Eine alte Erinnerung lockt zu einem Abstecher mit dem Boot. Doch vor der Lahn-Geschichte erst eine Annäherung an die Logik der Flüsse.
Wie kommt eigentlich die Aare von Bern nach Olten? – Dumme Frage, werden Sie denken, sie fliesst ganz einfach bergab. Nur, wo genau geht es bergab? Der Bahnfahrer von Bern nach Olten hat sich daran gewöhnt, nach einem letzten Blick vom Lorraine-Viadukt die Aare eine knappe halbe Stunde später kurz vor Olten wieder von links auftauchen zu sehen. Aber wo hat sie sich unterdessen herumgetrieben?
Topographie der Flüsse
Keine Angst, ich will Ihnen keinen Geografieunterricht verpassen. Die einen werden die Antwort ohnehin wissen und die andern interessiert sie kaum. Es geht auch gar nicht um die Aare, sondern um die Feststellung, dass Flüsse ein anderes Gespür für Topografie haben als wir Mobilitätsfetischisten. Oder genauer gesagt: Bäche und Flüsse können sich um die Schwerkraft, das heisst um die tatsächliche Topografie nicht foutieren.
Im Gegensatz zu uns Auto- und Bahnfahrern, die wir, um von Bern nach Zürich oder Basel zu gelangen, einfach die allgemeine Richtung Nordosten einschlagen und die paar Höhenmeter dazwischen kaum wahrnehmen, so lange es nicht gerade die Alpen sind, hat Wasser einen geradezu phänomenalen Sinn für die Abweichung von der Horizontalen. Das haben sich schon die antiken Wasserbauer zunutze gemacht, in dem sie Kanäle mit Wasser füllten, um deren Verlauf auszutarieren.
Flüsse lehren uns eine andere Sicht auf die Oberfläche der Erde. Man muss gar nicht so weit in unserer Geschichte zurückgehen – ungefähr 140 Jahre genügen –, um Menschen kennenzulernen, welche ihr Leben (und das ihrer Expeditionsteilnehmer nota bene) aufs Spiel gesetzt haben, um die Topografie von Flüssen zu erforschen: Henry Morton Stanley zum Beispiel, der im Jahr 1874 mit über dreihundert Personen aufbrach, um den Verlauf des Kongo zum Meer zu erkunden und drei Jahren später mit knapp hundert von ihnen (er war der einzige weisse Überlebende) schliesslich am Atlantik ankam. Da reibt sich der Zeitgenosse von Google Earth, der heute den hintersten Winkel der Erde an seinen Stubentisch zu zoomen gewohnt ist, zuerst einmal ungläubig die Augen!
Erinnerung an die Lahn
Doch bleiben wir in Europa: Wenn man von Frankfurt am Main nordwärts Richtung Giessen und Marburg fährt, gelangt man bald einmal in ein offenes Nord-Süd gerichtetes Tal, das etwas nördlich von Marburg von Westen her aus dem Rothaargebirge kommt. Lahn heisst der Fluss, der in der Nähe des Lahnkopfs auf 603 Meter über Meer entspringt und sich in seinem oberen Teil durch ein liebliches, von Wiesen und Feldern gesäumtes Tal windet, vorbei an Bad Laasphe (welch ein Name!) Marburg zu.
Ich erinnere mich, vor rund dreissig Jahren einmal mit einer Nebenbahn, die schon damals an frühere Zeiten erinnerte, von Marburg aus nach Laasphe zu einer Konferenz gefahren zu sein. Die Landschaft hatte mich sehr angesprochen, aber wie es so ist, meinen Vorsatz, dieses Tal später einmal auf einer Wanderung näher zu erkunden, habe ich nie in die Tat umgesetzt. Auch den Namen des Flusses hatte ich bald wieder vergessen aber, der topografischen Logik des Bahnfahrers folgend, damals wohl stillschweigend angenommen, der Fluss münde irgendwo in der Nähe von Frankfurt, von wo mich der Zug nach Marburg gebracht hatte, in den Main.
