Zwei Worte können Perspektiven verändern. Der Titel des neuen „Kursbuchs“ lautet: „Wohin flüchten?“ Damit stellt es eine Frage, die sich aus der Perspektive der Flüchtenden stellt, nicht aus der Perspektive derjenigen, die sich mit ihnen konfrontiert sehen. Aber die Einheimischen können die Perspektive der Neuankömmlinge übernehmen, schliesslich ist sie nachvollziehbar. Dadurch erscheint die ganze Szenerie in einer anderen Beleuchtung.
Untaugliche Kategorien
Der Herausgeber Armin Nassehi schreibt in seinem Editorial, dass die derzeitigen „Kategorien der öffentlichen Diskussion untauglich geworden“ seien. Zum einen sei der Diskurs moralisch aufgeladen, zum anderen konzentriere er sich zu stark auf den Asyltatbestand.
Der moralische Diskurs trage zu wenig zur Lösung der akuten Probleme bei, die Fixierung auf den Asyltatbestand gehe an den Fluchtgründen vorbei. Die moralische Forderung nach Mitmenschlichkeit stösst an die harten Grenzen politischer und sozialer Akzeptanz, und die Unterscheidung zwischen „politisch Verfolgten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ geht an der Tatsache vorbei, dass kollabierende Staaten oder durch Terror geprägte Umfelder eine scharfe Trennung zwischen politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit nicht mehr zulassen.
Nachvollziehbare Fluchtgründe
Deswegen fordert Nassehi „unaufgeregte Formen der Inklusion, arbeitsrechtliche und -praktische Arrangements, schulische Initiativen, Sprachförderung vor allem für Kinder.“ Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass diejenigen, die uns als Fluchtort wählen, Gründe haben, die wir durchaus teilen können. Auch wir würden in ähnlicher Situation ähnlich handeln.
Deswegen ist es ein fatales Vorurteil anzunehmen, es seien die Ärmsten der Armen, die nach Europa drängen. In seinem Beitrag, „Der Tod als Waffe“, berichtet der Journalist Alfred Hackensberger aus Tanger. Die Ärmsten könnten sich die teure Reise gar nicht leisten. Es sei auch nicht so, wie ebenfalls in Europa oder im Westen vermutet wird, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Migration gibt und dass die meisten Migranten aus den ärmsten Regionen stammen. Das Gegenteil ist der Fall. Je mehr sich ein armes Land entwickelt, desto mehr Menschen emigrieren – nicht umgekehrt.
Mittel und Kompetenzen
Die Migrationsexpertin Carmen González Enríquez vom Real Instituto Elcano in Madrid erklärt ihm: „Je entwickelter ein Staat, desto mehr ›Kapital‹ bekommen Menschen, das sie in einem anderen Land einsetzen können. Dazu gehören handwerkliche Fertigkeiten, Kenntnisse von Fremdsprachen oder ein Studium. Es gibt mehr Bildung, mehr Informationen, mehr Networking und vor allen Dingen auch mehr Geld, um die Reise zu bezahlen. Diejenigen, die nichts haben, können nicht reisen. So einfach ist das.“
Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass die Migranten der Königsweg zur Lösung der demografisch bedingten Arbeitsmarktprobleme in Europa seien. González Enríquez warnt: „Nur mit den Flüchtlingen und Migranten, die seit Monaten in Italien und anderswo ankommen, kann das nicht gelöst werden.“
Polemik gegen "Wirtschaftsflüchtlinge"
Überhaupt darf der Blick auf die nachvollziehbaren Motive der Flüchtlinge nicht den Blick darauf verstellen, dass in Europa breite Schichten anders als die gebildeten und weltoffenen Eliten sich selbst als unterprivilegiert und benachteiligt ansehen und meinen, dass die Migranten privilegiert werden. In seinem Essay, „»Die arbeiten nichts« Eine kleine Polemik gegen den »Wirtschaftsflüchtling«“, beschreibt Armin Nassehi, wie sich aus Ressentiments gegen „die da oben“ sogleich die Aversion gegen jene entsteht, denen auch unterstellt wird, ungerechtfertigt Leistungen zu beziehen, für die man selbst doch so erbärmlich schuften muss.
Der Staat versucht, derartige Ressentiments zu kanalisieren, indem er jene abschiebt, die vermeintlich zu Unrecht im Lande sind. In seinem Beitrag über Abschiebungen zeigt der Soziologe Albert Scherr, dass diese Massnahme aber aus einer Reihe von Gründen nicht funktioniert. Denn es gibt seitens starker und einflussreicher Gruppen heftigen Widerstand gegen Abschiebungen, so dass sie skandalisiert werden. Zudem können im Einzelfall Hindernisse geltend gemacht werden, so dass es nicht zur Abschiebung kommt. „Die Unberechenbarkeit der Chance, im Land bleiben zu dürfen oder deportiert zu werden, wird von Kritikern der herrschenden Flüchtlingspolitik thematisiert und zur Infragestellung ihrer Legitimität verwendet.“
Empowerment
Der Versuch, mittels der Deklaration einiger Länder als „sichere Herkunftsstaaten“ die Abschiebung zu erleichtern, entspannt die Problematik nicht. Denn ganz offensichtlich besteht die Gefahr, dass Minderheiten wie die Roma erst recht dadurch stigmatisiert werden, dass ihnen unterstellt wird, nicht einmal in sicheren Herkunftsstaaten zurecht zu kommen. Damit werde, so Albert Scherr, die „soziale Distanz noch einmal gesteigert".
Wie aber kann das Flüchtlingsproblem konkret vor Ort wenn nicht gelöst, dann wenigstens bearbeitet werden? Damit befasst sich ein anschaulicher Beitrag des Psychologen und Psychotherapeuten Friedrich Kiesinger über „Empowerment“. Er schildert darin unter anderem „Begegnungscafés, in denen zum Beispiel Sprachkurse gegeben werden oder sich die Menschen einfach kennenlernen und austauschen.“ Ohne diese beharrliche Arbeit, ohne den Mut zur Initiative und Inkaufnahme von persönlicher Unsicherheit und Unbequemlichkeit, wird die Flüchtlingsproblematik ganz sicher nicht gelöst werden. Und wir wissen, dass Perspektivenwechsel am ehesten in Begegnungen stattfinden, die wechselseitig zum „Empowerment“ führen.
Der historische Normalfall
Dabei kann ein Gedanke helfen, den der Historiker Jochen Oltmer entfaltet: Migrationsbewegungen sind keine Unfälle der Geschichte, sondern der Normalfall. Globalisierungsprozesse hat es schon früher gegeben und sie waren immer mit starken Wanderungsbewegungen verbunden. Man darf sich auch nicht wundern, dass die Europäer, die über Jahrhunderte in die sogenannte Dritte Welt gegangen sind, es nun mit Leuten zu tun haben, die in der Armut leben und nicht mehr darauf warten wollen, dass der Wohlstand zu ihnen kommt, sondern von sich aus dorthin gehen, wo er zu finden und auch zu schaffen ist.
Das neue Kursbuch wird seinem Namen gerecht: Es enthält Kursbestimmungen und so etwas wie Fahrpläne. Genau das wird in unserer Zeit der Migrationsproblematik gebraucht.
Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hg), Kursbuch 183, Wohin flüchten?, 200 Seiten, Murmann Publishers, Hamburg, September 2015