Am 10. Mai sollten in Polen Präsidentschaftswahlen über die Bühne gehen. Die herrschende rechtskonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) wollte diesen Termin trotz Coronakrise und gegen den Widerstand der gesamten Opposition durchdrücken. Meinungsumfragen zeigten auch seit einiger Zeit, dass nur eine Minderheit von höchstens einem Viertel Wahlen durchführen wollte. Wissenschaftler und Bürgerorganisationen, die Mehrheit der Medien und unlängst selbst der Präsident der Wahlkommission wandten sich gegen eine Wahl im Monat Mai.
Der Hauptgrund für die Starrköpfigkeit der PiS ist ihr Eigeninteresse, ihr unbedingter Wille, ihre Macht abzusichern. Die letzten Umfragen prognostizieren nämlich allesamt einen deutlichen Wahlerfolg des amtierenden Präsidenten Andrzej Duda. Und das schon im ersten Wahlgang. Allerdings räumten gestern prominente PiS-Politiker ein, dass der 10. Mai unrealistisch sei. Sie hielten aber weiterhin an einem Termin im Mai fest.
Das Kandidatenkarussel
Die Vorbereitungen auf die Wahlen hatten schon vor Monaten begonnen. Kurz nach den Parlamentswahlen vom Oktober (Journal21 16.10.2019), welche die PiS zusammen mit den beiden kleinen Koalitionspartnern erneut gewonnen hatte, wurden die entscheidenden Weichen gestellt.
Dass Duda nochmals antreten würde, war von vorneherein klar. Er war nicht nur der populärste Politiker, sondern hatte sich auch der PiS und ihrem Big Boss, Jaroslaw Kaczynski, klar untergeordnet. Er hatte sich zudem mit teilweise scharfen Voten bei der PiS-Basis zu profilieren gesucht, etwa gegen kritische Richter. Im Sommer 2017 hatte er immerhin noch gegen zwei von drei wichtigen Justizreformen sein Veto eingelegt, später war er allerdings eingeknickt (Journal21 16.09. 2017).
Fehlendes Charisma
Auf der Oppositionsseite traten alle einigermassen bedeutsamen Parteien bzw. Parteikoalitionen getrennt an, wie sie es schon bei den Parlamentswahlen getan hatten.
Die grösste Oppositionspartei, die liberal-konservative PO (Bürgerverständigung), wählte Malgorzata Kidawa-Blonska in Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatin, eine besonnene altgediente Politikerin.
Allerdings fehlt es ihr an Durchschlagskraft und Charisma. Ihre Chance gegen Duda zu gewinnen, standen denn auch nicht allzu gut.
Chancenloser Aussenseiter
Die Koalition aus drei linken Parteien, der sozialdemokratischen SLD (Bündnis der demokratischen Linken), der linken Kleinpartei Razem (Zusammen) und der linksliberalen Partei Wiosna (Frühling) bestimmte Robert Biedron zum Kandidaten. Trotz Rednertalent und Charme war Biedron als bekennender Homosexueller chancenloser Aussenseiter.
Die traditionelle PSL (Polnische Volkspartei) trat mit Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, dem populärsten Oppositionspolitiker, zu den Wahlen an. Dass er es in einen zweiten Wahlgang schaffen könnte, war allerdings kaum zu erwarten. Zu gross erschien der Abstand zur PO-Kandidatin.
Geschickte, pointierte Kampagne
Auch die überraschend neu ins Parlament eingezogene KP (die Konvention der Rechten), ein Zusammenschluss kleiner rechtsextremer Gruppierungen, stellte mit Krzystof Bozak einen Kandidaten. Der wenig bekannte Politiker sollte vor allem zur Konsolidierung der wenig kohärenten Politformation beitragen.
Aussenseiterchancen konnte sich der unabhängige populäre Journalist Szymon Holownia ausrechnen. Schon früh hatte er seine Ambitionen angemeldet. Er führte mit einem kleinen Stab eine geschickte und pointierte Kampagne, vor allem in den sozialen Medien wie Facebook und Twitter, was ihm immer mehr Anhänger bescherte.
Blasser Duda
Obwohl die Präsidentschaftswahlen seit Anfang Jahr zu den wichtigen politischen Themen gehörten, plätscherte der Wahlkampf eher gemächlich vor sich hin. Die Oppositionsparteien bemühten sich dabei mehr als die herrschende PiS. Diese bestimmte Andrzej Duda erst Mitte Februar auf einem wenig berauschenden Parteitag zum offiziellen Kandidaten. Duda selber blieb in seinem Auftritt ziemlich blass, versprach auch keine neuen Verbesserungen, sondern betonte die bisherigen Erfolge.
Noch in der letzten Februarwoche lag zwar Duda in einer Umfrage im ersten Wahlgang deutlich vorne. Im zweiten Wahlgang hätte er aber gegen Kidawa-Blonska, Kosianiak- Kamysz und sogar gegen Holownia nur einen äusserst knappen Vorsprung erzielt.
Corona ändert alles
Am 3. März wurde der Wahltermin auf den 10. Mai festgelegt. Am 4. März hatte Polen seinen ersten bestätigten Coronafall. Damit wurde alles anders.
Das PiS-Regime reagierte schnell und drastisch, obwohl die Fallzahlen zuerst nur langsam anstiegen. Das Epidemiegesetz wurde bereits Mitte März in Kraft gesetzt. Weitgehende Ausgangssperren und viele Einzelmassnahmen folgten. Die Polizei führte scharfe Kontrollen mit Bussgeldern durch.
