Sehnsucht nach der weiten Welt: Frühlingsreise auf dem Wasser. Erster Teil.
“Höchst ist ein Stadtteil von Frankfurt am Main mit 14.551 Einwohnern (Stand 31. Dezember 2013), davon 39 Prozent Ausländer. Er liegt etwa 8,2 km westlich der Hauptwache an der Mündung der Nidda in den Main.” So verkündet es Wikipedia, unser aller Orakel. Bis zur Eingemeindung im Jahre 1928 sei Höchst eine alte Stadt mit Stadtrecht gewesen.
Der Schlossplatz, der von alten Fachwerkhäusern eingerahmt wird, und die um 830 entstandene karolingische Justinuskirche, das älteste Bauwerk des heutigen Frankfurt, zeugen von einer Zeit, als der Name Höchst noch nicht an ein internationales Chemieunternehmen denken liess. Die Hoechst AG, gegründet im Jahre 1863 als Teerfarbenfabrik Meister, hat den Namen der Stadt bekannt gemacht und ihm zugleich eine neue Schreibweise verpasst, ganz einfach deswegen, weil ein ‚Ö’ nicht zum Image eines weltweit tätigen Unternehmens passte. Und so wie es Zeit braucht, einen Namen in der Welt zu verbreiten, vergehen umgekehrt viele Jahre, bis in unser Bewusstsein eingedrungen ist, dass es die Hoechst AG seit 1999 nicht mehr gibt. Doch deren bauliche Spuren sind geblieben: Noch immer machen westlich der alten Stadt gigantische Industrieanlagen dem markanten Turm des Höchster Residenzschlosses der Mainzer Erzbischöfe Konkurrenz.
„Bootsbau Speck“
Das alte Höchst liegt auf einen Plateau am rechten Ufer des Main. Die Stadtgründer müssen die Vorteile des Geländes sehr wohl erkannt haben: Es liegt nahe genug bei zwei damals schiffbaren Gewässern, Main und Nidda, um den Warentransport zur und von der Stadt zu erleichtern, und ist gleichzeitig durch die erhöhte Lage geschützt vor den Hochwässern der beiden unberechenbaren Flüsse. Vor allem der Main setzt bis heute die tiefer liegenden Gebiete von Schwanheim am gegenüberliegenden Ufer immer wieder unter Wasser. So kam es auch, dass zwar schon seit Jahrhunderten ein Fährbetrieb vom Höchster Ufer zur andern Seite hinüberführte, aber dort nicht, wie etwa Basel, ein kleiner Stadtzwilling entstanden ist, Kleinhöchst sozusagen. Tatsächlich blieb das linke Mainufer gegenüber der Stadt vollständig unbebaut.
Fast unbebaut, müsste man präzisieren: Im Jahre 1954 baute das Familienunternehmen „Bootsbau Speck“ gegenüber von Höchst, dort wo die Fähre anlegt, eine erste Steganlage für kleine Boote. Die Firma war 1919 von Stefan Franz Speck in Leitmeritz an der Elbe, dem heutigen tschechischen Litoměřice gegründet worden. Im Jahre 1947, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, siedelte die Firma nach Frankfurt am Main über und setzte dort ihre Handwerkskunst durch den Bau von Ruder- und Tretbooten fort. In den vergangenen Jahren ist sie zu einem führenden Unternehmen für den Unterhalt und die Überwinterung von Motoryachten geworden, betreibt in der Umgebung von Frankfurt mehrere Yachthäfen, ist zuständig für den Betrieb der Personenfähre nach Höchst und ist trotz dieser Entwicklung ein Familienunternehmen geblieben, unterdessen in dritter und vierter Generation.
Deutsche in Böhmen
Für den durch politische und wirtschaftliche Stabilität verwöhnten Schweizer wäre diese Firmengeschichte kaum der Rede wert, doch im Schicksal der Familie Speck spiegelt sich in typischer Weise das Auf und Ab der mitteleuropäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der darin verwickelten Menschen. Als nach dem ersten Weltkrieg Österreich-Ungarn zerfiel und neue Staaten entstanden, darunter die Tschechoslowakische Republik, versuchten die seit langem in Böhmen siedelnden Deutschen durch die Gründung eines unabhängigen Staates ‚Sudetenland’ ihre Unabhängigkeit zu bewahren, was allerdings wegen des entschlossenen Widerstandes von Prag misslang. Doch die deutschstämmigen Böhmen dachten trotzdem nicht ans Auswandern, im Gegenteil, es herrschte Aufbruchstimmung nach dem Ende des grossen Krieges, ganz offensichtlich auch beim Firmengründer Stefan Franz Speck, als er 1919 als Bootsbauer sein Geschäft eröffnete. Knapp zwanzig Jahre später annektierte Hitler das Sudetenland, und noch einmal ein paar Jahre danach war der grossdeutsche Traum ausgeträumt. Die Sudetendeutschen hatten die Folgen des deutschen Wahns zu tragen; sie wurden aus Böhmen vertrieben.
