Der Krieg im Nahen Osten geht weiter und weiter, ebenso die Berichterstattung mit ihren Schreckensbildern. Mancher Zeitgenosse, der das Geschehen als Zuschauer verfolgt, fragt sich, wie er die israelische Kriegsführung beurteilen soll. Zweifel an deren Rechtmässsigkeit sind angebracht.
Es ist ja wahr, dass Israel um sein Überleben kämpft. Man muss die Geschichten der unsäglichen Pogrome, die ihren Gipfel im Holocaust fanden, wieder und wieder erzählen, um einzusehen, dass die Juden ein in besonderem Masse bedrohtes Volk sind. Und das Massaker vom 7. Oktober vor einem Jahr war ein neues Trauma in der langen Geschichte der Traumata.
Stets die gleiche Botschaft
Und es stimmt, dass Israel in einer Umwelt lebt, die sich zu grossen Teilen seine Vernichtung zum Ziel gesetzt hat. Wenn Israel kämpft, handelt es sich um einen Überlebenskampf. Das ist die eine Wahrheit, die nur leugnen kann, wem das Schicksal des jüdischen Volkes in Geschichte und Gegenwart nicht allzu nahe geht.
Aber es gibt eine zweite Wahrheit, der kein Beobachter des Zeitgeschehens ausweichen kann. Sie besteht darin, dass sich Israel im Kampf um seine Existenz auf die schier unbegrenzte amerikanische Militärmacht stützen kann. Dazu kommen andere westliche Länder, die ebenfalls Waffen in grosser Zahl und mit hoher Schlagkraft liefern. Diese militärische Überlegenheit setzt Israel ein, um Zerstörungen anzurichten, die die Existenzen von Hunderttausenden wenn nicht vernichten, so doch zum qualvollen Überlebenskampf verdammen. Das weckt Zweifel.
Zu den in den Medien kursierenden Schreckensbildern mutet Israel aller Welt die stets gleiche Botschaft zu: Das ist der Preis für unser Überleben, der dadurch gerechtfertigt ist, dass die Gegenseite – Hamas, Hisbollah – sich hinter der Zivilbevölkerung versteckt, sie also als «menschliche Schutzschilde» verwendet. Wenn das so ist, und zum Teil ist das ganz sicher so, stellt sich trotzdem die Frage, ob das Durchschauen dieser Taktik es rechtfertigt, alle Normen des Kriegsvölkerrechts, die sich auf den Schutz unbeteiligter Zivilisten beziehen, zu verletzen.
Am Rande der Verzweiflung
Diese Frage beschäftigt die zuständigen internationalen Juristen, und ihre Antworten beziehungsweise Urteile sind zum Teil eindeutig, auch wenn sich an ihnen Kontroversen entzünden. Aber für diejenigen, die das unfassbare Geschehen im Nahen Osten als Zeitgenossen und Zuschauer erleben müssen, geht es um moralische Fragen, die sie an den Rand der Verzweiflung bringen. Denn sie können die Bilder der Zerstörungen, die mit Hilfe der hoch überlegenen westlichen Militärtechnik und der zu allem entschlossenen israelischen Armee, die ihrem Namen nach allein der Verteidigung dient – Israel Defence Forces – nicht mehr ertragen.
Sind diese Gefühle und die moralischen Fragen in dem Sinne irrelevant, als sie den höheren Sinn des Geschehens – Israels Recht auf Selbstverteidigung nach dem Holocaust und im Zeichen der virulenten Bedrohungen – nicht genügend berücksichtigen?
Die zahllosen Bilder der Zerstörungen schildern das Leid der Betroffenen. Wer würde sich zutrauen, ihnen zu erklären, dass sie nun – leider, leider – Opfer der Tatsache wurden, dass die Juden in Geschichte und Gegenwart verfolgt wurden und immer noch verfolgt werden und nun endlich einmal aufräumen müssen? Man kann die Frage auch anders stellen: Ist das Leid der Palästinenser und Libanesen so viel weniger wert als der Anspruch der Juden, in Frieden und Freiheit auf dem von ihnen beanspruchten Territorium zu leben?
Diese Gedanken und Fragen sind schwierig. Aber sie lassen sich nicht unterdrücken, wenn man als Zuschauer des Grauens seiner Intuition folgt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.