So schlummerte das Geheimnis um das grüne Tal in meiner Erinnerung, bis ich vor einem Jahr – meine Frau und ich waren mit der Solveig auf dem Rhein von Mainz nach Koblenz unterwegs und hatten eine gute Stunde zuvor den wirbelumströmten Felsen der Loreley passiert – auf der Flusskarte die Einmündung eines Flusses namens Lahn entdeckte. Der Name weckte alte Erinnerungen und ich kam mir ein bisschen wie ein europäischer Stanley vor, als ich realisierte, dass der Fluss, der sich aus einem tief in das deutsche Mittelgebirge eingeschnittenen Tal in den Rhein ergiesst, eigentlich ein alter Bekannter ist, dessen «fliessende Jugend» ich vor vielen Jahren kennengelernt hatte.
Aus der Erinnerung wird ein Plan
Damals hatten wir andere Pläne; die untere Lahn musste noch einmal ein Jahr auf unsere persönliche Entdeckung warten. Unterdessen hatte ich mich über den geheimnisvollen Fluss orientiert: 245,6 Kilometer ist er lang, entspringt in Nordrhein-Westfalen, fliesst dann durch Hessen und Rheinland-Pfalz und mündet 574 Meter tiefer bei Lahnstein, 5 Kilometer oberhalb von Koblenz, in den Rhein. Die mittlere Wasserführung an der Mündung beträgt 52 Kubikmeter pro Sekunde, was ungefähr mit der Thur bei ihrer Mündung in den Rhein zu vergleichen ist. Grössere Städte sind Marburg, Giessen, Wetzlar, Limburg und, kurz vor ihrer Mündung in den Rhein bei Lahnstein, Bad Ems, wo prächtige Bauten an die guten Zeiten vor dem ersten Weltkrieg erinnern. Immerhin, der Name von Bad Ems lebt in den Emser Pastillen bis heute ungebrochen fort.
Für den Flussschiffer wichtig war die Erkenntnis, dass die Lahn heute über eine Strecke von rund 70 Kilometern zwischen Lahnstein und Limburg schiffbar ist. In früheren Zeiten muss die Fahrt kleinerer Schiffe bis Wetzlar möglich gewesen sein. Noch immer gibt es Schleusen, in Weilburg sogar einen Tunnel, durch den der damalige Kanal geführt hat. Doch so weit schafft man es wegen der Untiefen und Stromschnellen heute höchstens noch mit einem Paddelboot. Bei Heuchelheim, an der ehemaligen Grenze zwischen Preussen und dem Grossherzogtum Hessen, beginnt übrigens die Kilometrierung des Flusses; sie endet bei Kilometer 137,3 bei der Mündung in den Rhein.
Bei Balduinstein ist Schluss
Mit unserer Solveig VII mit einem Tiefgang von 1,35 Meter hatten wir uns mit den zwölf Staustufen bis Limburg zu begnügen, deren Schleusen Schiffe mit 34 Meter Länge und 5,3 Meter Breite zulassen. Bis 1970 verkehrten auf der Lahn Frachtschiffe, welche vor allem Steine von einem Steinbruch bei Diez (südlich von Limburg) nach Lahnstein transportierten, wo diese auf grössere Schiffe umgeladen worden waren. Auf der Bergfahrt hätten die Schiffe, so erzählte uns ein Angestellter der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, jeweils Quarzsand in ein Stahlwerk der Degussa gebracht.
Seit 45 Jahren verkehren nur noch Motoryachten, Sportschiffe und einige wenige kleinere Ausflugsschiffe auf dem Fluss. Beamte der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sind vom 1. April bis 31. Oktober täglich im Einsatz und bedienen die Schleusen. Im Gegensatz zum voll automatisierten Schleusenbetrieb mit Selbstbedienung, wie er auch für die Lahn geplant ist, bildet die Möglichkeit eines Gesprächs mit den Schleusenwärtern immer einen besonderen Reiz der Flussschifffahrt. Man erhält wichtige Auskünfte, Hinweise auf Besonderheiten des Zustandes der Fahrrinne, Informationen über das Wetter oder – wie in unserem Fall – den Ratschlag, das Schiff bei der Anlege in Balduinstein festzumachen, denn die Schleuse Diez sei wegen Reparaturarbeiten gesperrt und wir könnten nicht bis Limburg fahren; der Bahnhof liege in Balduinstein ganz nahe, und mit dem Zug sei es sei nur ein paar Minuten bis nach Limburg.
