3. Teil des Berichts von einer Reise, die ebenso gemächlich wie eindrucksvoll ist.
In Pölich an der Mosel, 20 km unterhalb von Trier, hat eine findige Weinbauerfamilie schon vor Jahren diversifiziert, die flachen Weinberge im Tal in einen Camp Ground verwandelt, für Sportschiffer zwei Hafenbecken graben lassen und die verschiedenen Geschäftszweige – inklusive der Weinkellerei - unter dem Namen ‚Moselherz’ zusammengefasst. Das berichtet uns stolz ein jüngerer Abkömmling der Familie, als er die Liegegebühr für die Solveig VII einkassiert.
Zwei Weltmächte
Auf seinen Rat hin besichtigen wir dann am frühen Abend zusammen mit Hündin Zora die Spuren zweier „Weltmächte“, erstens die durch einen Tunnel führende römische Wasserleitung und zweitens die neu gepflanzten Lavendelfelder am steilen Hang, welche im Rahmen landwirtschaftlicher Ausgleichsmassnahmen der EU zur Umwandlung nicht rentabler Weinberge finanziert worden seien.
Die Vermutung liegt nahe, dass hinter der Nutzbarmachung der EU-Gelder ebenfalls die Initiative der findigen Moselherz-Familie steckt. Schliesslich eignet sich nicht jeder ehemalige Weinberg zu einem Campingplatz. Ob die römische Wasserleitung und das von ihr gespiesene antike Wellnesszentrum, von dem leider nur wenige Spuren übrig geblieben sind, auch schon von besagter Sippe angeregt worden sind, entzieht sich allerdings unseren Kenntnissen.
Schnelle Narvik
Wie auch immer, wir verbringen eine ruhige Nacht im Moselherz. Das gelegentliche Vorbeifahren von Frachtschiffen, welche die Solveig an ihren Seilen zerren lassen, nimmt die Besatzung im Halbschlaf jeweils mit der beruhigenden Gewissheit zur Kenntnis, das Schiff sei fachgerecht festgemacht und könne sich – als Reaktion auf Wellen und den durch vorbeifahrende Schiffe erzeugten Sog – am Steg weich hin und her bewegen.
Als wir am nächsten Tag eben daran sind, die Leinen zu lösen, nähert sich in zügiger Fahrt ein beladenes, tief im Wasser liegendes Frachtschiff. Bevor uns die Bugwelle erfassen kann, manövriere ich die Solveig in sichere Distanz vom Steg. "Eine gute Gelegenheit für die nächste Schleuse", denke ich, denn die Schleusenwärter an der Mosel lassen die kleinen Schiffe gerne auf grössere Kundschaft warten und füllen die 200 m langen und 12 m breiten Schleusenbecken nur zögerlich für allein fahrende Winzlinge. Doch schon bald wird mir klar, dass unsere Solveig dem Holländer namens Narvik nicht zu folgen vermag und der Frachter uns bis zur 25 km entfernten Schleuse Trier hoffnungslos abgehängt haben wird.
Ein bisschen Hydrodynamik
Das hat nichts mit der Stärke der Schiffsmotoren zu tun, sondern mit Physik. Tatsächlich verfügt unser Schiff – auf das Gewicht des Schiffes umgerechnet – über eine weit stärkere Motorisierung als die schnelle Narvik. Die maximale Geschwindigkeit, mit der sich ein ‚Verdränger-Schiff’ fortbewegen kann, steigt mit der Länge des Schiffsrumpfes. Um diese so genannte Rumpfgeschwindigkeit zu überwinden, muss sich ein Schiff wie ein leichtes Motorboot oder ein Tragflügelboot aus dem Wasser heben und über die Wasseroberfläche gleiten können.
Dazu sind sowohl die Solveig mit ihren 17 Tonnen als auch die Narvik mit ihren bis zu 4000 Tonnen zu schwer. Die Solveig ( Länge 12 m) erreicht eine maximale Geschwindigkeit von etwa 17 Kilometer pro Stunde, während die Narvik mit ihrer 135 m Länge ihre maximal mögliche Geschwindigkeit auf einem engen Fluss zum Glück nicht ausfahren kann, denn damit würde sie in der Mosel einen katastrophalen Wellengang auszulösen.