Forderung nach Absage der Wahlen
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung unterstützte laut Umfragen die Massnahmen. Der Gesundheitsminister wurde zum populärsten Politiker. Der harte Kurs fand auch weitgehend die Unterstützung der Opposition. Allerdings kritisierte diese die mangelnde Vorbereitung und ungenügende wirtschaftliche Unterstützungsmassnahmen. Der Wahlkampf trat in den Hintergrund.
Die Opposition forderte schon bald eine Absage bzw. Verschiebung der Wahl, da die Coronakrise keine fairen und sicheren Wahlen zuliessen. Kidawa-Blonska rief sogar zu einem Wahlboykott auf. Die PiS hingegen hielt an ihrem Datum fest. Sie wollte die relativ erfolgreiche Coronastrategie unbedingt in einen Wahlerfolg ummünzen.
Eine starke Zunahme von Kranken konnte verhindert werden. Nach dem Höhepunkt vom 19. April mit 550 gemeldeten Neuansteckungen gingen die Zahlen wieder zurück. Am 2. Mai waren es noch 270. Auch die Todesfälle blieben mit insgesamt 667 gering, wenn man die Einwohnerzahl von über 38 Millionen Einwohnern berücksichtigt. Allerdings wurde relativ wenig getestet, die Methodik bei den Sterbezahlen angezweifelt. Seit einer Woche wurden nun wieder schrittweise Lockerungen eingeleitet.
Umstrittene Brief-Wahl
Gegen den Widerstand der Opposition verabschiedete die PiS am 6. April im Sejm ein neues Gesetz. Die Wahlen sollten neu nur brieflich durchgeführt werden. Das war bisher nicht möglich und beinhaltete grosse organisatorische Umstellungen und Unsicherheiten. Das Gesetz wurde umgehend an den Senat überwiesen. Hier verfügt die PiS allerdings über keine Mehrheit. Das ist normalerweise nicht von grosser Bedeutung, da die Änderungsvorschläge des Senats im Sejm wieder überstimmt werden können. Die Opposition konnte aber die maximale Verhandlungsfrist von einem Monat nutzen, so dass die geplante Wahl vom 10. Mai immer unrealistischer wurde. Erst nach der morgigen Senatsentscheidung kann der Sejm am Donnerstag eine Entscheidung fällen, ob und wann die Wahlen durchgeführt werden.
Die Situation spitzte sich in letzter Zeit zu und nahm teilweise groteske Züge an. Die Regierung entzog der Wahlkommission die unmittelbare Vorbereitung, wollte selber die Wahlunterlagen drucken und wies die Post vorsorglich an, die Zustellung vorzubereiten. Das oberste Gericht hingegen verabschiedete vor ein paar Tagen ein Gutachten, dass das Briefwahl-Gesetz nicht weiter verfolgt werden sollte, da es viele Mängel enthalte und nicht verfassungskonform sei.
Wahlen am 17. oder 23. Mai?
Was die Lage besonders spannend macht, ist die mangelnde Geschlossenheit des PiS-Lagers. Vizepremier Jaroslaw Gowin, Chef einer kleinen, eher rechtsliberal ausgerichteten Bündnispartei, meldete schon vor einiger Zeit Opposition gegenüber Wahlen im Mai an. Er machte seinerseits den Vorschlag, die Verfassung zu ändern: die Präsidentschaftswahlen um zwei Jahr zu verschieben, ohne ein Wiederwahlrecht für den jetzigen Präsidenten. Dazu wäre allerdings die Unterstützung der Opposition nötig gewesen, die ausblieb.
Gowin trat als Vizepremier zurück und führte auch Gespräche mit Oppositionspolitikern. Er kündigte an gegen das Brief-Wahlgesetz zu stimmen. Wie viele seiner Parteikollegen schliesslich mitmachen, ist noch unklar. Es könnte nach aktuellem Informationsstand allerdings reichen, um der PiS eine Abstimmungsniederlage zuzufügen. Die PiS unternimmt denn auch grosse Anstrengungen, ihre Position doch noch durchzudrücken. Falls ihr das gelingt, werden die Wahlen wohl am 17. oder der 23. Mai stattfinden.
Offener Ausgang
Die zu erwartende geringe Wahlbeteiligung dürfte vor allem die Opposition schwächen. Sie hatte ja teilweise selber zu einem Wahlboykott aufgerufen. Zudem machte sie in letzter Zeit keinen geschlossenen Eindruck. Duda würde wahrscheinlich Präsident bleiben, allerdings mit geschwächter Legitimation.
Falls das Brief-Wahlgesetz keine Mehrheit findet, müssen neue Lösungen gesucht werden. Denn nach der Verfassung sollten bis spätestens 23. Mai Wahlen stattfinden. Eine Möglichkeit wäre die Ausrufung eines Notstandes, was schon die Opposition vorgeschlagen hatte. Dann wären Wahlen aufgrund eines entsprechenden Verfassungsartikels nicht durchführbar. Dieser Vorschlag war aber von der PiS abgelehnt worden. Wahrscheinlich fürchtete Kaczynski, die zu erwartenden negativen Folgen der Coronakrise würden später einen Wahlerfolg schwierig machen. Jetzt nachzugeben, bedeutete einen grossen Gesichtsverlust. Möglich wäre auch ein schneller Rücktritt von Andrzej Duda, so dass die Wahlen neu angesetzt werden könnten, im besten Fall sogar nach Rücksprache mit der Opposition.
Wie die ganze Sache ausgeht, ist noch völlig offen. Polens stark polarisierte Politszene hat einmal mehr zu einer akuten politischen Krise geführt. Das sind keine erfreulichen Aussichten in Anbetracht der grassierenden Coronaepidemie.