Seit dreissig Jahren arbeiten norwegische Institutionen zusammen mit Fachleuten aus den Bereichen Kunst, Architektur und Tourismus an der Aufwertung von insgesamt 18 Strassenabschnitten. Diese verteilen sich über das gesamte Land, wobei die Westküste schwergewichtig berücksichtigt wurde.
Federführend für das Projekt ist die Staatliche Norwegische Strassenverwaltung, die in Zusammenarbeit mit einem Architekturrat, einem Kurator und Vertretern aus der Tourismusbranche dazu beigetragen hat, Norwegens Landschaften neu zu entdecken. Auf jedem Abschnitt wurden Standorte für Rastplätze bestimmt und renommierte, vorwiegend einheimische Architekturbüros mit der Gestaltung beauftragt. Man findet einfache, aber raffinierte Sitzgelegenheiten, Parkplätze mit einer speziellen Einfassung, skurrile Toilettengebäude, imposante Aussichtsplattformen, in die Landschaft eingebettete Wege, Gedenkstätten und sogar Kunstobjekte.
Die offizielle Webseite listet nicht weniger als fünfzig Künstler und Künstlerinnen, Architekten und Architektinnen auf, die seit 1993 ihre Wegzeichen gesetzt haben. Noch stehen einige Eingriffe aus, doch im Grunde kann das Vorhaben als vorläufig abgeschlossen bezeichnet werden, was die Verantwortlichen im vergangenen Juni zu einer Ausstellung in Oslo bewogen hat. Im Folgenden sollen acht Sehenswürdigkeiten – aufgereiht von Norden nach Süden – näher vorgestellt werden.
Eine Gedenkstätte
In Vardø, einer auf einer Insel liegenden und nur mit einem Untermeerestunnel zu erreichenden Kleinstadt ganz oben im Norden, errichtete Peter Zumthor, der zu den ganz wenigen nichtnorwegischen Architekten der Landschaftsrouten gehört, 2011 eine eindrückliche Gedenkstätte (Route Varanger, 160 km). Hier wurden im Verlaufe des 17. Jahrhunderts 77 Frauen und erstaunlicherweise auch 14 Männer der Hexerei angeklagt und exekutiert.
Zumthor konstruierte ein 120 m langes, aus Holzstämmen bestehendes Gerüst, in das mit einer textilen Haut ein begehbarer Gang eingespannt ist. Das Innere ist schwarz bemalt; für eine minimale Beleuchtung sorgen je eine Glühbirne und ein klitzekleines Fenster bei jedem Namen der Verurteilten mit – sofern erhalten – dem Protokoll des jeweiligen Verhörs. Man wird zu einem geradezu andächtigen Schreiten veranlasst. Unmittelbar nach dem Verlassen des Gangs steht man vor einem schwarzen Glaskubus. Hier stellte Louise Bourgeois in eine Betonwanne einen Stuhl, aus dessen Sitzfläche Gasflammen zischen. Darüber hängen grosse Spiegel – ein Sinnbild für die Menschen, die chancenlos den Mächtigen ausgeliefert waren.
Ein offener Kunstraum
In Havøysund, der nördlichsten Siedlung des norwegischen Festlandes, baute das Team Jensen & Skodvin Arkitektkontor, das für die Landschaftsrouten bereits zwei Projekte realisieren durfte, im Jahr 2021 hoch über dem felsigen Ufer einen einfachen Holzpavillon, der aussen nicht erahnen lässt, welch einzigartige Seherlebnisse einen im Innern erwarten (Route Havøysund, 67 km).
Der Raum erhält Tageslicht über das Dach; sämtliche Wände sind mit Torfquadern versehen, die auf vielfältige Weise mit zwei, von der amerikanischen Künstlerin Roni Horn konzipierten Glaszylindern kontrastieren. Natur gegen Kultur, Poröses gegen Glattes, Lichtschluckendes gegen Transparenz. Im Unterschied zu anderen Attraktionen der norwegischen Landschaftsrouten garantiert dieser kaum besuchte Pavillon eine wohltuende Ruhe.