Soviel über Hydrodynamik. – Unterdessen ist die Narvik längst hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden, während die Besatzung der Solveig mit gedrosselter Geschwindigkeit die herrliche Landschaft geniesst. Gegen Trier zu wird die Mosel schmaler, die Wassertiefe nimmt ab und die Strömung wächst.
Enge Passage
Der charakteristische Wechsel zwischen den ruhigen Stauseen oberhalb der Schleusen und dem manchmal ungestüm daherkommenden Fluss unterhalb der nächsten Staustufe macht die Fahrt auf Flüssen besonders interessant und abwechslungsreich – auch für die Grossen, wie sich nach einer Flussbiegung unterhalb Trier erweisen sollte. Nur wenige hundert Meter flussaufwärts erblicken wir plötzlich die Narvik. Sie scheint stehen geblieben zu sein, doch das von der Schiffsschraube erzeugte sprudelnde Wasser am Heck sagt etwas anderes. Im Schritttempo schiebt sie sich den Fluss hoch.
Mit gutem Grund fährt sie hier so langsam: Das Wasser muss sich seitlich und unterhalb des Schiffes, wo stellenweise nur noch ein halber Meter zum Grund des Flusses bleibt, am Rumpf des Frachters vorbei seinen Weg suchen. Ein erfahrener Kapitän weiss, dass mehr Motorleistung kaum eine höhere Geschwindigkeit, dafür aber eine enorme Bugwelle und entsprechende Energieverluste verursachen würde.
Das Überholmanöver
Sollen wir überholen und an der Schleuse anlegen und warten? Auch die Solveig kann sich nur langsam am Rumpf eines Frachters vorbeischieben, wo die Fliessgeschwindigkeit erhöht ist und man aufpassen muss, nicht in den Sog der vom fahrenden Frachter verursachten Wirbel zu kommen. Das braucht manchmal ganz schön Nerven – und die Rücksichtnahme des überholten Schiffes, weswegen ich ein solches Manöver nie ohne vorherige Anfrage einleite.
Über den für die Kommunikation zwischen Schiffen reservierten Funkkanal 10 melde ich mich beim Kapitän. Ich solle backbordseitig kommen, bestätigt er freundlich. Man stelle sich ein Schiff vor, das länger ist als ein Fussballfeld. Der Überholer schafft gegenüber dem andern Schiff vielleicht einen Meter pro Sekunde. Da dauert ein solches Manöver mit Aus- und Einbiegen bald einmal einige Minuten.
Enges Zirkulieren
Etwas später machen wir am Wartequai der Schleuse Trier fest. Der Schleusenwärter, bei dem wir uns ebenfalls über Funk gemeldet haben, weist uns an, die Einfahrt der Narvik abzuwarten und hinter ihr ins grosse Becken einzufahren. - Übrigens: Mit gutem Grund dürfen kleine Schiffe nur hinter den grossen in eine Schleusenkammer fahren: Könnte der Grosse aus irgend einem Grund nicht bremsen, würde dieser ein Sportboot an der vorderen Schleusenwand einfach zerquetschen!
Wir trinken unterdessen einen Kaffee. Nach einer halben Stunde taucht die Narvik auf. Sie solle in der Kammer nach vorne aufschliessen, meldet ihr der Schleusenwärter. Ok, meint der Kapitän, er kenne uns schon, wär kämen ganz gut miteinander aus. Die Einfahrt des 11,45 Meter breiten Schiffes in die 12 Meter breite Schleusenkammer erfordert höchste Konzentration und dauert oft länger als der eigentliche Schleusenvorgang.
„Gute Nacht, Narvik“
Vor der Weiterfahrt wünsche ich dem Kapitän der Narvik gute Fahrt. Wir haben mit ihm - einem jungen Burschen, dem man auf den ersten Blick die Handhabe des grossen Schiffes nicht zugetraut hätte, – in der Schleuse direkt von Schiff zu Schiff gesprochen. Wir würden in wenigen Kilometern in die Saar abzweigen. „Er fahre auch auf die Saar“, meldet er zurück, „auf Wiedersehen in der ersten Saar-Schleuse“. – Die Narvik kann im tiefen Oberwasser wieder ihre Muskeln spielen lassen, aber die Erfahrung lehrt uns, dass wir Zeit genug haben, diese bei ihrer behutsamen Einfahrt in die Schleusenkammer wieder einzuholen.
