
Dem Schiffsreisenden bietet Kolkata einen überaus freundlichen Empfang. Die stillgelegten Fabrikschlote auf beiden Seiten des Hooghly geben unserem Blick auf die vorbeiziehende Uferlandschaft zwar weiterhin den Takt vor. Aber in den vielen Baumgruppen dazwischen verstecken sich alte Landsitze der britischen Kolonialherren.
Auch die früheren Klein-Kolonien der französischen, holländischen und dänischen Handelsgesellschaften suggerieren eine falsche Aura bukolischer Abgeschiedenheit, etwa mit der Sacré Coeur-Kirchturmspitze in Chandernagore.
«Elendsmetropole der Welt»
Wie anders ist die Ankunft auf dem Flughafen mit dem kuriosen Namen Damdam (ein Verweis auf die koloniale … Munitionsfabrik)! Die Autobahn führt an den Wohntürmen der boomenden Satellitenstadt Salt Lake vorbei; sie spiegelt sich in den Stahl-Glas-Bauten der globalen IT-Dienstleister. Und sobald sich die Stadt verdichtet, geht sie in eine Hochstrasse über, die auf die Slums hinunterschaut. Mit deren Dächern aus Blech, Plastic und Kartonnage wirken sie fast wie ein niedliches Mosaik.
Wer dagegen, wie die Grosszahl der Pendler und Reisenden aus der Provinz, mit der Bahn einfährt, wird zuerst einmal durch den menschlichen Mahlstrom der Howrah Station gedrückt. Dann rattern sie mit einem Taxi, Bus oder Rikscha über die wuchtige Howrah Bridge zu den zahllosen informellen Arbeitsplätzen in der Innenstadt – Gemüseverkäufer, Wachpersonal, und nicht zuletzt den Haushalten der alten Mittelklasse.
Spätestens jetzt wird jene Stadt hautnah und riechbar, für das sie ihren Namen als Elendsmetropole der Welt bekommen hat. Sie unterstreicht diesen Ruf mit dem Schmutz, der sich in den Seitengassen anhäuft, und in dem die Armee armer Menschen lebt. Er spiegelt sich aber auch im allmählichen Zerfall des architektonischen Erbes der einmal zweitgrössten Stadt des British Empire.
Viertausendjährige Geschichte
Der Ruf hat sich bis in die Hirne vieler seiner Bewohner eingenistet, die mit achselzuckender Gleichgültigkeit, wenn nicht Verachtung, ihre eigene Abgehobenheit demonstrieren. Sie findet ihren Ausdruck zudem in der voyeuristischen Zurschaustellung des Elends durch westliche Reisebüros oder den drastischen indischen Volksmythen, die in der kloakenhaften Trümmerstadt den «Lokus» finden, in dem sich die Götter erleichtern. Es weckt Erinnerungen an die Show eines Pariser Nachtklubs in den siebziger Jahren namens «Oh! Calcutta!» und der drastischen Etymologie, die ihre Betreiber dem Namen der stolzen Stadt verpasst hatten.
Indien sei ein «Palimpsest» vieler Vergangenheiten, hat der Staatsgründer Jawaharlal Nehru einmal über sein Land gesagt. Er meinte damit, dass sich im Verlauf einer Geschichte von viertausend Jahren eine kulturelle Schicht über die andere gelegt hat, ohne die darunterliegenden zu ersticken. Deren Geäst dringt vielmehr bis in die Gegenwart hinein und fordert hier Recht auf Sichtbarkeit.
Dieses suggestive Bild gilt auch und gerade für Indiens urbane Konglomerate; und in keinem wird den vielen Palimpsest-Schichten so viel Existenzrecht eingeräumt wie in Kolkata. Das Bild der Kloake ist zwar eine penetrante, aber eben nur hauchdünne Haut, neben der viele andere offen und wach sind, wenn man sich die Mühe nimmt, hinzusehen.
Götterstatuen mit frischem Lehm aus dem Fluss
Ich hatte auf meiner Gangesfahrt Gelegenheit, sofort in eine solche Schicht hindurchzustossen. Und ich verdankte dies einmal mehr dem Wasserweg, der mich dort ablud, ohne dass ich von Dichtestress, Armutsklischees oder dem verspiegelten Glanz der Glaspaläste überspült wurde.
Ohne dass man es zu hören, spüren oder zu riechen bekam, warf unser Schiff fast in der historischen Stadtmitte Anker. Wir wurden an der Uferpromenade abgesetzt, überquerten ein Bahngeleise und befanden uns plötzlich – im hohen Mittelalter. Vor uns öffneten sich schmale Strassen und ihnen entlang reihten sich zusammengedrängte Werkstätten. Deren Inneres diente offenbar als Lager und «Schaufenster», während die Arbeit auf der Strasse davor verrichtet wurde.
