Im Rückblick erscheint die deutsche Emigration während der Zeit des Nationalsozialismus wie ein Labor für politische und künstlerische Ideen. Allerdings war die Versuchsanordnung nicht freiwillig. Zum Teil herrschte grösste Not. Aber ganz sicher gab es ein Klima, das gerade wegen der Widrigkeiten geistige Produktivität begünstigte.
Fred Stein und seine Frau flohen unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Frankreich. Als Jude und Mitglied der «Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands» (SAP) war er in Deutschland seines Lebens nicht mehr sicher. In Paris musste sich Fred Stein ganz neu orientieren. Seine juristische Laufbahn, die er mit einem Studium in Heidelberg begonnen und nach dem ersten Staatsexamen in Leipzig mit einem Referendariat am Landgericht Bautzen fortgesetzt hatte, konnte er in Frankreich nicht beenden. Dazu fehlten ihm die finanziellen Mittel.
Um wenigstens einen minimalen Lebensunterhalt zu sichern, richteten Liselotte und Fred Stein in ihrer Wohnung in Montmartre ein einfaches Fotostudio ein und boten unterschiedlichste fotografische Dienstleistungen an. Das dazu gehörende Labor war nichts anderes als ein Provisorium im Badezimmer. Stein suchte auch den Kontakt zu emigrierten Fotografen und besuchte bei Joseph Breitenbach einen Fotokurs. Er lernte auch Robert Capa und seine Gefährtin Gerda Taro kennen, die bei den Steins zeitweilig wohnte.
Noch in seinem Heimatort Dresden hatte sich Stein eine gebrauchte «Leica I» gekauft, die bis heute legendäre «Ur-Leica». Diese neuartige Kamera, die als erste mit einem 35mm-Film arbeitete, gab aufgrund ihrer Handlichkeit den Fotografen neue Möglichkeiten. Stein nutzte sie, indem er auf Versammlungen politischer und literarischer Zirkel in Paris fotografierte. Aber er war nicht nur stiller Beobachter und Fotograf. 1935 stellte er den Antrag auf Mitgliedschaft im «Verband deutscher Journalisten in der Emigration». Er wurde einstimmig aufgenommen und gestaltete die Arbeit ab 1937 im Vorstand mit.
Ein herausragender Anlass war 1935 der «Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur». An den Diskussionen dürfte sich Stein lebhaft beteiligt haben. Dass er mit seiner unauffälligen Leica seine Fotos machte, wurde ganz offensichtlich akzeptiert.
Im Schatten der «Säuberungen»
Die politischen Debatten waren zum Teil heftig. Denn die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus liess die Frage offen, wie man es mit der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion hielt. Stalins Misswirtschaft, die «Säuberungen» und die Schauprozesse verstörten viele Genossen. Die Erschütterungen verstärkten sich mit dem beginnenden spanischen Bürgerkrieg, an dem sich einige Emigranten beteiligten und dabei das skrupellose Vorgehen kommunistischer Agenten erlebten. Arthur Koestler hat seine Ernüchterung in seinem Buch «Ein spanisches Testament» verarbeitet.
Anders Lion Feuchtwanger. Der liess sich von Stalin einladen, reiste kreuz und quer durch die Sowjetunion und wollte vom Elend und vom Hunger nichts gesehen haben. Er schrieb ein Jubelbuch über seine Reise. Erst in Amerika änderte er seinen Sinn. André Malraux zog dagegen früher die Konsequenzen und sagte sich vom Kommunismus los. Willi Münzenberg wiederum, der in Deutschland der erste linke Medienunternehmer ganz grossen Stils gewesen war, wurde aufgrund seiner Kritik vermutlich von Geheimagenten Stalins ermordet.
Als Deutschland Frankreich angriff, wurden alle deutschen Emigranten als «feindliche Ausländer» in diversen Lagern interniert. Die meisten dieser Lager waren der pure Horror. Fred Stein gelang es nach 10 Monaten, aus einem Lager in Saint-Nazaire zu fliehen und sich nach Toulouse durchzuschlagen, wo er seine Frau und seine gerade geborene Tochter wiedersah. In den folgenden Monaten waren die Steins bemüht, die für eine Flucht in die USA nötigen Papiere zu beschaffen, die sie nach und nach auch erhielten. Von Marseille fuhren sie nach New York. Dort begannen sie nahezu mittellos ein neues Leben und richteten ein Fotostudio ein. Wieder war die Fotografie die wichtigste Einkommensquelle.
1941 trat Stein der Fotografenvereinigung «Photo League» bei und stellte beim «National Refugee Service» einen Antrag, um sich eine Rolleiflex kaufen zu können. Denn seine Leica, die ihm in Amerika Freunde geschenkt hatten, genügte qualitativ nicht den Anforderungen des amerikanischen Fotomarktes. Aufgrund seiner Verbindungen und Erfahrungen in Paris spezialisierte Stein sich mehr und mehr auf die Porträtfotografie. Steins Fotos sind in verschiedenen bedeutenden Zeitschriften in den USA erschienen. Dazu gehören Time, The New York Times, The Saturday Review of Literature und Fortune. Als Porträtfotograf war er derartig anerkannt, dass Schriftsteller von Rang und Namen nicht an ihm vorbeikamen, wenn sie für ihre Publikationen ein Foto von sich benötigten.
Nach dem Krieg unternahm Stein Reisen nach Deutschland und verfolgte verschiedene Projekte. Er veröffentlichte einen Band mit Porträts, andere Vorhaben verliefen aber im Sande. Er starb 1967 im Alter von 58 Jahren. In den folgenden Jahren geriet er mehr und mehr in Vergessenheit.
Es ist ein grosses Verdienst des Deutschen Historischen Museums, seine zum Teil verstreuten Bilder gesammelt zu haben und jetzt auszustellen. Der Katalog gibt mit seinen vorzüglichen Begleittexten und entsprechender Druckqualität einen atmosphärisch dichten Einblick in die Welt der Emigranten. Manche Porträts sind derartig sprechend und ausdrucksvoll, dass man sie wieder und wieder anschaut.
Report from Exile – Fotografien von Fred Stein. Deutsches Historisches Museum Berlin, bis 20. Juni 2021. Der Begleitband kostet 18 Euro.