Die Stimmbeteiligung bei der sonntäglichen Bundestagswahl in Deutschland liegt bei 73 rund Prozent, das sind fast drei Prozent mehr als vor vier Jahren. 2009 gab es mit 70,8 Prozent allerdings die niedrigste Stimmbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik. In den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts (also noch vor der Wiedervereinigung) hatten sich jeweils um die 90 Prozent aller Stimmberechtigten an der Parlamentswahl beteiligt.
Dennoch ist die am Sonntag erreichte Wahlbeteiligung ein erfreuliches Zeichen. Erstens weil dieses Ergebnis zeigt, dass die Deutschen nicht, wie in einigen andern Ländern, unaufhaltsam stimmenmüde werden. Verglichen etwa mit den Zahlen bei Parlamentswahlen in der Schweiz schneidet Deutschland ohnehin weit besser ab – bei den Nationalratswahlen von 2011 lag die Stimmbeteiligung bei 48,5 Prozent.
Nicht wichtig, nicht interessant
Erfreulich ist die wieder gestiegene Wahlbeteiligung in Deutschland aber auch deshalb, weil vor dieser Wahl eine Reihe von bekannten Intellektuellen und andern Prominenten des öffentlichen Lebens mit der Geste des höheren Wissens verkündet hatten, dass sie diesmal nicht zur Wahl gehen würden, weil es ja doch keine wirkliche inhaltliche Auswahl zwischen den Parteien gebe. Der Philosoph Peter Sloterdijk hatte allen Ernstes behauptet, er wisse nicht einmal, wann der Wahltag sei. Er werde ohnehin nicht wählen, weil es für ihn unmöglich sei, bei diesem Urnengang das kleinere vom grösseren Übel zu unterscheiden. Auch sein betagter Philosophie-Kollege Jürgen Habermas hatte den ganzen Wahlkampf pauschal als ein „Fall von Eliteversagen“ abqualifiziert, weil die grossen Zukunftsfragen so gut wie gar nicht zur Sprache kämen.
Ein anderer modischer Gegenwartsdenker, Richard David Precht, hatte sein Desinteresse so formuliert: „Es ist mir persönlich nicht wichtig, ob ich wählen gehe oder nicht." Es handle sich ja um die „vermutlich belangloseste Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik“. Auch die CDU-nahe Publizistin Gertrud Höhler, die Angela Merkel für ein Verhängnis hält, weil sie die CDU „aus der politischen Mitte an den linken politischen Rand gezogen“ habe, lies im „Spiegel“ durchblicken, dass es nicht viel Sinn habe, zur Wahl zu gehen, weil die Bundeskanzlerin ja inzwischen „die politische Arena leergefegt“ habe.
Vernünftige Normalbürger
Solche und andere hochnäsigen Auslassungen über die ach so banalen und bedeutungslosen Niederungen dieser demokratischen Parlamentswahl haben bei der grossen Mehrheit der deutschen Stimmbürgern gottseidedank nicht verfangen. Offenkundig denkt der normale Bürger im Blick auf den Stellenwert der jüngsten Bundestagswahl vernünftiger und realitätsnaher als manche intellektuellen Paradepferde des öffentlichen Diskurses und der medialen Talkshow-Szene. Die bei Umfragen ermittelte ungewöhnlich breite Zufriedenheit der Deutschen mit den aktuellen Verhältnissen in ihrem Land (die sich offenkundig im glänzenden Wahlerfolg von Merkels CDU wiederspiegelt) hat das Wahlvolk auch nicht dazu verleitet, sich lethargisch im Lehnstuhl zu räkeln und sich um den Aufwand der Stimmabgabe zu foutieren.
Vielleicht ist es ein klein wenig auch das Verdienst des Wochenmagazins „Der Spiegel“, dass die Empfehlungen einiger Medienstars und Meisterdenker zum Wahlabstinenzlertum nicht auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Das Magazin mit seiner Millionenauflage, das sich in der Regel hütet, als gouvernementales Organ zu erscheinen, hat in der letzten Ausgabe vor der Wahl die versponnenen Plädoyers für die Nichtbeteiligung an dieser Bundestagswahl unerwartet heftig als elitäre Demokratieverachtung und als „Arroganz gegenüber den Sorgen von Geringverdienern“ abgekanzelt.
Was würde ein Chinese denken?
Wer sich hochmütig als Nichtwähler inszeniere, habe offenbar vergessen, dass „die Chance zu wählen, ein über Jahrhunderte erkämpftes Grundrecht“ darstelle. Tatsächlich muss man sich fragen, was ein Bürger in der weissrussischen Lukaschenko-Diktatur oder im chinesischen Einparteienstaat wohl davon hält, wenn deutsche Wohlstandsintellektuelle sich damit brüsten, nicht an einer Parlamentswahl in ihrer gefestigten Mehrparteien-Demokratie teilzunehmen, weil wesentliche Zukunftsfragen im Wahlkampf nicht debattiert worden seien.
Gewiss, Philosophen und andere Intellektuelle sind in mancher Hinsicht das Salz in der Suppe einer ldebendigen Gesellschaft. Doch der zurückliegende Wahlkampf in Deutschland hat wieder einmal gezeigt, dass Demokratie eine zu wichtige Sache ist, um sie den Eliten und ihren Lautsprechern zu überlassen. Bei demokratischen Wahlen geht es – grosso modo – um die Meinungen des ganzen Volkes. Und es ist gut, wenn sich, wie am Sonntag in Deutschland, rund drei Viertel aller Stimmberechtigten, daran aktiv beteiligen.