Wenn man ein paar Stunden zusammen unterwegs ist, entwickelt sich unweigerlich ein Dialog – auf deutsch übrigens, was die meisten holländischen Schiffersleute ausgezeichnet sprechen – über das Woher und Wohin, über die Erfahrungen mit kritischen Wassertiefen, langen Wartezeiten vor den Schleusen und über anderes mehr.
Auf unsere Basler Fahne am Schiffsbug Bezug nehmend erfahren wir, er sei vor zwei Wochen mit der Narvik in Mulhouse gewesen, natürlich auch schon in Basel, aber vor der Mittleren Brücke habe er Respekt. Er beneide uns, er würde gerne auch einmal von der Saar aus auf den kleinen Kanälen weiter nach Frankreich fahren, das sei landschaftlich sicher sehr schön. Übrigens sollten wir ihn nach der Schleusenausfahrt ruhig überholen, auf der Saar komme er nur langsam voran. Das tun wir denn auch, legen schon bald in einem Yachthafen zum Übernachten an und sitzen beim Apéro, als die Narvik etwas später langsam vor dem Hafen vorbeifährt. „Wir hätten es schön“, meldete sich Narvik noch einmal über Funk. Er sei auch bald am Ziel. „Gute Nacht, Narvik“, meldet die Solveig zurück.
Riskantes Manöver
Doch noch ist die Geschichte nicht zu Ende: Einen Tag später haben wir im Oberwasser der Schleuse Mettlach für die Nacht an einem kleinen Steg festgemacht, mutterseelenallein in einem engen bewaldeten Tal einige Kilometer unterhalb der grossen Saarschleife, welche einen Kurvenradius von nur gerade 300 Meter aufweist. Schiffe mit einer Länge von über 110 Meter dürfen hier nicht kreuzen und müssen daher ihre Fahrt über Funk anmelden. aber auch für kleine Sportschiffe empfiehlt sich eine Anmeldung, um nicht plötzlich vor den Bug eines Schiffes zu geraten, dessen Kapitän über hundert Meter entfernt in seinem Steuerhaus noch hinter der Bergflanke steckt.
Einige wenige Frachtschiffe haben wir während der vergangenen Stunden in oder aus der Schleuse fahren gesehen. Die Dämmerung hat schon eingesetzt, als wir plötzlich stromaufwärts ein riesiges Schiff erblicken, das quer im Fluss liegt, mit dem Bug nahe am Wartequai der Schleuse, während sich das Heck langsam und knapp am Ufer vorbei flussabwärts, das heisst in unsere Richtung bewegt. Ein Blick in den Feldstecher bestätigt: Es ist tatsächlich unsere alte Bekannte, die Narvik. Über Funk frage ich den Kapitän, ob er Probleme habe. „Alles unter Kontrolle“, meldet er zurück, es gäbe keinen andern Ort, sein Schiff zu wenden, hier vor der Schleuse gehe es gerade knapp, aber bei Hochwasser sei dieses Manöver wegen der Strömung zum Wehr ziemlich riskant. Ob er tatsächlich die 10 Kilometer von Merzig, wo er seine Ladung von zweieinhalb tausend Tonnen Spezialsand gelöscht habe, rückwärts den Fluss herabgekommen sei – inklusive Saarschleife –, frage ich ihn. Jawohl, das gehöre zu seinem Alltag und mache sein Leben spannend. „Aber später einmal mit einem kleinen Schiff wie wir...“, schwärmt er.
Unterdessen ist das Manöver abgeschlossen, die Narvik gleitet langsam in die Schleuse. Noch während ein paar Minuten sehen wir das Steuerhaus oberhalb der Schleusenkante, dann beginnt die Entleerung der Schleusenkammer und das Steuerhaus verschwindet langsam in die Tiefe. Damit ist es Nacht geworden. „Gute Fahrt, Narvik, vom engen Tal der Saar zurück über Mosel und Rhein nach Holland“, denken wir. Die leise Wehmut und Sehnsucht nach dem Andern, Unbekannten scheint gegenseitig zu sein.