Vor fast jedem Arbeitsplatz sass ein kleiner Berg von Dreck, den ich im ersten Augenblick als Aushub aus einer Kloakenreinigung deutete, weil ich dem Elendsklischee auf den Leim ging. In Wahrheit war es der Rohstoff dieser Produktionsstätte – und er kam direkt aus dem Fluss: Es war «frischer» Lehm, mit dem die Töpfer von Kumartali um das geflochtene Bambusskelett herum ihre Götterstatuen formten. Einmal mehr war es ein Geschenk von Ganga Mata, auch wenn diese inzwischen Hooghly hiess.
Es war noch relativ früh am Morgen. Viele Handwerker holten halbgeformte Torsi vom Vortag aus dem Ladeninneren und waren etwa dabei, eine soeben gestaltete Hand einem Armstumpf aufzupropfen. Oder sie fuhren einer Göttin über Brust und Schenkel, um fast wie Liebhaber allfällige Unebenheiten aufzuspüren. Doch waren es überhaupt Frauengestalten? Man konnte die Figuren, geschlechtlos wie sie waren, wohl erst zuordnen, wenn sie mit Tüll und Glitzerschmuck bekleidet waren. Denn selbst Vishnu und Shiva stellten ihre pralle Brust zur Schau, und die Schminke um die Mandelaugen wirkte alles andere als binär.
Elend? Mitnichten
Schaute ich mich um, war sofort klar, dass Kumartali ein Armenviertel war. Die Hauswände waren zusammengenagelte Bretter, in den engen Seitengässchen muss man zum Durchkommen die Ellbogen an den Körper pressen. Und die Leitern an den Seitenwänden dienten dem Zugang zum oberen Stock. Aber Elend? Mitnichten. Es war ein florierendes Handwerkerviertel, wo Kunstfertigkeit und Geschäft so selbstverständlich waren, dass die «Töpfer» kaum hochschauten, wenn lästige Touristen stehenblieben und gönnerhaft glotzten.
«Zum Verkauf» stand ohnehin nichts. Die meisten Statuen waren Auftragsarbeiten. Man war eben sehr beschäftigt, denn bereits kündigte sich das nächste religiöse Fest an, das dritte in diesem Jahr. Später am Tag sah ich dem Ufer entlang die entstellten und gebleichten Leiber von Göttern herumliegen, und aus deren Innerem quoll Bambusgeflecht. Sie waren beim letzten Fest der Flussgöttin zurückerstattet worden.
Aber da die Behörden den Hooghly nicht unnötig verschmutzten wollen, muss es beim kurzen Eintauchen bleiben. Aus dem Wasser gezogen waren die Angebeteten nur noch Abfall; oder das Geflecht landete wieder in Kumartali, zwecks Reinkarnation im nächsten Fest.
Vischnus Achillesferse
Als wir uns am nächsten Morgen bereits anschickten, weiter in das Ganges-Mündungsgebiet der Sunderbans zu fahren, kam mir der indische Entstehungsmythus der Welt in den Sinn. Vishnu, ausgerechnet in seiner Inkarnation als Zwerg, hatte die Aufgabe, sie zu vermessen. In drei Gewaltsprüngen tat er dies, bekam aber beim letzten Aufsetzen eine kleine Schramme an der rechten grossen Zehe ab.
Es war quasi seine Achillesferse, denn oben im Kopf Vishnus drängte schon längst die Göttin Ganga, endlich auf die Erde schiessen zu können, um diese in die Unterwelt des Meers zu verbannen. Bisher hatten Vishnu und Shiva ihre Zerstörungsgewalt in ihrem Leib stauen können – aber nun war kein Halten mehr, so klein der Kratzer auch war. Immerhin war es nur eine winzige Wunde, und statt der endzeitlichen Flut würde sich «nur» ein Fluss ergiessen.Ich kam nicht umhin, das titanische Geschehen mit Kolkata in Verbindung zu bringen. Denn welches Bild könnte besser zur Stadt – so kurz vor der Mündung und damit dem Untergang – passen, als die lehmverdreckte, lehmbeschenkte Zehe eines Zwergs.
Lautstarke Präsenz des Islam
Als sich am Abend der Himmel über der Stadt plötzlich mit den zahllosen Gebetsrufen der Muezzin füllte, kam wieder eine Schicht des Palimpsests zum Vorschein – die islamische Kultur, deren andauernde Relevanz Bengalen abhebt von den meisten anderen indischen Bundesstaaten. Denn in keinem würde den Angehörigen einer Zwanzig-Prozent-Minderheit fünfmal täglich dieser Schallraum überlassen, als wäre es deren Stadt. Es ist, wie wenn am Sonntagmorgen in Zürich die Lautsprecher der Minarette die Kirchenglocken übertönen würden – ein beinahe absurdes Bild. Hier wird es täglich gelebt.