"The Iron Wall", so lautete der Titel eines Aufsatzes (den Avi Shlaim für sein Buch übernahm) , welchen der in Odessa geborene Zionist Wladimir Jabotinsky im Jahre 1923 geschrieben hat. In seinem Essay lehnte Jabotinsky die Ansicht vieler Zionisten ab, die Araber würden sich einst mit der Existenz eines jüdischen Staates abfinden, gäbe man ihnen nur ein paar wirtschaftliche und kulturelle Vorteile.
Jabotinskys Rezept
Nein, argumentierte Jabotinsky, kein Volk, auch das palästinensische nicht, würde sich freiwillig von seiner Heimat trennen. Also müssten die Zionisten so stark sein, dass jedweder arabische Widerstand gegen die jüdische Besiedlung Palästinas wie an einer "eisernen Mauer" abpralle. Allerdings, räumte Jabotinsky ein, hätten die Zionisten einmal eine solche Stärke erreicht, dann könne man mit den Arabern durchaus über ihren Status in einem jüdischen Staat sprechen.
Eine "eiserne Mauer" aus Panzern, Kampfbombern, U-Booten wie auch aus einem eigenen Atomwaffenpotential hat Israel in der Tat um sich herum gebaut. Dazu kommt seit ein paar Jahren eine physische Mauer (von der Wladimir Jabotinsky nicht einmal geträumt haben dürfte) , die den Palästinensern noch einmal ein Gutteil ihres fruchtbaren Landes nimmt.
Shlaims fundamentale Kritik
Avi Shlaim, 1945 in eine reiche jüdische Familie in Bagdad hinein geboren, nach einem Anschlag auf eine Synagoge 1951 aus Bagdad nach Israel geflüchtet, ist heute angesehener Professor für internationale Beziehungen in Oxford. Er ist verheiratet mit der Urenkelin von David Lloyd-George, dem britischen Premier, als Außenminister Lord Balfour seine berühmt-berüchtigte Erklärung abgibt, wonach dem jüdischen Volk eine "Heimstatt" in Palästina gegeben werden solle.
Avi Shlaims gegenüber der israelischen Politik äusserst kritisches Buch "The Iron Wall, Israel and the Arab World", erschien im Jahre 2000. Avi Shlaim beendet sein Werk mit der Hoffnung, dass Ehud Barak, der damals Ministerpräsident war, den Weg zum Frieden ebnen würde.
Baraks Versäumnisse
"Unglücklicherweise", schreibt Avi Shlaim heute in einem Aufsatz in der neuesten Ausgabe des "Journal of Palestine Studies", "hat es Barak als Premierminister versäumt, diese hohen Erwartungen zu erfüllen." Barak habe von Frieden gesprochen, ohne den Preis dafür bezahlen zu wollen. In der Tat war Barak der einzige Premier nach Yitzhak Rabin, der den Palästinensern kein Land zurückgegeben hat. Selbst Benjamin Netanjahu sah sich gezwungen, in einer ersten Amtszeit ( 1996-1999) einge Landstriche abzutreten.
Im Übrigen aber, schreibt Avi Shlaim, habe Netanjahu die zweieinhalb Jahre der Zeit, die seine erste Amtszeit markierten, mit einer weitgehend erfolgreichen Anstrengung verbracht, "die Oslo-Abkommen (die Yitzak Rabin 1993 mit den Palästinensern geschlossen hatte) einzufrieren, zu unterminieren, zu unterlaufen, während er gleichzeitig die Ausdehnung der Siedlungen im Westjordanland voranbrachte."
Barak aber weigerte sich, wie vorher vereinbart, arabische Dörfer um Jerusalem herum zurückzugeben. Auch installierte er nicht die zuvor versprochene, für Palästinenser sichere Passage zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland.
Getreue Schüler Jabotinskys?
Sowohl Staatsgründer David Ben Gurion als auch Benjamin Netanjahu erwiesen sich laut Shlaim als getreue Schüler Jabotisnskys mit einer Ausnahme: sie traten niemals in Phase zwei von Jabotinskys These ein. Dieser hatte gesagt, nachdem Israel eine unüberwindbare Stärke aufgebaut habe, müsse man mit den palästinensischen Arabern sprechen. Für Ben Gurion gab es , wie Avi Shlaim schreibt, dafür keinen Grund, weil er in den Arabern einen "primitiven, unversöhnlichen und fanatischen Feind" gesehen habe, der im Mittelalter lebe, während die Juden eine moderne Gesellschaft aufgebaut hätten.
Der einzige, der sich auch Phase zwei von Jabotinskys These von der "eisernen Mauer", nämlich Verhandlungen mit den Palästinensern, zugewendet habe, sei Yitzhak Rabin gewesen. Yitzhak Rabin nämlich schloss 1993 mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafats die Abklommen von Oslo. Angesichts der ersten Intifada (1987-1993) und der Bereitschaft arabischer Staaten, Frieden zu schließen, sei Rabin bereit gewesen, Verhandlungen mit den Arabern aufzunehmen und damit Phase zwei von Jabotinskys These zu akzeptieren.