So kamen die Bootsbauer an den Main und bauten auf dem bislang als nicht besiedelbar geltenden Land ihr Geschäft neu. Auch wenn unterdessen kaum mehr etwas an die Hersteller von kleinen Ruderbooten erinnert, die Nachfahren des Firmengründers sind ihrem Metier treu geblieben: Noch immer sind es die Mitglieder der Familie, welche die hauptsächlichen Arbeiten erledigen und sich für keine Arbeit zu schade sind.
Auch Zora ist dabei
Auch wir hatten im letzten Herbst unsere Motoryacht Solveig VII der Firma für die Überwinterung anvertraut. In einer Halle schlummerte unser Schiff vor sich hin, bis es vor einigen Tagen seinen Weg zurück ins Wasser fand. Als wir mit vollbepacktem Auto aus Zürich anreisten, lag es bereits unternehmungslustig am Steg.
Es gehört zum besonderen Ritual jedes Saisonbeginns, das Schiff nicht nur innen und aussen für die grosse Reise vorzubereiten, also die Essens- und Trinkvorräte aufzufüllen, Motor, Stromanlage, Heizung und Wasseranlage zu kontrollieren, die Fender auf ihren Druck zu überprüfen und sie für die zu erwartenden Turbulenzen in den Schleusen richtig zu platzieren, nein, es geht auch darum, sich auf das Leben am und auf dem Wasser richtig einzustimmen, das Tempo zu reduzieren und das kontemplative Schauen neu einzuüben. Ein bewährtes Mittel dazu sind die ersten Spaziergänge mit Hündin Zora (auch sie ist trotz ihrer 12 Jahre selbstverständlich wieder dabei) dem Main entlang, vorbei an den zum Teil vollständig verwilderten Schrebergärten, welche wohl auf eigenes Risiko in der Niederung zulässig waren und wo bis letztes Jahr noch Plakate mit Aufrufen gegen den Ausbau des nahen Flugplatzes Frankfurt hingen, vorbei an den beiden einzigen Häusern am Höchster Weg, welche auf einer künstliche Geländeerhebung thronen, umzäunt von einer Holzwand, welche sich an einer Stelle zu einem kleinen sechseckigen Bollwerk erweitert, als gälte es, dem gelegentlich ungnädig über die Schwanheimer Ebene daherkommenden Main die Stirne zu bieten.
Wie gestrandete Wale
Zwischen den Vorbereitungsarbeiten bleibt immer auch Zeit für ein erstes Glas Wein an Deck der Solveig, von wo man einen herrlichen Blick zum kaum 50 Meter entfernten Höchster Ufer mit der hohen Mauer und dem Stadttor hat, Zum Greifen nahe und doch eine andere Welt: Hier die weite Niederung von Schwanheim, wo die neuen Hallen der Bootswerft noch immer die erste versuchte Landnahme darstellen, dort die mittelalterliche Stadt, welche aus sicherer Höhe auf das flache Land hinunterschaut, dazwischen die kleine Personenfähre, mit der man in zwei Minuten zwischen den Welten wechseln kann.
In der Werft herrscht im Frühling Hochbetrieb. Schiff um Schiff wird von den Gebrüdern Speck auf speziellen Bootsanhängern zum Wasser gefahren. Einer steht am Steuerstand des Schiffes, der zweite sichert das Boot vom Steg aus mit einer Leine, falls der Motor nicht anspringen sollte, und der dritte fährt den Traktor. Wie gestrandete Wale sehen die Schiffe aus, wenn sie auf ihren Trailern langsam von den Hallen zum Wasser gefahren werden, schwer, plump und bis zu sechs Meter hoch. Langsam verschwindet der Trailer im Wasser. Noch hat der Kiel kaum das Wasser berührt, da startet der Mann auf dem Boot bereits den Motor. Mit viel Geschick, das grosse Erfahrung verrät, zieht er das schwere Schiff mit der Schiffsschraube vom Anhänger, noch bevor die Strömung des Flusses das Schiff seitlich weg zu drücken vermag. Kaum eine halbe Minute dauert der Vorgang, welcher das hilflose Ungetüm in ein elegant im Wasser liegendes Schiff verwandelt und beim zuschauenden Besitzern die Sehnsucht nach der weiten Welt weckt.
So ging es auch uns – und jetzt sind wir unterwegs, aber davon später.