Direkte Demokratie, Föderalismus und die Konkordanz- und Konsensregierung galten einst als Vorzeigequalitäten helvetischer Politik. Fast scheint es, einzelne Bundesräte und Palramentarier hätten das vergessen. Im Kampf um Macht sind zunehmend alle Mittel recht.
Der Politikwissenschaftler Adrian Vatter hat 2014 sein Standardwerk «Das politische System der Schweiz» publiziert. Schon damals fragte er, «ob das politische System der Schweiz nach wie vor dem gängigen Bild einer stark auf Machtteilung und Einvernehmen ausgerichteten Konkordanz- und Konsensdemokratie (…) entspricht oder ob es aufgrund der neuesten Dynamik verstärkte Züge einer polarisierten Wettbewerbsdemokratie angenommen hat.» Zehn Jahre später kann man bestätigen: Konkordanz- und Konsenspolitik waren einmal. Inzwischen prägen in Bern ausgesprochen polarisierende, linke und rechte politische Aussenrandfiguren den Alltag. Ob sie «die neueste Dynamik» repräsentieren?
Diesen Politikerinnen und Politikern geht es nicht um die Lösung von Problemen. Vordergründig pflegen sie zwar die föderalistische Tradition der politischen Diskussion, doch in Tat und Wahrheit geht es ihnen um Macht, Machterhalt und Machterlangung. Die direkte Folge dieser Entwicklung ist in der Bevölkerung eine zunehmende Kritik an den etablierten politischen Parteien. Sie bewirkt, dass sich Politikverdrossenheit breitmacht und dass Abstimmungen als Gelegenheiten zum Protest aufgefasst werden. Als Folge davon kommen oft fragwürdige Volksentscheide heraus.
Polarisierte Schweiz
«Der politische Diskurs ist zunehmend gehässig und unversöhnlich», sagen Silja Häusermann und Simon Bornschier vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Dies gilt für viele Demokratien, die immer mehr auseinanderdriften – vorab in den Bereichen Minderheitsrechte, Gleichstellung und Migration.
Dies gilt meines Erachtens auch für die Schweiz. Hier kommen zur Liste der polarisierenden Themen die Altersvorsorge, das Gesundheitswesen und das Militär hinzu. Natürlich spielt es eine wichtige Rolle, dass der Wandel vom industriellen zum postindustriellen Zeitalter die Gesellschaft stark verändert hat. Was in der Schweiz aber zu denken gibt, ist die Tatsache, dass heute der rechte Pol der SVP-Stimmen mit 30 Prozent und der linke Gegenpol (inklusive Gewerkschaften) fast gleichstark sind. So landet über die Hälfte der Bevölkerung bei den Polen, was in der direkten Demokratie der Schweiz besonders starke Folgen hat.
Diese Kombination von politisch linken und rechten Ideologien ist gefährlich. Wir sollten das rechtzeitig realisieren und dagegenhalten.
Die beiden Professoren sind allerdings der Meinung, dass diese Entwicklungen unser Land noch nicht gefährden, da es im National- und Ständerat letztlich immer um Kompromisse geht. Gefährdet sehen sie hingegen die Handlungsfähigkeit der Politik. Letzteres stimmt natürlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie wir im Bundeshaus über Jahre an den gleichen Reformprojekten herumdiskutieren, ohne die nötigen Reformschritte einzuleiten.
Wer entscheidet hinter den Kulissen?
Die optimistische Bewertung von Häusermann und Bornschier bezüglich der Kompromissfähigkeit des Schweizer Politsystems vermag mich nicht zu überzeugen. Kompromisse werden zwar aufgrund der situativen Mehrheitsverhältnisse erzielt, doch das sagt noch nichts darüber aus, wie sie entstanden sind. Wer bildet die Meinungen im Rat und welche Kräfte haben mit grossem medialem Aufwand die Meinungen beeinflusst? Wer hat an Fernsehdebatten beeindruckt – auch mit Falschaussagen und Unwahrheiten?
Zur Erinnerung: Bei der 13. AHV-Rente versicherte man bei den Befürwortern: «Die Finanzierung der 13. Rente ist gesichert und kein Problem.» Monate später ringt das Parlament noch immer um eine Finanzierungslösung, bisher ohne Erfolg. Die in diesem Problemfall aufscheinende Tendenz schadet meines Erachtens unserem Land.
Verursacht werden solch blockierte Situationen von Politikerinnen und Politikern, die ihre Standpunkte auch mit geradezu abstrusen Unwahrheiten vertreten. Trotzdem vermögen sie mit Eloquenz und gutem Gespür viele Menschen zu überzeugen. Grossen Anteil am Problem haben ausserdem die Lobbyisten, die selbst im Parlament sitzen oder dort Zugang haben und – ausgestattet mit wirkungsmächtigen Mitteln – beim Zustandekommen von Beschlüssen oft eine entscheidende Rolle spielen.
Meistens werden Parteien, Gewerkschaften und Verbände als Hauptplayer betrachtet. Doch es gibt eine diskrete Gruppe von Personen, die mit grosser Unverfrorenheit die politische Themenwahl beeinflussen. Gemeint ist nicht nur der Milliardär Christoph Blocher (respektive seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher), sondern neuerdings auch die Gruppe «Kompass». Diese Gantner-Truppe, alles Milliardäre, steht mit unbegrenzten finanziellen Mitteln bereit, um den aus ihrer Sicht unwissenden, falsch geleiteten Menschen, insbesondere Bundespolitikerinnen und -politikern, dabei behilflich zu sein, die «richtigen» Entscheide zu treffen. Natürlich sprechen sie nicht über die wahren Ziele ihres angeblich selbstlosen Handelns.
Der freundliche Machtmensch
Im Oktober 2024 orientierte Bundesrat Albert Rösti das Schweizervolk über seine Ansichten im Zusammenhang mit der Abstimmung zum Autobahnausbau. Er setzte sich ohne zu zögern über die Meinung seiner eigenen Beamten in den betroffenen Bundesämtern hinweg. Zudem ignorierte er wissenschaftliche Untersuchungen aus Kalifornien und Deutschland, die längst nachgewiesen haben, dass der Ausbau von Strassen in der Folge automatisch zu Mehrverkehr führt, da viele Autofahrer, die früher andere Routen bevorzugten, jetzt neu die ausgebaute Strecke benutzen. Auch Röstis Argumentation, dass mit den geplanten Millionen Staus verhindert würden, ist in dieser Pauschalität falsch – nicht bei allen der zur Entscheidung stehenden Projekten ist dies der Fall.
Schon vor dieser fragwürdigen Rede an das Volk sprach man vom Machtmenschen Albert Rösti. So schrieb etwa das Magazin des Tages-Anzeigers in Zusammenhang mit dem Atomentscheid: «Wie schnell Energieminister Albert Rösti die Atom-Ziele des früheren Nationalrats Albert Rösti umgesetzt hat, das ist von einer Unverfrorenheit, die man noch selten gesehen hat.»
Der begabte Redner und viele Menschen überzeugende, bescheidene Albert Rösti unterscheidet sich von seinen Vorgängern Christoph Blocher und Ueli Maurer dadurch, dass er freundlich auftritt. Und so kommt es, dass der Bundesrat neuerdings bei den Kernthemen der SVP immer öfter in deren Sinn entscheidet (EU, SRG, Landwirtschaft, AKW).
Woran es in unserem Land seit Jahren fehlt, sind weder Machtmenschen noch Ideologen: Was wir brauchen, sind kompromissorientierte, konsensfähige, entscheidungsfreudige politische Kräfte in Parlament und Bundesrat.