Vagheiten in Camp David
Seit Yitzhak Rabin, der 1995 von einem radikalen, durch die Siedlerbewegung beeinflussten jungen Mann ermordet wurde, haben nach den Darlegungen Avi Shlaims alle israelischen Regierungen - ob von der Arbeitspartei, dem Likud oder der Kadima gestellt - ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern abgelehnt. Ehud Barak und natürlich Ariel Sharon sowie Benjamin Netanjahu waren von vornherein Gegner der Übereinkommen von Oslo.
Barak verhandelte zwar auf Druck des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton im Jahr 2000 in Camp David über die Gründung eines palästinensischen Staates. Doch Baraks Angebote an Arafat seien, schreibt Avi Shlaim, so dürftig gewesen, dass sie nicht einmal von den kompromissbereitesten Palästinensern hätten akzeptiert werden können. Diese These wird, im Übrigen, auch von einem Mann wie Robert Malley gestützt, einem Mitglied von Clintons Verhandlungskommission. Robert Malley schrieb, dass Barak den Palästinensern niemals ein kompaktes Angebot gemacht habe.
Sharons Rückzug aus dem Gazastreifen ohne Verhandlungen
"Zurück zur eiserne Mauer ohne Verhandlungen mit den Palästinensern" - so lautet die gemäss Shlaim die Devise, seitdem die Ministerpräsidenten Ehud Barak, Ariel Sharon, Ehud Olmert und Benjamin Netanjahu die Richtung der israelischen Politik bestimmen. Der von Ariel Sharon beschlossene Rückzug aus dem Gazastreifen war (im Jahr 2005) kein Schritt im so genannten Friedensprozess, sondern ein Mittel, eben diesen Prozess einzufrieren und gleichzeitig die Siedlungen im Westjordanland auszubauen.
Kein anderer als Dove Weisglass, seinerzeit Berater Sharons, hat damals erklärt, der einseitige Rückzug diene dazu, den Friedensprozess zu beenden. Tatsächlich wurden, wie Avi Shlaim kritisiert, die Palästinenser niemals kontaktiert, der Rückzug wurde mit ihnen nicht abgesprochen, Verhandlungen, die auf eine Wiederaufnahme der Friedensbemühungen durch Arien Sharon hätten deuten können, fanden nicht statt.
Überhaupt sei Ariel Sharons Wahlsieg Anfang 2001 das Signal für die Rückkehr zu Phase eins von Jabotinskys These von der "eisernen Mauer" gewesen: Rückkehr zu unüberwindbarer israelischer Stärke, um alle arabischen Friedenshoffnungen zu begraben. "Die gewissenlose Anwendung von Macht und der mangelnde Respekt für das Leben von Zivilisten war stets ein Kennzeichen von Sharons Karriere", schreibt Sharons Landsmann Avi Shlaim.
Vernichtendes Urteil über Netanyahu
Und nun, seit 2009, zum zweiten Mal Benjamin Netanjahu. Avi Shlaims Urteil ist vernichtend. Er schreibt: "Die Koalitionsregierung, die er formte, war unter den aggressivst rechten, chauvinistischen und rassistischen Regierungen in der Geschichte Israels." Von Anfang an habe sie das Ziel eines "Gross-Israel" verfolgt. Das sei eine Politik, die sich mit dem Ziel, zwei Staaten im historischen Palästina zu erreichten, nicht vereinbaren lasse.
Zurück also zum Prinzip der "eisernen Mauer" Teil eins. Teil zwei von Jabotinskys Konzept ? Verhandlungen mit den Unterlegenen" lehnt der selbst erklärte Jabotinsky-Anhänger Benjamin Netanjahu stets strikt ab.
Nach einem ähnlichen Konzept handelt die Netanjahu-Barak-Lieberman-Regierung gegenüber dem Iran. Es ist nicht die angebliche Bedrohung durch den Iran, die Israel über einen Angriff auf den Iran nachdenken lässt. Es ist vielmehr die Tatsache, dass sich hier eine Regionalmacht daran macht, das zionistische Prinzip der "eisernen Mauer" nachzuahmen: der Iran, in den letzten 105 Jahren von westlichen Interventionen und einem irakischen Angriff gebeutelt, will genauso stark sein wie Israel, will sich (wenn westliche Einschätzungen stimmen) , wie Israel, durch eine atomare "eiserne Mauer" schützen.
Avi Shlaim: The Iron Wall Revisited. In: Journal of Palestine Studies. Published by University of California Press for the Institute for Palestine Studies. 162, Vol XLI, Number 2, Winter 2012, S. 80-98
Avi Shlaim: The Iron Wall. Israel and the Arab World. London 2000