Als erstes muss gesagt werden, dass das Ausmass der sexuellen Bedrängung von Kindern und jungen Menschen nicht nur in den Kirchen, sondern auch in pädagogischen Einrichtungen, Sportvereinen und ähnlichen Organisationen alles übersteigt, was sich ein normaler Mensch vorstellen könnte.
Aber es muss auch gesagt werden, dass die Kirchen in den ersten Reihen der Anklagebänke sitzen. Denn sie sind ja nach eigener Auskunft die Hüter der Moral.
Als drittes muss gesagt werden, dass es eine Veränderung im Sprachgebrauch gegeben hat, die gut gemeint, aber alles andere als gut gedacht ist. Und noch schlimmer: Sie dient der Verschleierung des eigentlichen Skandals:
Als die Skandale aufkamen, wurde von „sexueller Gewalt“ gesprochen und geschrieben. Aber nach und nach kam der Begriff „sexualisierte Gewalt“ auf. Diejenigen, die diese Ausdrucksweise auf allen möglichen administrativen, kirchlichen und sonstigen Eben propagiert haben und noch propagieren, wollen den Begriff der Gewalt in den Vordergrund rücken. Sie meinen, damit die Opferperspektive in den Vordergrund zu stellen. Was könnte daran falsch sein?
Alles.
„Sexuelle Gewalt“ ist etwas ganz anders als „sexualisierte Gewalt“. Man kann sich das ganz einfach an sprachlichen Parallelen klarmachen: Zum Beispiel ist „staatliches Eigentum“ etwas anderes als „verstaatlichtes Eigentum“. Der Unterschied liegt darin, dass beim „staatlichen Eigentum“ zunächst einmal ein Staat da ist, der aus welchen Gründen auch immer über Eigentum verfügt. Beim „verstaatlichten Eigentum“ verhält es sich völlig anders. Da gibt es zunächst ein privates Eigentum, auf das ein Staat zugreift. Also geht das Eigentum an den Staat.
Entsprechend steht beim Ausdruck „sexuelle Gewalt“ die Sexualität im Vordergrund. Sie ist es, die zur Gewalt greift. Umgekehrt bedeutet „sexualisierte Gewalt“, dass da eine Gewalt ist, die sich der Mittel der Sexualität bedient.
Diese Gewalt gibt es durchaus. Wir kennen sie leider aus Kriegen, in denen zum Beispiel Massenvergewaltigungen zum Mittel des militärischen Vernichtungswillens wurden. Das ist bis heute so, auch im innerstaatlichen Terror von Gewaltorganisationen.
Aber würde man die Kirche so einordnen wollen? Dann wäre sie eine gewalttätige Organisation, die bei der Gewaltausübung auch zur Sexualität greift. Alles was recht ist: Die heutigen Geistlichen haben eher ein distanziertes Verhältnis zur Gewalt. Aber umgekehrt besteht die verstörende Einsicht darin, dass manche dieser Brüder weniger von Gewalt- als vielmehr von Sexualfantasien heimgesucht werden. Und diese äussern sich in Handlungen, die mit Gewalt verbunden sind.
Man kann sich diesen Unterschied sprachlich noch weiter verdeutlichen. Man kann statt von „sexueller Gewalt“ von „sexuell motivierter Gewalt“ sprechen. Würde man den Ausdruck umkehren, landete man etwa bei „gewalttätig motivierter Sexualität“. Der Ausdruck „sexualisierte Gewalt“ verniedlicht diese harte Unterscheidung. Und am Ende müssen wir uns nicht wundern, dass die „Aufklärung“ oder die „Aufarbeitung“ dieser Fälle nicht vorankommen. – Und die Opfer fühlen sich noch weniger verstanden als je zuvor.