Der Limburger Bischof: prunksüchtig
So verbrachten wir dank der guten Zusammenarbeit zwischen Schifffahrtsbehörde und Deutscher Bahn einen herrlichen Tag in dieser romantischen Stadt, wanderten durch die engen, von prachtvollen Fachwerkhäusern gesäumten Strassen hinauf zum berühmten Limburger Dom, natürlich nicht ohne einen Blick in den Hof des Limburger Bischofssitzes zu werfen, der wegen seines allzu prunksüchtigen Bewohners vor einiger Zeit die Runde in den Medien gemacht hatte. «Beten Sie noch oder wohnen Sie schon?» stand auf einer der vielen Ansichtskarten, die am Domplatz zum Verkauf angeboten wurden.
Vor ein paar Jahren stand die Schliessung der Wasserstrasse ernsthaft zur Diskussion. Wie uns ein Schleusenwärter sagte, hätte der Wegzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin das Interesse der Beamten «dort oben in der Regierung», welche früher im Sommer regelmässig mit ihren Booten die Lahn befahren hatten, in Richtung der Mecklenburger Seenplatte und der Müritz verschoben. So sei das eben mit der Politik, aber unterdessen hätten die Schleusenwärter gestreikt und klar gemacht, dass die Bauwerke an der Lahn nicht nur der Schifffahrt, sondern auch der Stromproduktion und dem Hochwasserschutz dienten. Diese Aufgaben würden mit der Schliessung der Schifffahrt nicht einfach wegfallen.
Die deutsche Schifffahrtsbehörde: zuverlässig
Doch lassen wir die Politik. Unserer Solveig hat die Lahn zugesagt. Als Schiffsführer muss man auf unbekannten Gewässern ja immer in verschiedene Richtungen denken: Nach links und rechts bei Schleuseneinfahrten, nach oben bei den Brücken, aber die grösste Sorge gilt immer der Wassertiefe, weil man sich dort nicht auf sein Auge, sondern nur auf die Angaben der Karte verlassen kann. Die permanente Tiefenmessung durch das Echolot beruhigt zwar, aber man erkennt ein wirkliches Problem doch meistens zu spät – und schon sitzt man auf einer Sandbank fest.
Doch wir hatten Glück: Nur einmal hatte unser Schiff «Grundkontakt», bei einer oberen Schleuseneinfahrt, wo das letzte Hochwasser offenbar Geschiebe abgelagert hatte. Der zuständige Schleusenwärter nahm unsere entsprechende Meldung dankbar entgegen. Am nächsten Tag konnten wir in einem Gespräch mit einem Mitarbeiter des Baggerschiffs befriedigt feststellen, dass der Auftrag zur Beseitigung der Untiefe bereits weitergegeben worden war. Gründliches Deutschland! In Frankreich hätte unsere Meldung noch nicht einmal zu einer Nachricht nach Paris und ihrem dortigen Verschwinden in einer Schublade gereicht.
Das obere Lahntal bleibt noch zu entdecken
Leider hätten wir nur mit einem Paddelboot ins obere Lahntal vorstossen können, und so habe ich – genau genommen – meine ganz persönliche Stanley’sche Aufgabe noch nicht geschafft. Ich möchte mich eines Tages mit eigenen Augen vergewissern, dass der liebliche Wiesenbach bei Laasphe tatsächlich der gleiche ist, der gute 200 km später in einem tief eingeschnittenen Tal dem Rhein zustrebt. Mein Beweis dürfte allerdings einfacher und billiger zu bewerkstelligen sein als damals für Stanley die Suche nach der Mündung des Kongo.
Zum Schluss noch eine kleine Frage, die mich bereits als Bub auf der Fahrt zur Grossmutter in St. Gallen beschäftigt hatte: Wie kommt es, dass die Thur, welche aus dem Toggenburg westwärts dem Rhein zufliesst, hinter Wil von der Bahn in umgekehrter Richtung gekreuzt wird? – Es lebe die unbestechliche Logik der Flüsse!