären InK (Halle für internationale neue Kunst) in Zürich. Er war mehrfach Gast an der Documenta und zeigte seine Werke in zahlreichen bedeutenden Museen. 1982 gestaltete der 32-Jährige – zusammen mit Hanne Darboven und Gotthard Graubner – den deutschen Pavillon der Biennale Venedig. 1990 widmeten ihm das Kunstmuseum Luzern, 2005 die Fondation Beyeler in Riehen Ausstellungen. Im Jahr 2020 gab ihm das Museo del Novecento in Florenz im Rahmen einer Ausstellung Gelegenheit zu Interventionen in mehreren sakralen Situationen der Florentiner Renaissance. In der von Brunelleschi erbauten Pazzi-Kapelle von Santa Croce richtete er zum Beispiel eine grosse Wachsskulptur auf, auf dem Boden einer der von Fra Angelico mit einem Fresko versehenen Zellen des Klosters San Marco liess er ein Quadrat aus Pollen leuchten. Auf dem Altar der Kapelle im Palazzo Medici Riccardi errichtete er einen kleinen Blütenstaubberg.
2015 erhielt er den japanischen Praemium Imperiale für Skulptur zugesprochen, den «Nobelpreis der Künste», wie er oft genannt wird.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 31. Juli. Später erscheint eine Publikation mit Texten von Damian Jurt und Stephan Kunz sowie mit einem Gespräch zwischen Wolfgang Laib und Peter Zumthor.