Es schneit, und alle haben etwas zu erzählen. Die Regionen abseits der Berge und ganz besonders die urbanen Reviere geraten schon bei wenigen Zentimetern Neuschnee in Ausnahmezustände. Der Autor der «Unterwegs»-Reihe steuert seine eigene Schneegeschichte bei.
Im Laufe des Donnerstagnachmittags setzt Schneefall ein – wie von Meteo Schweiz vorausgesagt. Aus dem Jura und der Region Basel erreichen uns erste Meldungen über Verkehrsprobleme. In Zürich nimmt man es (vorerst) mit Fassung. Noch ist der Winter nicht tot, denkt man erleichtert. Wenn es schneit, freuen sich Hunde und Kinder, sagt ein Hündeler, dem wir auf dem Weg zum Bahnhof begegnen und dessen Hund uns überschwänglich begrüsst. Er zeigt auf die gestressten Automobilisten, welche sich genervt durch die Quartierstrasse schlängeln, weil die Hauptstrassen, wie wir später lesen, mit querstehenden Fahrzeugen blockiert sind.
Wir freuen uns auch, nicht nur über den Schnee, sondern vor allem über das Konzert in der Tonhalle. Zwei Frauen werden im Mittelpunkt stehen, die deutsche Sopranistin Diana Damrau und die französische Dirigentin Nathalie Stutzmann. Werke aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stehen auf dem Programm. Ich freue mich vor allem auf die 5. Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky, die mich schon als Sechzehnjähriger wegen des in allen vier Sätzen wiederkehrenden mächtig-dunklen Schicksalsmotivs tief beeindruckt hatte.
Gut gelaunt stehen wir in Küsnacht auf dem Perron, etwas früher als sonst. Von weitem sehen wir die S7 aus Rapperswil um die Kurve biegen. Hinter einer Plakatwand suchen wir Schutz vor der gewaltigen Schneewolke, welche der vorbeirasende Zug hinter sich herzieht. Die nachfolgende S6 habe fünf Minuten Verspätung, sagt die Anzeige auf dem Perron. Kein Problem, denken wir und sind beruhigt.
Vom Bahnhof Stadelhofen stapfen wir zum Bellevue und weiter über die Quaibrücke, überqueren den Bürkliplatz und erreichen rechtzeitig die Tonhalle. Hier herrscht freudige Erwartung. Nur der etwas verspätete Beginn erinnert daran, dass draussen der Winter seinen Taktstock schwingt. Drinnen aber dirigiert und regiert Nathalie Stutzmann und lässt das Tonhalle-Orchester mit der Ouvertüre zum «Tannhäuser» von Richard Wagner nach dem verhaltenen Beginn der Blechbläser wie einen Sturm durch den Saal brausen. Danach interpretiert Diana Damrau mit ihrer variationsreichen, die Höhen und Tiefen ausfüllenden Stimme Werke von Reinhold Glière und Henri Duparc. Und nach der Pause dann Tschaikowsky.
Kurz vor zehn stehen wir wieder draussen. Der Schnee hat die Welt nun definitiv im Griff. Autos schleichen über den General-Guisan-Quai, Trams fahren noch, wenn auch auf unüblichen Routen, und wir Optimisten hoffen, am Bellevue den nächsten Bus nach Küsnacht zu erreichen. An der Haltestelle herrscht Hektik. Neuankömmlinge gesellen sich, erfreut darüber, den Bus nicht verpasst zu haben, zur Gruppe; andere – sie haben offenbar schon länger gewartet – machen sich kopfschüttelnd mit unbekanntem Ziel davon. Der Fahrplan auf meinem Handy spricht von Verspätungen oder einzelnen Ausfällen. Das ist uns zu unsicher, also gehen wir weiter zum Bahnhof Stadelhofen. (Später vernehmen wir, dass der Busbetrieb nach Zollikon und Küsnacht seinen Betrieb schon seit Stunden ganz eingestellt hatte.)
Bahnhof Stadelhofen: Leute kommen und gehen, manchmal fährt ein Zug ein, auf den sich die Leute stürzen. Warten verbindet! Plötzlich ist die Nachbarin als Auskunftsperson oder gar als beruhigende Trösterin wichtiger als das Handy. Oh Wunder, man hört Leute miteinander reden. Gemäss Anzeige habe die S16 nach Meilen neun Minuten Verspätung. Die S7, welche bis Meilen durchfährt und normalerweise vor der S16 verkehrt, rangiert weiter unten auf der Liste der Züge. Tatsächlich, ein Rumpeln tönt aus dem Tunnel, ein Zug fährt ein, aber es ist die S7. Die Anzeige auf dem Perron zeigt noch immer die S16 an.
Was tun? Einsteigen um vielleicht in Meilen zu stranden? Oder hoffen, die SBB hätte einfach die Zugsfolge wieder in die richtige Ordnung gebracht und die S16 komme hinterher? – Wir warten und stellen konsterniert fest, dass nach Abfahrt des Zuges sowohl die S16 als auch die S7 vom Anzeigetableau verschwinden. Nächste Züge ans rechte Zürichseeufer werden erst in mehr als einer halben Stunde versprochen. Dafür taucht unerwartet eine S6 auf. Sie fährt zwar abends nur bis Tiefenbrunnen, aber das bringt uns immerhin unserem Ziel etwas näher. Und vielleicht steht dort ja auch der braune Bus nach Zollikon und Küsnacht.
