Demokratie und Rechtsstaat sind untrennbar miteinander verbunden. Das Dilemma, das Teile der Politik zwischen beiden sehen, gibt es daher richtigerweise nicht.
Ins Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative nahm der Ständerat, um dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit soweit als absolut notwendig nachzuleben, eine Härtefallklausel auf. Gemäss der NZZ vom 13.12.2014 befinden sich CVP und FDP nun im Hinblick auf die zweite Behandlung dieser Vorlage im Nationalrat in einem Dilemma. Die Fraktionspräsidentin der FDP findet danach, die Lösung des Ständerates sei rechtsstaatlich korrekt, aber demokratiepolitisch problematisch. Nationalrat Kurt Fluri lässt sich zitieren mit: «Wir stecken im Dilemma zwischen Demokratie und Rechtsstaat.» Und die NZZ meint, das Dilemma werde kaum zu lösen sein: stelle sich das Parlament auf die Seite der Rechtsstaatlichkeit, bestehe das Risiko, dass die Stimmbürger dies mit einem Ja zur Durchsetzungsinitiative wieder korrigierten. Dies gehöre allerdings zu den Spielregeln der direkten Demokratie.
Dem muss entschieden widersprochen werden, auch wenn das eine seit einigen Jahren in der Politik - mangels Mut, die gefährliche populistische Überhöhung des Volkes zurechtzurücken, - eine verbreitete Haltung ist. Wer diese vertritt, verkennt das Wesen der Demokratie und die Vorgaben unserer Bundesverfassung dazu.
Der demokratische Staat kann nur ein Rechtsstaat sein
Seit den Zeiten der Aufklärung hat sich die Überzeugung immer mehr durchgesetzt, dass jedem Menschen eine unantastbare Würde zukommt. Auf dieser Erkenntnis beruhen die Menschenrechte, die damit eine vorstaatliche Geltung beanspruchen können. Sie bedeuten für jeden Menschen das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt). Den demokratischen Staat konstituieren nun Menschen mit dieser Würde und diesem Recht zusammen mit Menschen mit allen der gleichen Würde und dem gleichen Recht. Deshalb sind Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden und kann der demokratische Staat nur ein Rechtsstaat sein, der die gleichen Grund-und Menschenrechte allen Menschen auf seinem Gebiet garantiert.
Das legten Volk und Stände auch so in unserer Bundesverfassung fest, indem sie in Art. 5 schrieben: „Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht“. Sie schrieben darin weiter die Verhältnismässigkeit, Treu und Glauben wie auch die Respektierung des Völkerrechts als unsere rechtstaatlichen Grundsätze fest. Könnten diese Grundsätze und die nach den Regeln unserer Bundesverfassung als für uns verbindlich übernommenen völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien, wie die der Europäischen Menschenrechtskonvention, durch eine Volksmehrheit jederzeit missachtet werden, wären wir keine die gleiche Würde und damit auch die gleichen Grundrechte und –freiheiten aller Mitmenschen achtende Demokratie mehr, sondern eine Diktatur der Mehrheit, die sich in nichts von jeder anderen willkürlich herrschenden Diktatur unterscheiden würde.
Damit wird klar, dass es in der Demokratie, auch in der direkten, kein Dilemma zwischen der demokratischen Entscheidfällung und dem Rechtsstaat gibt. Der Ständerat will die Ausschaffungsinitiative ganz zu Recht nur unter Wahrung des Vehätnismässigkeitsprinzips und damit der Rechtsstaatlichkeit umsetzen.
Teilrevisionen der Bundesverfassung dürfen den Rechtsstaat nicht aushöhlen
Es ist unbestritten, dass das Parlament sich in der Gesetzgebung an die rechtsstaatlichen Vorgaben unserer Bundesverfassung zu halten hat. Jede Gesetzesbestimmung muss verfassungsmässig sein. Das Gleiche muss für Volk und Stände gelten, wenn sie mit Teilrevisionen der Bundesverfassung mangels einer Gesetzesinitiative inhaltlich oft nichts anderes als Gesetzesbestimmungen erlassen wollen. Volk und Stände sind dann nicht der Staat. Sie handeln vielmehr als Organ des Staates und haben sich dabei an die gleichen verfassungsmässigen Grundregeln wie die anderen Organe zu halten. Andernfalls liessen sich die rechtsstaatlichen Grundsätze und die Grund- und Menschenrechte, deren Einschränkung gemäss Art. 36 der Bundesverfassung auch stets verhältnismässig sein müssen, beliebig aushöhlen, womit sie ihren Zweck nicht erfüllen könnten. Unser Rechtsstaat und damit die richtig verstandene Demokratie könnten untergraben werden.
Nach diesen richtigen rechtsstaatlichen Spielregeln dürfte über die Durchsetzungsinitiative, die den zentralen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit bewusst missachtet, nicht abgestimmt werden und dann bestünde auch insoweit kein Dilemma zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Dies zumal auch die politischen Rechte ausgehöhlt werden, wenn über Volksinitiativen abgestimmt werden darf, die nicht umgesetzt werden können. Das verletzt die Garantie der unverfälschten Stimmabgabe des Art. 34 der Bundesverfassung, so dass das Volk nur verschaukelt wird, weil sein Wille bei einer Annahme der Initiative gar nicht verwirklicht werden kann. Der Ungültigkeitsgrund der Verletzung zwingenden Völkerrechts bei eidgenössischen Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung wurde bei der Verabschiedung der neuen Bundesverfassung in einem weiten Sinne verstanden, nämlich so, dass Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung die unabdingbaren Grundlagen unseres Rechtsstaates nicht aus den Angeln heben dürfen. Die Bundesversammlung müsste sich nur wieder darauf und auch auf die Rolle des Volkes als Organ des Staates, wenn es über Teilrevisionen der Bundesverfassung zu bestimmen hat, besinnen. Dann erscheinen rechtsstaatliche Einschränkungen auch für Volk und Stände in diesem ihrem Zuständigkeitsbereich als gerechtfertigt, ja als notwendig wie bei den anderen Staatsorganen. Politiker hingegen, die das Volk - dessen Willen sie stets zu kennen und zu vertreten anmassen - als allmächtig überhöhen, verkennen dessen dargelegte Rolle als Staatsorgan. Sie sehen so das Volk und wohl auch sich selber als dessen Vertreter stets und allein als der immanente Staat, der alles darf. „L’état c’est moi“ konnte der absolutistische Sonnenkönig Louis XIV im Frankreich des 17. Jahrhunderts noch proklamieren. Heute sollte das vorbei sein.