Eine kubistische Toilette
Es finden sich an den Landschaftsrouten zahlreiche Toiletten, die mehr sind als nüchterne Kisten. Sie kommen wie Follys daher und betören durch eine ungewohnte Materialwahl und durch bizarre Formen.
Eines der aufwändigsten Toilettengebäude, 2018 vollendet, versteckt sich hinter einem Felsvorsprung an der Landschaftsroute Andøya (58 km). Es ist in Beton gegossen und umfasst ohne Fugen die Parkplatzrahmung, Sitzmöglichkeiten, Zu- und Abgänge von der Strasse zum Meeresufer und eben das eigentliche stille Örtchen mit einer verglasten Wand, welche die Sicht von innen nach aussen anbietet. Das Büro Morfeus Arkitekter schien den rechten Winkel unter allen Umständen vermeiden zu wollen, um mit komplexen Faltungen und Überlagerungen eine Grossskulptur zu modellieren, die den Zweck erst bei einer zweiten Lesung erkennen lässt. Das Objekt veranlasst viele zu einem Stopp, auch ohne ein dringendes Bedürfnis zu haben.
Ein sich wandelnder Steg
Die längste Route (Helgelandskysten) verläuft über 433 km von Bodø nach Holm, wobei nicht weniger als sechs Fähren einkalkuliert werden müssen. In der Nähe von Brønnøysund ist seit letztem Jahr ein raffinierter kleiner Eingriff in die Meerlandschaft zu bewundern, gestaltet vom Team Snøhetta, das mit der Oper in Oslo sein bisheriges Meisterwerk geschaffen hat.
Der Steg ist im Vergleich dazu ein winziges Werk, das auf der anderen Seite die Vielfalt in der Ideenwerkstatt von Snøhetta manifestiert. Vom Ufer aus bilden 55, auf einer geraden Linie angeordnete Steinquader einen beschreitbaren Weg zu einem aus dem Wasser ragenden Felsblock. Bei vollständiger Ebbe zieht sich das Wasser ganz zurück, während bei Flut die Quader überspült werden. Das bedeutet, dass man geduldig vor Ort ausharren muss, um die Veränderungen mitzuverfolgen.
Eine Inselhüpfstrasse
Westlich von Kristiansund hüpft die Strasse von Insel zu Insel und schwingt sich in der Mitte zu einer gekurvten hohen Brücke hinauf, der Storseisundbrua, die schon lange zu den beliebtesten Fotosujets in Norwegen zählt und beim letzten James Bond Film die Kulisse für eine der üblichen Verfolgungsjagden bildete.
Nun ist die Strasse Teil der Landschaftsrouten (Route Atlanterhavsvegen, 36 km) mit dem wichtigsten Rastplatz unmittelbar vor der hohen Brücke. Ghilardi & Hellsten Arkitekter legten 2014 um die Insel Eldhusøya einen Weg an und schlossen den Ring zur Strasse mit einer Art Schnalle: Eine lange, schwarze Wand, die zur Insel gebogen ist und deren oberer Rand einer flachen Kurve folgt, beherbergt in der Mitte eine Cafeteria und die Toilettenanlage. Dank einem weissen Wellenmuster erscheint die Wand als lyrisches Band, das die Topografie der Strasse wie der Inseln aufnimmt und grafisch verfremdet.
Eine luftige Aussichtskanzel
Bei Andelsnes beginnt eine spektakuläre Route, die den Namen Trollstigen erhielt, die Treppe der Trolle. Mit Spitzkehren überwindet die enge Strasse in der auf den ersten Blick schroffen Felswand eine Steigung von 500 Metern. Die Landschaftsroute Geiranger-Trollstigen (104 km) geleitet ins Herz der Fjorde mit dem Geirangerfjord als Höhepunkt.