Ankunft in Tiefenbrunnen auf Gleis 2. Welch schöne Überraschung: Auf dem Nachbargleis steht eine S16, welche gemäss Anschrift an Zug und Perron in Bälde Richtung Meilen fahren wird. Eine erleichterte Menschenmenge wechselt von der S6 in die S16. Es ist hell und warm im Zug. Freude herrscht beim Warten. Nach etwa zwanzig Minuten fährt auf Gleis 1 eine S7 Richtung Rapperswil vorbei. Nun wird unsere S16 folgen, hofft, wer das System SBB zu kennen glaubt. Doch nichts passiert. Dann, fast unbemerkt, weil vom Nachbarzug verdeckt, folgt auf Gleis 1 ein weiterer Zug, hält kurz und macht sich dann, noch bevor man auf Gleis 3 hätte handeln können, fröhlich Richtung Zollikon davon. Hämisch leuchtet hinten am Zug die Zahl 16 in die Winternacht.
Unruhe befällt die Menschengruppe. Die Hoffnung auf eine Weiterfahrt, welche die Gruppe bisher zusammengehalten hat, verflüchtigt sich zusehends. Jetzt sind individuelle Lösungen gefragt. Langsam beginnt sich der Zug zu entleeren. Kurz entschlossen mache ich mich auf den Weg zum Führerstand des Triebzuges. Unterwegs treffe ich auf einen Mann mit einem Rucksack, wie ihn die Lokomotivführer tragen. Ob er einer sei, frage ich ihn, doch dieser duckt sich und verschwindet im nächsten Wagen. Ist das Fahrerflucht?
Am Zugsende angekommen klopfe ich energisch an die Tür. Keine Antwort. Als ich schliesslich von draussen einen Blick ins Cockpit werfe, überfällt mich Ernüchterung: Hier ist niemand! Ich eile zum Führerstand am andern Ende des Zuges; auch dieser ist leer. Plötzlich die Erkenntnis: Wir haben zusammen mit andern während fast einer Stunde in einem vergessenen Geisterzug gesessen! Hat nicht Friedrich Dürrenmatt einmal eine Geschichte über einen Zug geschrieben, welcher ohne Führer durch einen Tunnel rast? Überhaupt: Nicht nur der Zug, auch der ganze Bahnhof Tiefenbrunnen scheint von der SBB vollkommen aufgegeben worden zu sein. Keine Menschenseele, die man hätte fragen können.
Unterdessen ist auf dem Nebengleis die nächste S6 eingefahren. Wiederum stürzen sich die Passagiere freudig auf den Nachbarzug. Wie hätte wohl Dürrenmatt die Geschichte weitergesponnen? Ein verlassener Zug als Köder für gestrandete Passagiere, dessen Türen sich, sobald de Zug voll ist, schliessen, worauf er in unbekannte Richtung davonfährt?
Noch bevor ich die Geschichte zu Ende denken kann, taucht der vermeintliche Lokomotivführer mit dem Rucksack wieder auf. Ich habe ihn zu Unrecht der Fahnenflucht verdächtigt. In brüchigem Englisch fragt er mich, wie er nach Oerlikon komme. Dann treffe ich auf dem Perron eine Frau an. Ob sie etwas suche, frage ich. Nein, jetzt wisse sie Bescheid, sagt sie selbstbewusst, zeigt auf die Anzeigetafel und schickt sich an, den Geisterzug zu besteigen. Ich würde sie um ihre Sicherheit beneiden, erwidre ich, und kläre sie über die Situation auf.
Andere gesellen sich dazu. Sie sollten hier warten, schlage ich vor, ich würde unterdessen auf Erkundigung gehen, und zuerst den Lokomotivführer der eingefahrenen S6 befragen. Dieser zuckte mit den Schultern. Er habe keine Ahnung, wüsste nur, dass er gleich Richtung Baden fahren müsse, und entschuldigte sich in aller Form für die SBB. Dann versuche ich es nochmals bei der Haltestelle des braunen Busses jenseits der Seestrasse. Dort döst ein Mann vor sich hin. Nein, ein Bus sei seit langem nicht vorbeigekommen, er warte auf «sein» Taxi und deutet resigniert auf die andere Strassenseite, wo zwanzig oder mehr Leute einen leeren Taxistand belagern.
Als ich mich zurück zum Gleis 3 mache, höre ich zufällig aus einem knisternden Lautsprecher, der vor allem den Zürichsee und weniger die Perrons beschallt, eine undeutliche Stimme etwas von einer S7 sagen, welche bald einmal auf Gleis 1 einfahren und ausserplanmässig auf der Fahrt nach Rapperswil auch Zollikon und Küsnacht bedienen werde. Ich haste zurück und informiere die Wartenden. Und dann kommt sie tatsächlich, die S7! Nach zwei Stunden sind wir endlich in Küsnacht. Zu Fuss wären wir schneller gewesen, aber dazu hatten wir nicht das richtige Schuhwerk.
Die Menschen haben noch nicht verlernt, ihr Handy wegzustecken und mit anderen Menschen zu reden. Es braucht nur ein bisschen Schnee, um vergessen geglaubte Tugenden ans nächtliche Licht zu fördern.