Miriam Stein kam in Korea zur Welt und wurde als kleines Kind 1977 in Deutschland adoptiert. Ihre Adoptivmutter wollte zwei leibliche Kinder und zwei adoptierte. Dieser Plan liess sich zweitweilig verwirklichen, doch dann wurden die Belastungen zu gross.
Aussenseiter
Zunehmend litt die Mutter unter Angststörungen, die sie in keiner Weise beherrschen konnte. Das zweite adoptierte Kind war zudem derartig verhaltensgestört, dass die Familie sich von ihm trennen musste. Die allerersten Jahre von Miriam Stein waren, wie sie sich hin und wieder erinnert, relativ unbeschwert und glücklich, aber sehr bald brach die Krankheit ihrer Adoptivmutter aus und lastete zunehmend auf ihr. Die Angstattacken häuften sich und hatten von aussen betrachtet Ähnlichkeiten mit epileptischen Anfällen.
Wieder und wieder versuchten Ärzte und Psychologen, der Patientin, die immer apathischer wurde und wochenlang das Bett nicht verliess, zu helfen. Vergeblich. Miriam Stein wurde zum doppelten Aussenseiter. Denn die Krankheit der Mutter löste bei den Klassenkameraden Befremden aus, und sie selbst hatte mit ihrem asiatischen Aussehen ohnehin Schwierigkeiten, als gleichwertig anerkannt zu werden.
Ironie und Humor
Bei den Schilderungen dieser Lebensumstände und ihres weiteren Lebensweges im Zeichen der Angst – der Begriff Furcht kommt kaum einmal vor – verfällt Miriam Stein nicht ins Lamentieren. Ganz im Gegenteil. Sie wahrt eine erstaunlich präzise Distanz. Sie schildert ihr Leiden und sie schildert, was in ihrem Inneren vor sich geht. Aber das geschieht nie auf exhibitionistische Weise. Im Blick auf sich selbst gibt es immer auch ein Element der Ironie und eine Prise Humor, wobei dieser bisweilen schwarz ist.
So schildert sie ihre Bulimie. Diese entsteht aus einer Mischung von Selbsthass, Minderwertigkeitsgefühl, Rache an Familie und Umwelt und: Angst. Angst, nicht zu genügen, Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, Angst vor dem grossen Absturz. Miriam Stein ist Austauschschülerin in den USA, schafft mit Ach und Krach das Abitur, schlägt sich in London durch und landet schliesslich in Berlin.
Unberechenbarkeit der Welt
Im Verlauf der Schilderungen ihres Lebensweges verändert sich die Perspektive. Zunehmend bezieht Miriam Stein das Lebensgefühl ihrer Generation ein. Auch hier ist die Angst dominant. Sie lebt zeitweilig in einem internationalen Jetset von Fotografen, Werbern oder überhaupt „Kreativen“ jeglicher Ausrichtung und stellt fest, dass hinter aller Grossspurigkeit und arrogantem Gehabe die nackte Überlebensangst steckt. Jeder fürchtet, schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden.
Berührend ist auch, dass ihre Generation sich im Grunde nach dem Leben ihrer Eltern sehnt, aber befürchtet, nie das entsprechende Wohlstandsniveau erreichen zu können. Das hängt nicht nur mit der lahmenden Konjunktur zusammen, sondern mit der zunehmenden Unberechenbarkeit der Welt. So resümiert sie:
„Dann flogen die Flugzeuge in die Twin Towers. Damit war die Aussicht auf ein gesichertes Leben dahin. Der von einigen erwartete Dritte Weltkrieg blieb zwar aus, aber damals brach die allgemeine Verunsicherung herein. Terrorkrieg, Digitalisierung der Arbeitswelt – viele Gewissheiten waren dahin.“
Unverzichtbares Sensorium
Sie schafft es trotzdem, zusammen mit einem Lebenspartner eine Nische in Berlin zu finden. Sie wird sogar Mutter, und das Verhältnis zu ihren Adoptiveltern entspannt sich. Auch die Mutter findet in die Normalität zurück. Aber das Thema der Angst lässt Miriam Stein nicht los. In Kalifornien besucht sie einen Angstexperten, Raphael Rose. Der ist auf Raumfahrt spezialisiert. Von ihm lernt sie, dass die bewunderten Astronauten sehr viel dafür tun müssen, ihre beständige Angst unter Kontrolle zu halten, aber dass sie ohne diese Begleiterin gar nicht überlebensfähig wären. Denn die Angst ist unter den Bedingungen des Raumflugs ein unverzichtbares Sensorium.
Diesem Besuch gingen einige Therapien zur Überwindung der Angst voraus. Miriam Stein schildert, wie ihr eine Therapeutin sehr nachhaltig geholfen hat. Auch hier gilt: Die Angst verschwindet nicht, aber man kann lernen, sie als Begleiterin unter Kontrolle zu halten.
Dank an die Lektorin
Der Klappentext verrät, dass Miriam Stein einige Jahre für die Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat und jetzt Ressortleiterin Kultur bei „Harper´s Bazaar“ ist. Am Ende des Buches bedankt sie sich bei der Lektorin Rebecca Casati „für das Ordnen meiner Gedanken, für furchtlose Unterstützung und Inspiration.“
In dieser Zusammenarbeit ist ein sehr lesenswertes Buch entstanden. Einzig der Untertitel, „7 Mutproben, die alles verändern“, führt in die Irre. Er klingt so, als handele es sich bei diesem Buch um eine Art Ratgeber mit Anleitungen. Aber das Buch ist viel besser: Miriam Stein schildert, wie ein Mensch mit Geist und Lebensenergie aus der Misere der Angst herausfindet.
Miriam Stein, Das Fürchten verlernen. 7 Mutproben, die alles verändern, 271 Seiten, suhrkamp taschenbuch, Berlin 2016