Am Ziel des Trollstigen steht ein Empfangszentrum mit einer Cafeteria, die derzeit umgebaut wird. Hier ist der Ausgangspunkt des Weges, der in einer weit vorkragenden Kanzel endet. Präzise wählten Reiulf Ramstad Arkitekter, die in ihrer Homepage eine erstaunliche Werkliste mit verblüffenden architektonischen Entwürfen ausbreiten, den besten Punkt, an dem man das ganze Tal mitsamt der Strasse erfassen kann. Die Konstruktion aus rostigem Metall, Beton und Glas dient seit der Eröffnung im Jahre 2012 als Aushängeschild der Landschaftsrouten.
Ein Bügel über dem Abgrund
Noch vor wenigen Jahren war die gebirgige Gegend zwischen den Sognfjordarmen Aurlandsfjord und Nærøyfjord mit dem Auto nur umständlich zu bereisen. Inzwischen ist ein ambitiöses Tunnelsystem geschaffen worden, wozu der 24 km lange Lærdaltunnel gehört, der längste Strassentunnel der Welt. Die Passstrasse (Route Aurlandsfjellet, 47 km) müsste eigentlich dadurch entlastet werden, doch wegen der Aussichtsplattform Stegastein wollen alle den Weg oben durch unter die Räder nehmen. Und für die unzähligen Camper ist die Strasse zu eng, was bisweilen – der Verfasser kann davon ein Liedchen singen – zu epischen Staus führen kann, abgesehen davon, dass beim Rastplatz zu wenig Parkplätze zur Verfügung stehen.
Aber wer vor der Sehenswürdigkeit steht, kann den Wunsch, den Ort ja nicht zu verpassen, nur zu gut begreifen. Entworfen wurde dieser Bügel 2006 von den Architekten Todd Saunders und Tommie Wilhelmsen, zwei Baumeistern mit je einem beachtlichen Œuvre, die sich hier zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Man schreitet auf einer Passerelle sozusagen ins Nirgendwo hoch über dem Aurlandsfjord. Die Horizontale wird zum Hang gebogen, wo die bumerangförmige Konstruktion abgestützt wird. Kurz vor der Biegung ist eine Schranke aus Glas eingelassen, vor der man buchstäblich über dem Abgrund schwebt.
Ein Leergerüst über dem Wasserfall
Die Route Hardangervidda (67 km) durchstreift das gleichnamige Hochplateau, bevor sie beim Wasserfall Vøringfossen jäh in die tief eingeschnittene Schlucht verschwindet. Der in Abschnitte unterteilte Weg an der Kante war vor den baulichen Eingriffen nur für Schwindelfreie ein Genuss, doch zwischen 2016 und 2023 befestigte der Architekt Carl-Viggo Hølmebakk, der noch an drei weiteren Orten der Landschaftsrouten tätig war, den Rundgang mit einem durchgehenden Geländer und schuf mehrere Balkone aus Metall. Zuletzt schloss er die fehlende Lücke zwischen den Abschnitten mit einer stark geneigten und getreppten Metallbrücke, bei der man sich – von weitem begutachtet – nicht vorstellen kann, wie man sich ohne Panik darauf bewegen soll. Sie ist mit der speziellen Verkrallung an den Felswänden auch eine Meisterleistung der Ingenieurskunst.
Die Initiatoren behalten sich vor, weitere Strecken auf ihre Eignung für das Label Landschaftsrouten vorzuschlagen. Man kann sich fragen, ob damit nicht eine Entwicklung gefördert wird, die für gewisse Gegenden der überragenden norwegischen Szenerie alles andere als positiv zu werten ist. Die erwähnte Überlastung der Aurlandsfielletstrasse durch sperrige Camper erinnert an ähnliche unschöne Bilder in den Alpen. Je mehr man die norwegischen Landschaftsrouten touristisch ausschlachtet, könnte es auch an anderen Schauplätzen zu einem Zuviel des Guten kommen. Doch wenn schon eine touristische Infrastruktur vonnöten ist, scheint es geraten, an die Gestaltung höchste Ansprüche zu stellen. Da könnte die Schweiz von Norwegen noch einiges lernen.
Alle Fotos: Fabrizio Brentini